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Biologie statt Philosophie? Evolutionäre Kulturerklärungen und ihre Grenzen

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Book cover Der Mensch - Evolution, Natur und Kultur

Zusammenfassung

Vor über siebzig Jahren fand man in einer Höhle nahe Hohlenstein-Stadel, im heutigen Baden-Württemberg, eine Frau, die keiner bekannten Spezies und nicht einmal eindeutig den Hominiden zugeordnet werden konnte. Wegen ihres Aussehens wurde sie schon bald als „Löwenfrau“ bekannt (unterdessen wird sie als „Löwenmensch“ bezeichnet, da die in solchen Fragen Klarheit schaffenden Geschlechtsteile bei der Figur fehlen und in Zeiten von gender mainstreaming derartige Festlegungen gerne vermieden werden), denn sie hatte eine menschlich-aufrechte, unbehaarte Gestalt mit weiblichen Rundungen, aber zugleich eine Mähne, sowie Augen, Ohren und Schnauze eines Löwen. Eine sehr weitläufige Verwandte des Minotaurus, so schien es, und doch wesentlich älter als alle Bewohner des Olymps, denn vermutlich wurde die knapp 30 cm große Skulptur bereits in der Altsteinzeit vor etwa 32.000 Jahren aus Mammut-Elfenbein geschnitzt. Wir wissen nicht, ob sie kultischen Zwecken diente oder ein Kind mit ihr spielte, ob sie als Glücksbringer für die Jagd oder als Schamanin mit Löwenmaske verehrt und gefürchtet wurde. Aber die Löwenfrau legt nahe, dass der Mensch schon im Morgendämmern seiner Kultur über die eigene Nähe, aber auch Distanz zum Tier nachgedacht haben muss. Die Frage nach der menschlichen Selbstverortung begegnet uns in dieser Figur, und sie bestimmt viele Zeugnisse menschlichen Nachdenkens, welche uns die Altertumswissenschaften vorlegen. Mit dem Begriff „animal rationale“, wie er unter Bezug auf Aristoteles geprägt wurde, findet sie schließlich ihre klassische, für das Abendland lange Zeit maßgebliche Antwort: Der Mensch als Tier, dessen spezifisches Merkmal die Vernunftbegabtheit ist, die ihn zugleich von allen anderen Tieren abgrenzt und über sie stellt. Aber wo genau verläuft die Grenze? Und wie kann der Mensch beides zugleich sein? Die aristotelische Definition beantwortet diese Fragen nach der Doppelnatur nicht, sondern erhebt das offene Rätsel gleichsam zur Wesensbestimmung des Menschen.

Der Aufsatz erschien zuvor bei V. Gerhardt und J. Nida-Rümelin (Hrsg.) (2010) Evolution in Natur und Kultur, de Gruyter, Berlin/New York, S 15–38. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages de Gruyter.

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Notes

  1. 1.

    (unterdessen wird sie als „Löwenmensch“ bezeichnet, da die in solchen Fragen Klarheit schaffenden Geschlechtsteile bei der Figur fehlen und in Zeiten von gender mainstreaming derartige Festlegungen gerne vermieden werden)

  2. 2.

    Genes prescribe epigenetic rules, which are the regularities of sensory perception and mental development that animate and channel the acquisition of culture. (Wilson 1998, S. 171)

  3. 3.

    So argumentieren etwa Boyd und Richerson (1988) und Gould (1996, S. 217–230). Es muss betont werden, dass eine Entwicklung durch natürliche Selektion bestimmt werden kann, unabhängig davon, was der Vererbungsmechanismus ist; deswegen ist Darwins Theorie mit dem Lamarckismus durchaus verträglich (und Darwin selbst war Lamarckist hinsichtlich der Vererbung).

  4. 4.

    Insofern kann dieser Aspekt der Lorenz’schen Theorie auch gegen die Einwände der Soziobiologie verteidigt werden – jedenfalls solange nicht genetisch angelegte Verhaltensweisen auftreten, die innerhalb der Gruppe vorteilhafter sind als ein traditionsgemäßes Verhalten.

  5. 5.

    (Dazu kam, dass die nicht nachhaltige Holzwirtschaft die Phönizier der Grundlage ihres Wohlstandes als Handelsnation beraubte: Der Bestand an Libanon-Zedern ging dramatisch zurück.)

  6. 6.

    Ein in der Gegenwart viel diskutiertes Beispiel für eine solche autonome Evolution der Kultur ist auch die von Dawkins angeregte „Memetik“, die alle kulturellen Phänomene (z. B. Ideen, Melodien, Töpfern, Alphabet, Institutionen, Wahnvorstellungen) als „Meme“ betrachtet, worunter kulturelle Einheiten verstanden werden, die sich im Selektionsraum der Kultur analog zu Genen im biotischen Raum verhalten sollen. Nach der Memetik setzt sich ein Mem selektiv deswegen durch, weil es von verstehenden Menschen aufgegriffen und nachgemacht wird und sich gut in die Memelandschaft einpasst (Blackmore 1999). Für eine ausführlichere Darstellung von Hayeks Evolutionismus siehe Illies (2009, S. 197–231).

  7. 7.

    All das steht in Nähe zu Gehlens und Burkerts Ansicht, dass Institutionen für die Orientierung notwendig seien.

  8. 8.

    (ich folge hier teilweise Georg Toepfer, der die hier skizzierte Entwicklungsabfolge unter dem Titel „Die Universalität der Selektion und die Sonderstellung des Menschen“ beim Treffen der Arbeitsgruppe Anthropologie der FEST-Heidelberg am 06. März 2009 vortrug).

  9. 9.

    Siehe auch die umfangreiche Darstellung kritischer Einwände bei Kleeberg und Walter 2001, S. 21–72. Ganz allgemein argumentiert Simon Conway Morris (2003), dass neben die natürliche Selektion bereits im Bereich des Biologischen weitere Erklärungsprinzipien hinzutreten müssten.

  10. 10.

    Dagegen argumentiert aber schon Konrad Lorenz 1983.

  11. 11.

    Eine genetische Erklärung wäre erst dann abgesichert, wenn wir tatsächlich zeigen könnten, wie konkrete Gene etwas codieren, das neuronal bestimmte Wirkungen hat. Auch die Aussagekraft evolutionärer Erklärungen wird in Frage gestellt. Man wendet ein, dass viele evolutionäre „Erklärungen“ gar keine seien, sondern lediglich Reformulierungen von Phänomenen oder eines Explanandums in anderer (eben evolutionärer) Begrifflichkeit. In diesem Sinne kritisiert Ruse die Soziobiologie, also vor allem Typ-C-Erklärungen (1988, S. 66 f.).

  12. 12.

    Diese These ist allerdings selbst nicht empirisch begründbar, wie schon Kant deutlich gemacht hat, weil es wissenschaftliche Begründungen nur für gesetzmäßige Zusammenhänge geben kann. Wie sollte ein abschließender Beweis für Freiheit aussehen, also für etwas, das unverursacht außerhalb aller solcher Zusammenhänge fallen soll?

  13. 13.

    Dies bemerkt Blackmore, die zentrale Vertreterin der Memetik, selbst (1999, S. 176): Sie argumentiert deswegen, dass sich die Leistungsfähigkeit der Memetik vor allem bei der Verbreitung bizarrer, falscher oder gefährlicher Ideen beweise. Als Beispiel dient ihr etwa das Meme der Idee, von Außerirdischen entführt worden zu sein. Allerdings könnte man hier auch die Parallele zur Erklärungsleistung des „survival of the fittest“ anführen; dieses ist ja eine Art Metaerklärung, die erst dadurch substanziell wird, indem man die konkreten Eigenschaften angibt, welche es einer Population erlaubt haben, sich erfolgreich durchzusetzen.

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Illies, C. (2011). Biologie statt Philosophie? Evolutionäre Kulturerklärungen und ihre Grenzen. In: Oehler, J. (eds) Der Mensch - Evolution, Natur und Kultur. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-10350-6_13

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