Auszug
Die Untersuchung einzelner Konfliktfälle zeigt, dass Jurisdiktionskonflikte grundsätzlich in jeder Rechtsordnung auftreten können. Auch die innerstaatlichen Rechtsordnungen können solche Konflikte nicht a priori ausschließen — sie treffen aber zahlreiche Vorkehrungen zu ihrer Vermeidung, die in Deutschland zum Teil schon aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderlich sind. Das weist darauf hin, dass es sich bei Jurisdiktionskonflikten um ein rechtlich gestaltbares Phänomen handelt: Grenzt das positive Recht Rechtsprechungskompetenzen trennscharf voneinander ab, besteht in manchen Bereichen eine Bindung an Entscheidungen anderer Gerichte oder sind gar Instanzen vorhanden, die anzurufen sind, sobald ein Konfliktfall auftritt, können Jurisdiktionskonflikte kaum mehr entstehen geschweige denn eskalieren. Die Verzahnung nationaler, internationaler und supranationaler Rechtsebenen enthält nicht nur erhebliches Potenzial für Rechtskonflikte; meistens fehlt es auch an klaren rechtlichen Vorgaben, wie diese Probleme zu bewältigen sind. Da dies im Streitfall letztverbindlich von Gerichten zu entscheiden ist, führen Rechtskonflikte beim Zusammentreffen mehrerer rechtlicher Ebenen zu Konflikten zwischen den Gerichten der unterschiedlichen Ebenen. Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen sind damit typische Folgeerscheinungen der überstaatlichen Rechtsverflechtung.
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Literatur
Darin zeigt sich auch der grundsätzliche Widerstreit zwischen regionaler und universeller Integration im überstaatlichen Bereich (s. zu der entsprechenden Diskussion etwa Robert Z. Lawrence, Regionalism, Multilateralism and Deeper Integration, 1996; Christoph Schreuer, Regionalism v. Universalism, EJIL 6 (1995), S. 477 ff.; bezogen auf das WTO-Recht Jörg Dunker, Regionale Integration im System des liberalisierten Welthandels, 2002, S. 255 ff.).
Vgl. hierzu stellvertretend Thorsten Kingreen, in: Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl., 2002, Art. 6 EUV Rn. 69 ff., 74; Dirk Ehlers, Allgemeine Lehren, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 2005, § 14 Rn. 48 ff.; und Peter Szczekalla, Grundrechtliche Schutzbereiche und Schrankensystematik, in: Sebastian M. Heselhaus/Carsten Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 17 Rn. 48, 119.
Vgl. hierzu das Sondervotum der Richterin Lübbe-Wolff zum Urteil des BVerfG zum Europäischen Haftbefehl in BVerfGE 113, 273 (336 f.): „Nach den im Maastricht-Urteil entwickelten Maßstäben (BVerfGE 89, 155 (181 ff.)) liegt ein verfassungswidriges Demokratiedefizit nicht vor. Art. 79 Abs. 3 GG als verfassungsrechtliche Grenze der europäischen Integration ist in diesem Urteil zu Recht mit Vorsicht gehandhabt worden, denn Sinn dieser Bestimmung ist es, einen Rückfall unseres Landes in Diktatur und Barbarei auszuschließen, und nichts dient diesem Ziel mit höherer Wahrscheinlichkeit als Deutschlands Integration in die Europäische Union. Nicht zuletzt deshalb ist auf diesem Gebiet auch die Verlässlichkeit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von besonderer Bedeutung.“
Die Bedeutung des geschriebenen Rechts (statutory law) nimmt aber stark zu (s. exemplarisch William Burnham, Introduction to the Law and Legal System of the United States, 2. Aufl., 1999, S. 46 ff.).
Jedes Gericht muss sich deshalb bei der Entscheidung von Streitfällen die Frage stellen, ob ein einschlägiges Präjudiz vorhanden ist, welche allgemeingültige Aussage es trifft und ob eine Bindung an dieses Präjudiz gegeben ist. Die ratio decidendi bestimmt darüber, ob ein Präjudiz für die konkrete Fallentscheidung als Rechtssatz überhaupt einschlägig ist. Dies kann dann zu verneinen sein, wenn rechtserhebliche Unterschiede zwischen den beiden Fällen gegeben sind, sei es in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht; das ist im Wege des distinguishing festzustellen, das zur Nichtanwendung eines Präjudizes führen kann (dazu etwa Wolfgang Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. II, 1975, S. 95 ff.; Rupert Cross/Jim W. Harris, Precedent in English Law, 4. Aufl., 1991, S. 186 ff.).
Cross/Harris (Fn. 13), S. 39.
S. für die deutsche Rechtsordnung zur Diskussion etwa Jörn Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975; Walter Leisner, Richterrecht in Verfassungsschranken, DVBl. 1986, S. 705 ff.; Alfred Söllner, Der Richter als Ersatzgesetzgeber, ZG 1995, S. 1 ff.
S. aber Michael Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, der eine verfassungsrechtliche Theorie der rechtsgestaltenden Rechtsprechung entwickelt und daraus folgert, „unter dem Bonner Grundgesetz besteht eine rechtliche Pflicht der Gerichte zur Befolgung einschlägiger Präjudizien“ (S. 517).
Internationale Gerichte ziehen zur Unterstützung eines Entscheidungsergebnisses zwar nicht selten die Rechtsprechung anderer internationaler Gerichte heran (instruktive empirische Analyse bei Nathan Miller, An International Jurisprudence? The Operation of Precedent Across International Tribunals, Leiden J.I.L. 15 (2002), S. 483 ff.), aber auf der völkerrechtlichen Ebene gibt es keine rechtlichen Regeln, aus denen allgemeine Bindungswirkungen abgeleitet werden könnten. Verallgemeinerbaren Regeln steht die Fragmentierung der Völkerrechtsordnung entgegen; so wurde bereits festgestellt, dass ein Störungsverbot zwischen internationalen Organisationen, das zudem nur als Völkergewohnheitsrecht in statu nascendi angesehen wird, bereits das Maximum dessen darstellt, was an rechtlichen Regeln für das Verhältnis zwischen mehreren internationalen Gerichten auffindbar ist (dazu ausführlich oben Kap. 3, A. III. 3.). Dass nicht einmal der Ansatz einer stare decisis-Doktrin sichtbar ist, zeigt schon die klare Regelung in Art. 59 des IGH-Statuts, wonach die Entscheidungen des IGH nur die Streitparteien und nur innerhalb des Streitgegenstands völkerrechtlich binden. S. jetzt aber für eine „weiche“ Bindung an Urteile des IGH auf der Basis der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes BVerfG, Beschluss der Ersten Kammer des Zweiten Senats v. 19.9.2006, 2 BvR 2115/01 u.a., Ziff. 54 ff., abrufbar unter http://www.bverfg.de.
S. nur EuGH, Urt. v. 24.6.1969, Rs. 29/68, Slg. 1969, S. 165 (Ziff. 3) [Milchkontor].
Vgl. EuGH, Urt. v. 13.5.1981, Rs. 66/80, Slg. 1981, S. 1191 (Ziff. 13) [International Chemical]. Im Ergebnis kommt auch normbestätigenden Entscheidungen des EuGH eine Bindungswirkung erga omnes zu: Denn mitgliedstaatliche Gerichte können diesem Ergebnis entweder folgen oder müssen angesichts des Verwerfungsmonopols des Gerichtshofs (EuGH, Urt. v. 22.10.1987, Rs. 314/85, Slg. 1987, S. 4199 (Ziff. 15 ff.) [Foto-Frost]) diesem den fraglichen Rechtsakt erneut zur Rechtmäßigkeitskontrolle vorlegen und sind dann an das Ergebnis des EuGH für das Ausgangsverfahren gebunden.
Das deckt sich mit der Position von Olga Arnst, Instrumente der Rechtsprechungskoordination als judikative Netzwerke?, in: Sigrid Boysen u.a. (Hrsg.), Netzwerke, 2007, im Erscheinen, die aber offenbar davon ausgeht, dass die von ihr vermisste „theoretische Fundierung und differenzierte Konkretisierung“ nicht möglich ist und Kooperationsmodelle daher nur ein „deskriptivanalytisches Angebot“ darstellen. Ob das von ihr favorisierte und skizzierte Konzept judikativer Netzwerke, das allerdings auch nicht primär der Lösung einzelner Konfliktlagen dienen soll, diese Anforderungen erfüllt, kann man freilich bezweifeln.
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(2008). Erkenntnisse der Konfliktfallanalyse für die Lösung von Jurisdiktionskonflikten. In: Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, vol 195. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-77228-6_8
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