Zusammenfassung
Nach langen, schwierigen Auseinandersetzungen hatten die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und von drei Beitrittskandidaten am 29. Oktober 2004 den Vertrag über eine Verfassung für Europa unterzeichnet. Damit sollte er die bisherigen Verträge der Europäischen Gemeinschaften und der Europäischen Union ablösen und eine vertieftere Integration der europäischen Staaten herbeiführen. In Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden am 29. Mai und 1. Juni 2005 wurde der Verfassungsvertrag aber abgelehnt, obwohl er bereits in vielen EU-Staaten ratifiziert worden war und am 1. November 2006 in Kraft treten sollte.
Es bedurfte eines weiteren, längeren Verhandlungsprozesses, ehe einige Kernelemente des Verfassungsvertrages im Lissabonner Vertrag vom 13. Dezember 2007 gesichert werden konnten. Dieser trat nach der Ratifizierung in allen mittlerweile 27 Mitgliedsländern der EU am 1. Dezember 2009 in Kraft. Auch danach bleibt die EU auf unübersehbare Zeit ein Staatenverbund, d. h. ein Staatenbund mit einigen föderativen Elementen, die durch den Lissabonner Vertrag gestärkt werden. Nach wie vor bleiben die Nationalstaaten souverän und behalten somit das Recht, aus der EU auszutreten und gemeinsam nur so viele souveräne Kompetenzen an die EU-Organe abzutreten, wie sie wollen. Bereits seit dem 1. November 2004 war die EU gemäß dem Vertrag von Nizza in einigen Politikfeldern zu Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat übergegangen, da in der seit dem 1. Mai 2004 erheblich erweiterten Union einstimmige Entscheidungen immer schwieriger geworden sind.
Trotz der erstaunlichen Erfolgsgeschichte der europäischen Integration im vergangenen halben Jahrhundert kann nicht mit einer Eigendynamik der weiteren Integrationsfortschritte gerechnet werden. Je stärker politische Kompetenzen auf Brüssel übertragen werden, desto wahrscheinlicher ist es, daß schwerere wirtschaftliche und soziale Krisen das Erstarken von Nationalismen hervorru-fen, die die EU für die Folgen der Krise verantwortlich machen und eine Rückkehr zur Einzelstaatlichkeit fordern werden. Gleichzeitig könnte aber eine Krise das Verlangen nach strafferer bundesstaatlicher Lenkung stärken und somit das europäische politische System polarisieren. Es darf nicht übersehen werden, daß schon politisch und sozial viel mehr integrierte Staatengebilde als die EU nach Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten auseinandergefallen sind. Eine Fortsetzung der Erfolgsgeschichte der europäischen Integration verlangt eine erhebliche wirtschaftliche und soziale Angleichung der Nationen und gleichzeitig eine Sicherung der national-kulturellen Eigenständigkeit der Völker und Staaten Europas.
Vorlesung vom 6. Juni 2011 in Frankfurt und vom 10. Januar 2005 in Mannheim.
This is a preview of subscription content, log in via an institution.
Buying options
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Learn about institutional subscriptionsPreview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Rights and permissions
Copyright information
© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Jahn, E. (2012). Der Verfassungsvertrag und der Lissabonner Vertrag: die Europäische Union auf dem Weg zum Bundesstaat?. In: Politische Streitfragen. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-94312-1_5
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-94312-1_5
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-18617-7
Online ISBN: 978-3-531-94312-1
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)