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Frühkindliche Bildung in historischer Perspektive

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Zusammenfassung

In den pädagogischen Traditionen des alten China, Indiens und Japans, der antiken Kulturen des Mittelmeerraums (Ägypten, Israel, Griechenland, Rom) und selbst noch im europäischen Mittelalter und der frühen Neuzeit ist so etwas wie ‚frühkindliche Bildung‘ dem Begriff und der Sache nach unbekannt. ‚Kindheit‘ und ‚Bildung‘ gehören gleichsam zwei strikt voneinander getrennten Sphären an: Der Sphäre des Kindes, die mit Spiel und zwanglosem Tun, und der Sphäre der Bildung, die mit schulischem Lernen und formellem Unterricht konnotiert ist. Ungeachtet einiger Unterschiede im Detail, weisen die aus fast allen Epochen und den meisten Kulturen bekannten Phasenmodelle der Kindheit nicht nur erstaunlich große Übereinstimmungen in den entsprechenden Alterseinteilungen auf (Martin & Nitschke, 1986, S. 12ff.).

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Notes

  1. 1.

    Der vollständige Titel der (2. Nürnberger) Ausgabe lautet: Informatorium Maternum, Der Mutter-Schul. Das ist: Ein richtiger und augenscheinlicher Bericht/wie fromme Eltern/theils selbst/theils durch ihre Ammen/Kinderwärterin/und andere Mitgehülffen/ihr allerwerthestes Kleinod/die Kinder/in den ersten sechs Jahren/ehe sie den Praeceptoren übergeben werden/ recht vernünfftiglich Gott zu ehren/ihnen selbst zu Trost/den Kindern aber zur Seligkeit aufferziehen und üben sollen. Es folgt das Bibelzitat: Marc. 10.14 Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht/den solcher ist das Reich Gottes.

  2. 2.

    In der (lange verschollenen) Pampaedia (um 1650) hat Komenský der Schule der frühen Knabenzeit deshalb noch eine Schule des vorgeburtlichen Werdens vorangestellt.

  3. 3.

    „Eine Fächerorientierung oder Orientierung an Wissenschaftsdisziplinen ist dem Elementarbereich fremd“ (Gemeinsamer Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen, Beschluss der Jugendministerkonferenz vom 13./14.05. 2005/ Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 03./04. 06. 2004). Wie das Beispiel Komenský zeigt, ist die Wissenschaftsorientierung dem Elementarbereich nicht ganz so fremd, wie die beiden deutschen Ministerien das gerne ‚beschließen‘ möchten

  4. 4.

    In Linnés, vier Jahre nach (!) Rousseaus Discours sur l`inégalité (1754) erschienenem Systema Naturae (1758), werden ‚Wolfskinder‘ zwar unter die menschartigen Lebewesen gerechnet, aber neben homo americanus, europaeus, asiaticus, afer, monstrous als eine eigene Klasse (homo ferus) behandelt und dabei als trapus (vierbeinig), mutus (stumm) und hirsutus (behaart) beschrieben.

  5. 5.

    Kein geringerer als Kant hat Rousseau als Newton der Anthropologie und Moral bezeichnet. So wie dieser die Ordnung in der Natur entschlüsselt habe, entdeckte „Rousseau zu allererst unter der Mannigfaltigkeit der menschlichen angenommenen Gestalten die tief verborgene Natur derselben“ (Bemerkungen in den ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘, 1764/65).

  6. 6.

    Umgekehrt ist die nachlassende Lernfähigkeit älterer Menschen nicht auf Aushärtungen (Komenský) ihres Gehirns zurückzuführen, sondern auf deren ‚abnehmenden Tatendrang‘ (Rousseau, 1969, S. 289): Viele ältere Menschen lernen nicht mehr viel, weil sie nicht mehr viel Neues erfahren (wollen).

  7. 7.

    Neben der naiven Verwendung des polaren Schemas Aktivität vs. Passivität, das die reflexive Grundstruktur kindlicher Bildungsprozesse schon im Kern verfehlt, liegt der Hauptfehler aktueller Selbstbildungskonzepte in der Verwechslung von Ursachen und Folgen: die ursprüngliche Motivation des Kindes ist kein irgendwie gearteter ‚Forscherdrang‘ (der Blumenbachs ‚Bildungstrieb‘ (nisus formativus) übrigens verdächtig ähnlich sieht), sondern ein unbestimmtoffener Beschäftigungsdrang und ungerichteter, keinesfalls ‚selbstbestimmter‘ Aufmerksamkeitszwang. Auch die leichte Ablenkbarkeit von Kleinkindern ist die Folge ihrer hochgradigen Affizierbarkeit. Es geht weniger um ein ‚sich-bilden-wollen‘ als vielmehr um ein ‚sich-beschäftigen-müssen‘: Lernen ist lediglich die ‚von Natur aus‘ vorgesehene Folge (vgl. Grell, 2010).

  8. 8.

    Was die praktische Lösbarkeit dieser Aufgabe angeht, war Rousseau selbst zwar eher skeptisch, hat sie aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. „Ich habe nicht behauptet, dass dies in dem jetzigen Zustand der Dinge durchaus möglich ist, ich habe aber behauptet, und behaupte es noch, dass es, um dies zu bewerkstelligen, keine anderen Mittel gibt als die, welche ich vorgeschlagen habe.“ (Brief an Christophe de Beaumont, 1763)

  9. 9.

    „‚Garten‘ (vermutl. aus got. gards, garda ‚Gerten‘), ursprünglich das durch Zäune aus Gerten von der umgebenden Wildnis eingehegte und bestellte Land […] Mehr oder weniger künstlerisch oder aufwendig gestaltet ist der G. immer ein vom Menschen künstlich angelegtes Landstück, das durch die Gestaltung ebenso wie durch die Einfassung von der es umgebenden.natürlichen‘ Landschaft abgegrenzt ist.“ (Uerscheln & Kalusok, 2003, S. 113); Garten hat somit dieselbe Ursprungsbedeutung wie Paradies, das vom persischen bzw. altgriechischen paradeisos ebenfalls auf die ‚Umzäunung‘ als Strukturmerkmal des Gartens abhebt (ebd. S. 194). Fröbels Selbstauslegung seiner Wortfindung als „Garten-Paradies“ (Erning & Gebel, 2001, S. 28) ist also streng genommen eine Tautologie.

  10. 10.

    Als ein autobiographisches „Erkenntnis-Erfassungs-Mittel“ hat Fröbel sein „früheres Leben“ im Hinblick auf sein „späteres“ bezeichnet. (Aus einem Briefe an den Herzog von Meiningen, 1829). Der Ausdruck ist aber auch gut geeignet, um die kategoriale Struktur und Funktion der Spiel-Gaben, und m. E. von Bildungsmitteln überhaupt, zu bezeichnen.

  11. 11.

    Die Gemeinsamkeit Fröbels und Montessoris liegt in der überragenden Bedeutung, die sie der Auswahl und Gestaltung der Dinge als ‚Lehrer‘ des Kindes beimessen. Der Unterschied liegt dagegen in den Prinzipien, die Auswahl und Gestaltung bestimmen. In starker Vereinfachung: Fröbel: Bildungstheoretisch; synthetisch; kategorial-symbolisch; Montessori: Lernzielorientiert; analytisch; konkret-anschaulich.

  12. 12.

    Eine Folge der Situationsansätze der 70er bis 90er Jahre ist wohl darin zu sehen, dass die für die moderne Pädagogik grundlegende Perspektive des Weltbezuges der (frühkindlichen) Bildung zugunsten des Lebensweltbezuges aufgegeben wurde. Damit ging zugleich der Gedanke verloren, dass die elementaren Grundfähigkeiten der Kinder notwendigerweise allgemeinen Charakter in dem Sinne haben müssen, dass alle Kinder auf ihre Ermöglichung ein Recht als Mensch (und nicht nur als Bewohner eines Stadtteils, Angehöriger einer Kultur, Klasse etc.) und damit einen universalen Anspruch haben. Weder Komenský, Rousseau, Fröbel oder Montessori ging es um die Verfertigung eines „Allgemeinkind(es)“ (G.E. Schäfer, 2006, S. 42.), sondern um die Sicherstellung jener allgemeinen Grundfähigkeiten, die in hochkomplexen und freiheitlichen Gesellschaften die Voraussetzung für personale Entwicklung und interindividuelle Verständigung darstellen. Das grobe Missverständnis des in der aktuellen Kleinkindpädagogik verbreiteten ‚diffusen Postmodernismus‘ (W. Welsch) liegt in dem Grundirrtum, auf den schon Rousseau aufmerksam gemacht hat, dass er im Kind bereits alles das voraus zu setzen scheint .Kreativität‘,.Selbstbestimmung‘,.Individualität‘,.Freiheit‘ etc.), was im günstigsten Falle Resultate von Bildungsprozessen darstellt. Auch ‚Individualität‘ und ‚Differenz‘ sind keine schlichten biologischen oder soziale Gegebenheiten, sondern kulturelle Errungenschaften, die auch durch Erziehung und Bildung erst sichergestellt und ermöglicht werden müssen.

  13. 13.

    Ich bediene mit hier Kants Unterscheidung zwischen einer physiologischen und einer pragmatischen Anthropologie (Vorrede zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1800), die Montessoris Verlagerung ihrer Interessen von dem, ‚was die Natur aus dem Menschen macht‘ auf das, ‚was er aus sich selber machen kann‘ sehr treffend bezeichnet.

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Grell, F. (2013). Frühkindliche Bildung in historischer Perspektive. In: Stamm, M., Edelmann, D. (eds) Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19066-2_11

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