Zusammenfassung
Vor einem halben Jahrhundert veröffentlichte der französische Philosoph Gaston Bachelard ein kleines Buch über den radikalen Wandel herkömmlicher Denkweisen innerhalb wie außerhalb der Wissenschaften durch das, was er den „neuen wissenschaftlichen Geisti“2 nannte. Obwohl Bachelard sich vor allem mit Mathematik, Physik und Chemie befaßte, nahm seine Interpretation der Veränderungen in diesen Bereichen zugleich viele der Tendenzen voraus, die seit zwei Jahrzehnten auch das Denken, die Lehre und die Arbeitsweisen in den Geisteswissenschaften und besonders in den Literaturwissenschaften beeinflussen. Eine kurze Erörterung von Bachelards Analysen vermag daher sowohl alternative Arbeitsweisen des Schreibens und Lesens vorzustellen, als auch zu zeigen, daß sich die darin wirksamen Kräfte nicht auf die einzelnen Disziplinen beschränkten, wo sie, zunächst jedenfalls, zu arbeiten gezwungen sind. Was bei der Auseinandersetzung zwischen traditionellen Denkweisen, sei es in den Erfahrungswissenschaften oder anderswo, und der wachsenden Zahl intellektueller Arbeitsweisen, die dieser Tradition nicht mehr einfach integriert oder von ihr verstanden werden können, auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als die Idee und das Ideal des Wissens, welche auf einem als adaequatio intellectus et rei gedachten Begriff der Wahrheit gründen. Aber während der ‚Übereinstimmungs‘-Begriff der Wahrheit sowohl die Trennung des Denkens von seinem Objekt als auch den Vorrang des letzteren vor dem ersteren voraussetzt, hat das Vorgehen des ‚neuen wissenschaftlichen Geistes‘ gerade diese Unterscheidung zunehmend problematisch werden lassen.
Der vorliegende Text Samuel Webers ist zuerst als Einleitung zu seinem Buch Institution and Interpretation (Theory and History of Literature: Vol. 31), Minneapolis 1987 erschienen. — Anm. d. Hgg.
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Anmerkungen
Gaston Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, Paris 1934. Bei der Wiedergabe der Bachelard-Zitate hat sich der Übersetzer an das französische Original gehalten. Die Fundstellen in der deutschen Übersetzung von Michael Bischoff (Gaston Bachelard, Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main 1988) werden jeweils an zweiter Stelle angegeben. — Anm. d. Hgg.
Obwohl dieser Begriff selbst sich in Bachelards Text nicht findet, formuliert er in kondensierter Form einen wesentlichen Parameter von dessen Beweisführung. Das Verhältnis zwischen dem Begriff der ermächtigenden Grenzen und dem Grundlagendenken wird in The Limits of Professionalism, abgedruckt in Institution and Interpretation (Anm. 1) S. 18ff, behandelt.
Bachelard (Anm. 2), S. 80 (S. 82). Paulis “Ausschlußprinzip” kann allgemeinverständlich beschrieben werden als die Aussage, daß “keine zwei Elektronen identische Quantenzahlen oder (…) denselben Quantenzustand haben können.” (Daniel J. Kevles, The Physicists. The History of a Scientific Community in America, New York: Vintage, 1979, S. 161.)
Ebd., S. 28 (S. 32 f.) Deformation — Entstellung* (Die mit einem Sternchen * gekennzeichneten Wörter sind im Original deutsch. — Anm. d. U.) — ist auch eine herausragende Eigenschaft unbewußter Artikulationen und somit ein charakteristisches Merkmal psychoanalytischer Hermeneutik, wie ich in “The Blindness of the Seeing Eye: Psychoanalysis, Hermeneutics, Entstellung”, veröffentlicht in Institution and Interpretation (Anm. 1), S. 73ff, zu zeigen versuche.
Werner Heisenberg, Die physikalischen Prinzipien der Quantenmechanik, Leipzig41944, S. 11, Fußnote, zit. n. Bachelard (Anm. 2), S. 126 (S. 126). Ein verwandtes und nur auf den ersten Blick triviales Beispiel für diese Tendenz kann in dem im Englischen verbreiteten Gebrauch des Ausrufs “wirklich (really)?!” ausgemacht werden. Oft als eine Art ‘Füllsel’ verwendet, kann “Wirklich?!” als Versuch verstanden werden, gerade die Leere in der ’Wirklichkeit’ zu füllen, die sein zweideutiger grammatischer Status - halb bejahend, halb fragend — und seine defensive Gleichgültigkeit gegenüber der von ihm offensichtlich angesprochenen speziellen Situation bekräftigen.
Le “trouble de la désignation objective”, Bachelard (Anm. 2), S. 126 (S. 127).
Die Art und Weise kommentierend, wie sich die traditionelle Auffassung der Lichtreflexion — Strahlen, die beim Auftreffen auf einen festen, undurchlässigen Körper “zurückprallen” - mit “der quantischen Deutung des Phänomens” ändert, bemerkt Bachelard: “Die Schwingung, die das Molekül berührt, wird nicht wie ein träger Gegenstand abprallen, und noch weniger wie ein mehr oder minder ersticktes Echo; sie wird eine andere Klangfarbe haben, denn vielfältige Schwingungen werden sich ihr hinzugefügt haben (einschließlich jener des ‘Körpers’ selbst, dessen Moleküle ebenfalls ’schwingen’ — S.W.). Aber selbst diese Sicht und dieser Ausdruck sind zu materialistisch, um von der quantischen Deutung des Phänomens Rechenschaft zu geben: Ist es wirklich ein Lichtspektrum, das von dem von einem Strahl berührten Molekül ausgeht? Ist es nicht vielmehr ein Spektrum von Zahlen, das uns von der neuen Mathematik aus einer neuen Welt übermittelt wird? Auf alle Fälle wird einem, wenn man der Quantenmethode auf den Grund geht, sehr bewußt, daß es nicht mehr um ein Problem des Zusammenstoßens, des Abprallens, des Reflektierens geht, und noch weniger um einen einfachen Energieaustausch, sondern daß die Energie-und Uchtveränderungen gemäß einem Doppelspiel des Schreibens (un double jeu d’écriture) vor sich gehen, das von komplizierten numerischen Arrangements (convenances) geregelt wird.” (Bachelard (Anm. 2), S. 74 (S. 77)).
Vgl. Capitalizing History: The Political Unconscious, in: Institution and Interpretation (Anm. 1), S. 40ff.
Wozu man das Bestreben, Mitbewerber aus dem Felde zu schlagen, noch hinzuzufügen hätte, den ‘synchronischen’ Aspekt des wissenschaftlichen Ringens, welches Bachelard nur in seiner ’diachronischen’ Dimension in Betracht zieht. Ein spektakuläres Beispiel solchen Wettbewerbs hat kürzlich die Kontroverse geboten, die um die Benennung des Aidsvirus entstanden ist und in der sich die jeweiligen Ansprüche auf (zeitliche, und mithin: juristische) Priorität bei seiner Identifizierung, und also auf die auf dem Spiel stehenden enormen Eigentumsrechte, die von den beiden beteiligten Forschungsgruppen gemacht werden - der des Institut Pasteur in Paris, geleitet von Prof. Luc Montagnier, und der des National Cancer Institute, unter der Direktion von Prof. Robert Gallo -, in der sich diese Prioritätsansprüche um den jeweiligen Namen drehen, der dem Virus von jeder Gruppe gegeben wurde (LAV von den Franzosen, HTLV 3 von den Amerikanern). Vgl. ausführlich: How Gallo Got Credit for AIDS Discovery, The New Scientist, 7. Februar 1985.
Vgl. die Studie von Bruno Latour und Steve Woolgar über das Salk Institute, Laboratory Life, Beverly Hills, London: Sage Publications, 1979, und B. Latour, Les microbes, guerre et paix, suivi par lrréductions, Paris: Editions A.M. Métaillé, 1984. Latours Analysen können gelesen werden als Fortführung der polemischen, anti-realistischen Zugangsweise Bachelards, wobei sie versuchen, diese von ihren idealistischen Überresten zu befreien. Die heutige Wissenschaft offenbart sich auf diese Weise als eine Funktion von “Kräfteverhältnissen”, deren konfliktreichen, parteiischen und parteilichen Charakter die Wissenschaft nach Möglichkeit verdeckt. In dieser letzten Hinsicht nähert sich Latours Position bestimmten Argumenten an, die in “The Limits of Professionalism”, veröffentlicht in Institution and Interpretation (Anm.1), S. 18ff, entwickelt werden.
Bachelard (Anm. 2), S. 109f. (S. 110f.). Bachelards Beschreibung der ausschließenden Grundlage der traditionellen Wissenschaftsgemeinschaft trifft sich nicht nur mit der Darstellung Freuds - für den die ‘Geselligkeit’ des Witzes von geteilten “Hemmungen” (oder Verdrängungen) abhängt: d.h. eher von dem, was verboten,denn von dem, was vorgeschrieben ist (vgl. The Blindness of the Seeing Eye, in: Institution and Interpretation (Anm. 1), S. 73ff) -, sondern auch mit den Implikationen desjenigen Textes, der “die Gemeinschaft der Interpretation” - einen Begriff, der sich in den letzten Jahren einer gewissen Popularität erfreut hat - erstmals in englischer Sprache entwickelte: Josiah Royces The Problem of Christianity (1913). Im Gegensatz zu neueren Verfechtern der “Gemeinschaft der Interpretation” läßt Royce keinen Zweifel daran, daß das vereinende und konstituierende Prinzip dieser “Gemeinschaft” ihr äußerlich sein muß und daß mithin ihr Ursprung nur als Ergebnis “irgendeines Wunders der Gnade” vorgestellt werden kann. Das Konzept der Gemeinschaft - ob der Interpretation oder von irgend etwas sonst - vermag die Bühne zu beschreiben, auf der Divergenzen sich ausagieren, aber niemals das Prinzip ihrer Entscheidung, noch weniger das ihrer Auflösung. (Vgl. J. Royce, The Problem of Christianity, Chicago und London: University of Chicago Press, 1968, S. 130.)
René Lourau, L’analyse institutionelle, Paris: Editions de Minuit, 1970, S. 137. Die funktionalistische Konzeption der Institution kennzeichnet auch die theoretischen Schriften von Michel Foucault, trotz der Betonung der Ausschlußprozeduren, durch die die “diskursiven Praktiken” sich etablieren. Die Eröffnungsszene von Foucaults Inauguralvorlesung am Collège de France ist in dieser Hinsicht von unmißverständlicher Deutlichkeit. Es ist die Stimme der “Institution” — als solcher und im allgemeinen -, die bestrebt ist, die “Unruhe” zu mildern, die “der Diskurs in seiner materiellen Wirklichkeit” hervorgerufen hat: “Du brauchst vor dem Anfangen keine Angst zu haben; wir sind alle da, um dir zu zeigen, daß der Diskurs in der Ordnung der Gesetze steht; daß man seit jeher über seinem Auftreten wacht; daß ihm ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und daß seine Macht, falls er welche hat, von uns und nur von uns stammt.” (Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M. - Berlin - Wien: Ullstein, 1979, S. 6.)
Für eine Erörterung der ‘Absonderung’ (’setting-apart’), eines Vorgangs, der nicht nur Ausschluß mit sich bringt, sondern auch versuchte Integration und Assimilation durch hierarchische Unterordnung, vgl. Samuel Weber, The Legend of Freud, Minneapolis: University of Minnesota Press, 1982, S. 32–60.
Roland Barthes, Image, Music, Text, übersetzt von Stephen Heath, New York: Hill & Wang, 1971, S. 147.
Vgl. meinen Essay über Wolfgang Iser, Caught in the Act of Reading, Glyph 9, Minneapolis 1986.
“Der Autor ist (…) das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens (…). (…) ein() Punkt (…), von dem her sich die Widersprüche lösen (…) lassen (…).” (Was ist ein Autor, in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. - Berlin - Wien: Ullstein, 1979, S. 21.)
Die Besonderheit des Lesens wird dadurch neutralisiert und seine Vorgehensweise einem unhinterfragten Begriff von direkter Wahrnehmung angeglichen - dem Bollwerk jenes ‘intuitiven Denkens’, das Bachelards ’neuer wissenschaftlicher Geist’ angreift, jedoch nur innerhalb des relativ begrenzten Bereichs seiner eigenen Praxis. Ein neuereres Beispiel solcher Neutralisierung, das auch manche ihrer politischen und ideologischen Implikationen aufdeckt, bietet William J. Bennetts Bericht über den Stand der Geisteswissenschaften im amerikanischen höheren Bidungswesen, “To Reclaim a Legacy”. Die von Bennett befürwortete Rückkehr zu den Bedeutenden Büchern wird vom Standpunkt der intuitiven Wahrnehmung aus vorgebracht: “Lehrer, die die Geisteswissenschaften am Leben erhalten können”, werden als diejenigen beschrieben, “die Studenten durch die Landschaft des menschlichen Geistes zu führen vermögen”, damit diese “nicht ziellos auf dem Terrain herumwandern”, sondern statt dessen schnell und rationell ihren Weg finden zu “den Marksteinen menschlicher Leistung” und der “beständigen Vision der Zivilisation”. (The Chronicle of Higher Education, 28. November 1984, S. 17.) Das Modell, das letztlich diese säkularisierte Konzeption des Lesens als unmittelbare Wahrnehmung beseelt, ist natürlich ein theologisches: das der göttlichen Offenbarung.
Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1967, S. 82ff (§§ 156–171).
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (Werkausgabe, Bd. X), Hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1977, S. 87.
Im amerikanischen Original des vorliegenden Aufsatzes zitiert der Autor die Kritik der Urteilskraft nach der Übersetzung von J.H. Bernard, New York: I lafner Press, 1951. - A.d.U.
Zu der problematischen Notwendigkeit solcher Selbstauslöschung und zu einigen ihrer heutigen Folgen vgl. Ambivalence: The Humanities and the Study of Literature, in: Institution and Interpretation (Anm. 1), S. 132ff.
The Intentional Fallacy, in: W.K. Wimsatt, Jr., The Verbal Icon, New York: Noonday, 1954, S. 18.
Unter diesem Blickwinkel gelesen, erweisen sich Kants “abstoßender Stil” und “ermüdende” Wiederholungen, wie sein Übersetzer Bernard es nennt (Anm. 42, S. xiv), als ein effektiveres Medium für das widerspruchsreiche Szenario, das sich in der Kritik der Urteilskraft ausagiert, als irgendein direkter Ausdruck es jemals bieten könnte.
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Weber, S., Landvogt, R. (1990). Interpretation und Institution. In: Kittler, F.A., Schneider, M., Weber, S. (eds) Diskursanalysen 2: Institution Universität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96997-2_9
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