Zusammenfassung
An einem entscheidenden Punkt der Darlegungen im Bruchstück einer Hysterie-Analyse faßt Freud seine psychoanalytische Sprechregel in ein kryptisches Boileau-Zitat: „J’appelle un chat un chat“.1 Die französische Version läßt bereits erkennen, daß die Regel nicht so tautologisch ist, wie sie von sich selbst behauptet. Die kurz zuvor mitgeteilte deutsche Variante der Regel bestätigt diese Vermutung. Sie lautet: „Ich gebe Organen wie Vorgängen ihre technischen Namen“.2 Die Namengebung folgt also unter einem Vorbehalt der tautologischen Regel: „Organe wie Vorgänge“ sollen in der Psychoanalyse auf ihre lateinischen (i.e. technischen) Bezeichungen hören. Mithin läßt das Boileau-Zitat in seiner (fremd-)sprachlichen Gestalt durchblicken, daß die tautologische Regel eine Übersetzung vorschreibt. Und in dieser Übersetzung überdauert ein Indiz jener Scham, deren Grenze gerade in diesem Benennungsakt überschritten wird. Die Zumutung an die Scham durch die Konfrontation mit ihren technischen Namen entspricht, wie Freud an der gleichen Stelle der Hysterie-Analyse betont, der Entblößung, die eine gynäkologische Untersuchung erforderlich macht.
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Anmerkungen
Nicolas Boileau-Despréaux, OEuvres Complètes. Satires. Satire I, Paris 31966, Vers 52, S. 21: “J’appelle un chat un chat, et Rolet un fripon”. Das Zitat bei Freud in: Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in: Sigmund Freud, Gesammelte Werke, London/Frankfurt/M. 1942–1968, Bd. V, S. 208, im folgenden GW zitiert.
Ebd. — Es wäre noch weiter zu analysieren, welcher Art die nicht-technischen Namen sind. Sie sind obszön und eigentlich viel näher an dem, was sie für die Schamhaftigkeit repräsentieren.
Zur Übersetzungsproblematik bei Freud vgl. den Aufsatz von Martin Stingelin, Freud zur See. Anmerkungen zu den Fährnissen des Übersetzungskomplexes, in: Fragmente. Schriftenreihe zur Psychoanalyse. Krieg und Medien 127/28 (1988), S. 140–153. — Im übrigen ist der Sachverhalt bekannt, daß der Wechsel ins fremdsprachige Register innerhalb eines Textes, der Fragen der Sexualität, des Begehrens, der Perversion berührt, selbst Index der besonderen kulturellen Ausnahme ist, die dieses Sprechen darstellt. Als Beleg nehme man nur Tagebücher wie die Lichtenbergs oder Platens zur Hand oder Krafft-Ebings Psychopathia sexualis, wo die Kasuistik regelmäßig lateinisch abgefaßt wird, oder Hans Castorps Liebeserklärung an Madame Chauchat in Thomas Manns Zauberberg.
Das “Rätsel des Traumes” (GW II/III, 44, 56 et pass.); “Rätsel der Hysterie” (GW V, 201), “Rätsel der Welt” (GW XIV, 349, 354), “Rätsel des Lebens und des Todes” (GW X, 338), “Rätsel des Todes” (GW XIV, 337), “Rätsel des Weibes” (GW XIV, 241), “das Rätsel des Unheimlichen” (konkret des “Unheimlichen” des “weiblichen Genitals”) (GW XII 258f.). Ganz entschieden verbindet Freud aber in den “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie” und in dem Beitrag “Zur sexuellen Aufklärung der Kinder” die kindliche Urfrage mit der Sphinxfrage: Diese Urfrage und mithin alle Forschung geht von dem Wunsch zu wissen aus, woher die Kinder kommen. (GW V, 95, GW VII, 20, 22, 24, 175).
Am Ende des Abschnitts über die “Abwehr” im “Entwurf einer Psychologie” resümiert Freud: “Somit bleibt der Vorgang der Verdrängung als Kern des Rätsels bestehen”. Hier zitiert nach Sigmund Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse,London 1950, S. 432. Die andere Formel in: Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, Hg. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt/M. 1986, S. 301 ff., im folgenden als Fließ zitiert.
Ernest Jones, Sigmund Freud, Leben und Werk, 3 Bde., München 1982, Bd. Il, S. 27. - Freud hat sein Bildnis auf der Plakette als “das Beste und für mich Schmeichelhafteste” bezeichnet, als ihn C.G. Jung ein Jahr später um ein Bildnis bat. In diesem Zusammenhang sprach er auch von einem Photo, das “meine Buben” angefertigt hatten. Ganz offensichtlich zog er die “schmeichelhafte” Version des Künstlers den Photographien vor. Zur Differenz von Photographie und Relief, Kunst und Medium vgl. die Ausführungen weiter unten S. 146ff. Die Bemerkung gegenüber Jung findet sich in: Sigmund Freud, Briefe 1873–1939, Hgg. Ernst und Lucie Freud, Frankfurt 1968, S. 275.
Zu dieser Frage und der langen Reihe ihrer Lesarten vgl. Edith Seifert, Was will das Weib’. Zu Begehren und Lust bei Freud und Lacan, Weinheim/Berlin 1987.
Zur Forschung über Sigmund Freuds akademische Karriere vgl. Siegfried Bernfeld/Suzanne Cassirer-Bernfeld, Bausteine der Freud-Biographik, hg. und übersetzt von Ilse Grubrich-Simitis, Frankfurt/M. 1981. - Josef und Renée Gicklhorn, Sigmund Freuds akademische Laufbahn im Lichte der Dokumente, Wen-Innsbruck 1960. - K.R. Eissler, Sigmund Freud und die Wiener Universität. Über die Pseudo-Wissenschaftlichkeit der jüngsten Wiener Freud Biographie, Bern u. Stuttgart 1966.
“Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo” hieße hier, im Kontext der technischen Namen der Beförderung: “Wenn mich die Minister nicht zum Professor ernennen, lasse ich die Geister der Frauen auftreten”. Vgl. aber die schlüssige Entschlüsselung im zweiten Teil dieses Beitrages S. 149.
Vgl. die Interpretation dieses Traumes bei Max Schur, Sigmund Freud, Leben und Sterben, übersetzt von Gert Müller, Frankfurt/M. 1977, S. 188ff. - Lutz Rosenkötter, Freud und Brücke: Neue Aspekte des Traumes “non vixit”, in: J. von Scheidt (Hg.), Der unbekannte Freud. Neue Interpretationen seiner Träume, Frankfurt/M. 1978, S. 171–178. - Alexander Grinstein, On Sigmund Freud’s Dreams, Detroit 1968; darin Kap. 12.
Zur Beziehung Freuds zu Fleischl vgl. die biographischen Darstellungen bei Jones, Bernfeld und Schur. Ihre gemeinsame Quelle ist der Brief an Martha Bernays vom 27. Juni 1882 (Briefe, S. 20ff.). Dort steht unter anderem die Bemerkung “Gestern war ich bei meinem Freund Ernst von Fleischl, den ich bisher, solange ich nicht Marthchen kannte, in allen Stücken beneidet habe. (…). Er (…) war immer mein Ideal (…).”
Vgl. Jacques Lacan, Le séminaire, livre XX: Encore, Paris 1975, S. 36.
Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Gesammelte Werke, London-Frankfurt/M. 1942–68, Bd. XI, S. 7.
Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, München 1974, S. 7.
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 41963, S. 64.
Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904. Ungekürzte Ausgabe, Hg. Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt/M. 1986, S. 480f.
Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW Bd. XI, S. 155.
Vgl. dazu Rose-Maria Gropp, Freud und Leid von Frauen (in diesem Band).
Vgl. Jeffrey Moussaieff Masson, Was hat man dir, du armes Kind, getan? Freuds Unterdrlikkung der Verführungstheorie, Reinbek 1984.
Sigmund Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. Mit dem Text der Erzählung von Wilhelm Jensen, Hgg. Bernd Urban und Johannes Cremerius, Frankfurt/M. 1973, S. 89. (Im folgenden nurmehr nach Seitenzahlen zitiert.)
Freud, Die Traumdeutung, GW Bd. II/III, S. 101.
Freud, Fließ-Briefe, S. 185.
Freud, Selbstdarstellung. GW Bd. XIV, S. 91.
Ronald W. Clark, Edison. Der Erfinder, der die Welt veränderte, Frankfurt/M. 1981, S. 170.
Jacques Lacan, Schriften, Hg. Norbert Haas, Olten-Freiburg/Br. 1973–1980, Bd. I, S. 120.
Vgl. Rudolf Arnheim, Kritiken und Aufsätze zum Film, Hg. Helmut H. Diederichs, München 1977, S. 27.
Vgl. Henri Bergson, L’Evolution créatrice, Paris 261923, S. 358f.: “On pourrait donc dire que notre physique diffère surtout de celle des anciens par la décomposition indéfinie qu’elle opère du temps. Pour les anciens, le temps comprend autant de périodes indivises que notre perception naturelle et notre langage y découpent de faits successifs présentant une espèce d’individualité. C’est pourquoi chacun de ces faits ne comporte, à leurs yeux, qu’une définition ou une déscription globales. (…) Pour un Kepler ou un Galilée, au contraire, le temps n’est pas divisé objectivement d’une manière ou d’une autre par la matière qui le remplit. Il n’a pas d’articulations naturelles. Nous pouvons, nous devons le diviser comme il nous plaît. Tous les instants se valent. Aucun d’eux n’a le droit de s’ériger en instant représentatif ou dominateur des autres. (…) Il y a entre ces deux sciences le même rapport qu’entre la notation des phases d’un mouvement par l’oeil et l’enregistrement beaucoup plus complet de ces phases par la photographie instantanée. C’est le même mécanisme cinématographique dans les deux cas, mais il atteint, dans le second, une précision qu’il ne peut pas avoir dans le premier. Du galop d’un cheval notre oeil perçoit surtout une attitude caractéristique, essentielle ou plutôt schématique, une forme qui paraît rayonner sur toute une période et remplir ainsi un temps de galop: c’est cette attitude que la sculpture a fixée sur les frises du Parthénon. Mais la photographie instantanée isole n’importe quel moment; elle les met tous au même rang, et c’est ainsi que le galop d’un cheval s’éparpille pour elle en un nombre aussi grand qu’on voudra d’attitudes successives, au lieu de se ramasser en une attitude unique, qui brillerait en un instant privilégié et éclairerait toute une période.”
Vgl. Jean-Paul Sartre, L’individuel singulier. in: Kierkegaard vivant. Colloque organisé par l’Unesco à Paris du 21 au 23 avril 1964, Paris 1966, S. 20–63.
Freud, Fließ-Briefe, S. XVII.
Freud, Fließ-Briefe, S. 502f.
Freud, Zur Einleitung der Behandlung. GW Bd. VIII, S. 469.
Freud, Fließ-Briefe, S. 502.
Freud, Fließ-Briefe, S. 252.
Freud, Zur Einleitung der Behandlung. GW Bd. VIII, S. 469.
Freud, Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen. GW Bd. I, S. 514.
Vgl. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens. GW Bd. IV, S. 13–20.
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Schneider, M., Kittler, F.A. (1990). Das Beste, was du wissen kannst. In: Kittler, F.A., Schneider, M., Weber, S. (eds) Diskursanalysen 2: Institution Universität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-322-96997-2_8
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