Zusammenfassung
2001 wird als Konsequenz aus der Rinderseuche BSE ein deutsches Bio-Siegel eingeführt und die Förderung von Bio- und Ökolandbau als nationales Regierungsprogramm verabschiedet. Ernährung und Landwirtschaft werden damit wieder zentrale Themen in der Gesellschaft. Zu diesem Zeitpunkt sind seit den ersten Bemühungen der Bio-Pioniere in den frühen 1970er-Jahren beinahe 30 Jahre vergangen. Mit der symbolkräftigen gesetzlichen Implementierung kommen deren Schaffen und Leistungen endgültig in der Mitte der Gesellschaft an. Wieso aber wird im Zuge der BSE-Krise gerade Bio als mehrheitsfähige Lösungsmöglichkeit herangezogen? Wer sind die Pioniere, deren Ansätze und Impulse den Boden für diese „Agrarreform“ bereiten, sodass Bio zum Regierungsprogramm werden kann – und soll?
In dem Beitrag soll gezeigt werden, dass es einerseits die alternativen Bestrebungen einer gegenkulturellen Bewegung um die Bio-Pioniere sind, die den Boden für und das symbolische Kapital von Bio bereiten und es schlussendlich zu einer über sich hinausweisenden Metapher werden lassen. Andererseits ist die Handlungsebene dieser Akteure eng und diskursiv mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen verwoben. Bio wäre wohl nicht in dieser Intensität angenommen worden, wenn es nicht durch menschengemachte Katastrophen wie das Reaktorunglück von Tschernobyl oder die BSE-Seuche in der Bevölkerung auf ein breites Bedürfnis nach Transparenz, Aufklärung und Sicherheit gestoßen wäre.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
„BSE ist auf etwa 50 andere Tierarten übertragbar. Ähnelt in seinen Erscheinungsformen der Traberkrankheit der Schafe und der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit des Menschen. In Großbritannien sind seit Mitte der 1980er Jahre bis 2002 mehr als 180.000 Fälle bekannt geworden […]. In Deutschland werden von November 2000 bis Ende 2002 etwa 5,5 Millionen BSE-Schnelltests an Rindern über 24 Monaten durchgeführt. Für das Jahr 2002 werden in Deutschland 106 BSE-Fälle amtlich bestätigt“ (Die Zeit 2005a).
- 2.
Vgl. dazu auch Peccei 1977.
- 3.
Benannt nach dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau.
- 4.
„Discours de la méthode“, 1637 anonym publiziert, gilt als das erste und wirkmächtigste Manifest des neuzeitlichen Rationalismus und wissenschaftlichen Methodenbewusstseins.
- 5.
Super-GAU: größter anzunehmender Unfall in einer kerntechnischen Anlage, der von den Sicherheitssystemen nicht mehr beherrschbar ist.
- 6.
„Im Kernkraftwerk Tschernobyl ist ein Schaden am Reaktor aufgetreten“ (dpa 1986).
- 7.
Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit des Zerfalls von 30,1 Jahren (Die Zeit 2005c, S. 111).
- 8.
Bei der Übertragung auf den Menschen wird von der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gesprochen: „Seit 1994 meldepflichtige chronisch-degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems; die Inkubationszeit beträgt 6 Monate bis 30 Jahre. […] nach wenigen Wochen tritt der Tod ein. […] Ein Zusammenhang mit BSE gilt als sicher“ (Die Zeit 2005b, S. 184).
- 9.
Bei dieser Stellungnahme von Renate Künast handelt es sich um eine Kurzfassung ihrer Regierungserklärung vom 08.02.2001 (Künast 2001b).
- 10.
Bestehend aus Verbrauchern, Bauern, Futtermittel- und Lebensmittelindustrie, Handel und Politik (Künast 2002, S. 4 f.).
- 11.
Englisch für „unpassend“, „gesellschaftsuntauglich“.
- 12.
Weiterführend dazu: World Fair Trade Organization (2013).
Literatur
Baringdorf, F. W. Graefe zu (2002). Agrarwende: Machtverschiebung mit offenem Ende. In AgrarBündnis e. V. (Hrsg.), Landwirtschaft 2002 – der kritische Agrarbericht (S. 22–28). Hamm.
Barlösius, E. (1997). Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.
Baumgartner, J. (1992). Ernährungsreform – Antwort auf Industrialisierung und Ernährungswandel. Ernährungsreform als Teil der Lebensreformbewegung am Beispiel der Siedlung und des Unternehmens Eden seit 1893. Frankfurt a. M.
Beck, U. (1986). Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.
BNN [Bundesverband Naturkost Naturwaren Herstellung und Handel e. V.] Nachrichten. (2008). Vom einfachen Leben zur florierenden Bio-Branche. „Die Müsli-Macher“. BNN-Nachrichten Naturkosthandel 9/2008. Berlin. http://www.n-bnn.de/sites/default/dateien/bnn/bnn-nachrichten/2008_3_BNN_Nachr.pdf. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Böhme, G. (1999). Die Mensch-Natur-Beziehung am Beispiel Stadt. In G. Böhme (Hrsg.), Für eine ökologische Naturästhetik (3. Aufl., S. 56–76). Frankfurt a. M.
BÖLW [Bund Ökologische Landwirtschaft e. V.]. (2013). Bio-Umsatz durchbricht 2012 die 7-Milliarden-Marke – Politik muss Öko-Bremse lösen. Pressemitteilung Bilanzpressekonferenz 2013. http://www.boelw.de/uploads/media/PM_BOELW_Bilanz_2013.pdf. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Bröckling, U., Krasmann, S., & Lemke, T. (2006a). Einleitung. In U. Bröckling, S. Krasmann & T. Lemke (Hrsg.), Glossar der Gegenwart (1. Aufl., S. 9–16). Frankfurt a. M.
Descartes, R. (1997). Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Französisch-deutsch (2. Aufl.). Hrsg. von L. von Gäbe & G. Heffernan (Philosophische Bibliothek 261). Hamburg (französische Erstveröffentlichung 1637).
Die Zeit. (2005a). BSE. In Die Zeit (Hrsg.), Das Lexikon in 20 Bänden (Bd. 2: Bas – Chaq, S. 438–439). Hamburg.
Die Zeit. (2005b). Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. In Die Zeit (Hrsg.). Das Lexikon in 20 Bänden (Bd. 3: Char – Dur, S. 184–185). Hamburg.
Die Zeit. (2005c). Tschernobyl. In Die Zeit (Hrsg.), Das Lexikon in 20 Bänden (Bd. 15: Torp – Wahm, S. 110–112). Hamburg.
Die Zeit. (2005d). Tiermehl. In Die Zeit (Hrsg.), Das Lexikon in 20 Bänden (Bd. 14: Spen –Toro, S. 549–550). Hamburg.
Dingler, J. (2004). Naturherrschaft und ökologische Krise als Dialektik der Moderne: Zur Herrschaftsimmanenz des gesellschaftlichen Naturverhältnisses der Moderne. Universität Münster/Zentrum für Umweltforschung. http://www.transforma-online.de/deutsch/transforma2004/papers/dingler.htm. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
dpa, [DeutschePresse-Agentur]. (1986). Im Kernkraftwerk Tschernobyl ist ein Schaden am Reaktor aufgetreten. 28.04.1986.
Earth Day Network. (2013). Earth Day: The history of a movement. http://www.earthday.org/earth-day-history-movement. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Foucault, M. (2000). Vorlesung vom 7. Januar 1976. In M. Ott (Hrsg.), Michel Foucault. In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–76) (1. Aufl., S. 7–30). Frankfurt a. M.
Freytag, N. (2006). Eine Bombe im Taschenbuchformat? Die „Grenzen des Wachstums“ und die öffentliche Resonanz. Zeitgeschichte online – Fachportal für die Zeitgeschichte. http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Freytag-3-2006; Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Gfäller, S. (2010a). Interview mit Maximilian Bess. 15.05.2010. Balingen.
Gfäller, S. (2010b). Interview mit Robert Dax. 27.05.2010. Mammendorf.
Hahn, F. (2006). Von Unsinn bis Untergang: Rezeption des Club of Rome und der Grenzen des Wachstums in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre. Freiburg i. Br. http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/2722/pdf/hahn_friedemann_2006_von_unsinn_bis_untergang.pdf. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Hajer, M. A. (2004). Argumentative Diskursanalyse. Auf der Suche nach Koalitionen, Praktiken und Bedeutung. In R. Keller, A. Hirseland, W. Schneider & W. Viehöfer (Hrsg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Bd. 2: Forschungspraxis, 2. Aufl., S. 271–298). Wiesbaden.
Hamm, U., & Rippin, M. (2007). Marktdaten aktuell: Öko-Lebensmittelumsatz in Deutschland 2006. http://www.agromilagro.de/downloads/umsatzoeko2006.pdf.Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Henrichsmeyer, W., & Witzke, H. P. (1994). Agrarpolitik: Bewertung und Willensbildung (Bd. 2). Stuttgart.
Holzinger, M. (2004). Natur als sozialer Akteur. Realismus und Konstruktivismus in der Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie (Forschung Soziologie Bd. 197). München.
Hünemörder, K. F. (2004). Die Frühgeschichte der globalen Umweltkrise und die Formierung der deutschen Umweltpolitik (1950–1973) (Historische Mitteilungen Beihefte 53). Stuttgart.
Kaschuba, W. (2003). Einführung in die europäische Ethnologie (2. Aufl.). München.
Keller, R., Hirseland, A., Schneider, W., & Viehöfer, W. (Hrsg.). (2004). Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse (Bd. 2: Forschungspraxis, 2. Aufl.). Wiesbaden.
Künast, R. (2001a). Eine neue Verbraucherschutz- und Landwirtschaftspolitik. Wirtschaftsdienst. Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 81(2), 71–72. http://www.wirtschaftsdienst.eu/downloads/getfile.php?id=7. Zugegriffen: 04. Mai 2014.
Künast, R. (2001b). Regierungserklärung der Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft Frau Renate Künast. 08.02.2001. Berlin. In Deutscher Bundestag: Plenarprotokoll 14/149. Berlin, 08.02.2001. S. 14520C–14525A. http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14149.pdf. Zugegriffen: 31. Mai 2013.
Künast, R. (2002). Doppelt gut: Für die Bauern und für die Natur. Lehren aus der BSE-Krise. Jahrbuch Ökologie (S. 29–36). http://www.jahrbuch-oekologie.de/Kuenast2002.pdf. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Leitzmann, C. (2006). Ernährung und Gesundheit. Lehrbrief. Berlin.
Mann, A. (2007). bio. Praktische Konstruktionen einer Eigenschaft am Beispiel von Brot. Institut für Soziologie. Unveröffentlichte Diplomarbeit. Ludwig-Maximilians-Universität München.
Meadows, D. H., Meadows, D. L., Randers, J., & Behrens, W. W. (1972). Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart.
Niedzwezky, K. (2007). Perfekt gemischt. Die Heuschrecke Naturkost GmbH wird 30. BNN-Nachrichten – Mitgliederzeitschrift für die Naturkost- und Naturwarenfachbranche. Berlin.
Öko-Institut e. V. Institut für angewandte Ökologie. (2011). Ein Unfall mit Folgen - 25 Jahre Tschernobyl. http://www.oeko.de/files/download/application/pdf/20a_tschernobyl.pdf. Zugegriffen: 15. Nov. 2013.
Peccei, A. (1977). The human quality. New York.
Planck, M. (2001). Wissenschaftliche Selbstbiographie. In H. Roos & A. Hermann (Hrsg.), Max Planck. Vorträge, Reden, Erinnerungen (S. 55–73). Berlin.
Rehaag, R. M. A., & Waskow, F. M. A. (2005). Ernährungswende. Der BSE-Diskurs als Beispiel öffentlicher Ernährungskommunikation. Diskussionspapier Nr. 10. Köln. http://www.katalyse.de/wp-content/uploads/2013/08/2005ernaehrungswendedp10.pdf. Zugegriffen: 29. Dez. 2013.
Sarasin, P. (2006). Michel Foucault. Zur Einführung (2. Aufl.). Hamburg.
Scholze-Irrlitz, L. (2006). Einleitung. In L. Scholze-Irrlitz (Hrsg.), Aufbruch im Umbruch. Das Dorf Brodowin zwischen Ökologie und Ökonomie (Berliner Blätter 40) (S. 7–13). Münster.
Seymour, J. (1978). Das große Buch vom Leben auf dem Lande. Ein praktisches Handbuch für Realisten und Träumer. Ravensburg.
Steinmeyer, R., & Goetz, R. (1985). Biokost – wohin? Naturkostläden zwischen Food Coop und Supermarkt. Aus Ladner- und Verlags-Sicht. Nachbarschaft/Ökomagazin 31, 1985. In R. Steinmeyer (Hrsg.), Naturkostgeschichte(n). Berichte, Portraits, Meinung, Trends der Jahre 1980–1986 aus „Nachbarschaft“, „Ökomagazin“ und „Schrot & Korn“ (S. 66–72). o. O.
Tolksdorf, U. (2001). Nahrungsforschung. Aktualisierung von Brigitte Bönisch-Brednich. In R. W. Brednich (Hrsg.), Grundriss der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der europäischen Ethnologie (3. Aufl., S. 239–254). Berlin.
Uekötter, F. (2011). Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert. Frankfurt a. M.
Umweltinstitut München e. V. (2013). Pilze und Wild. Tschernobyl – noch nicht gegessen. München. http://umweltinstitut.org/radioaktivitat/allgemeines/pilz-info-476.html. Zugegriffen: 31. Mai 2013.
UN Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. (Hrsg.). (1987). Our common future. http://www.bne-portal.de/coremedia/generator/unesco/de/Downloads/Hintergrundmaterial_international/Brundtlandbericht.File.pdf. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Verbeek, B. (1998). Die Anthropologie der Umweltzerstörung. Die Evolution und der Schatten der Zukunft (3. Aufl.). Darmstadt.
Verordnung (EWG) Nr. 2092/91 des Rates vom 24.06.1991. (1991). Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/consleg/1991/R/01991R2092-20070101-de.pdf. Zugegriffen: 31. Mai 2013.
Weber, M. (2006). Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In M. Weber (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (S. 23–183). Frankfurt a. M. (Erstveröffentlichung 1920/21).
World Fair Trade Organization. (2013). 10 Principles of Fair Trade. http://www.wfto.com/index.php?Itemid=14&id=2&option=com_content&task=view. Zugegriffen: 04. Mai 2014.Zeit Online. (1999). Kirbach, R.: Hauptsache billig. 05.08.1999. http://www.zeit.de/1999/32/199932.gesundheitsrisik.xml. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Zeit Online. (2001a). Busse, T.: Die Wahnsinns-Lobby. 11.01.2001. http://www.zeit.de/2001/03/Die_Wahnsinns-Lobby. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Zeit Online. (2001b). Schmidt, G.: Apocalypse Cow. 05.04.2001. http://www.zeit.de/2001/15/Apocalypse_Cow. Zugegriffen: 30. Mai 2013.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2015 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Gfäller, S. (2015). „We legalized Müsli“ – Die Formierung, Institutionalisierung und Legitimierung der Bio-Branche in Deutschland. In: Hirschfelder, G., Ploeger, A., Rückert-John, J., Schönberger, G. (eds) Was der Mensch essen darf. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-01465-0_18
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-01465-0_18
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-01464-3
Online ISBN: 978-3-658-01465-0
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)