Zusammenfassung
Religionsgemeinschaften haben häufig einen karitativen Anspruch, der auch über den engeren Kreis ihrer eigenen Anhänger hinausreicht, sodass es immer wieder Diskussionen über die Einbindung religiöser Gruppen in die öffentliche Wohlfahrtsproduktion gibt. Die zu beobachtende religiöse Pluralisierung, ob migrationsbedingt oder der Entstehung neuer religiöser Bewegungen geschuldet, führt zu einer zunehmenden Diversifikation sozialer Dienste durch Religionsgemeinschaften. Da in der Migrationsforschung ein defizitorientierter Blick auf religiöse Migrantenorganisationen (RMO) vorherrscht, stellt der vorliegende Beitrag die zivilgesellschaftlichen Potentiale von RMO in den Vordergrund. Im Anschluss an einige konzeptionelle Überlegungen zur beziehungsförmigen Operationalisierung der zivilgesellschaftlichen Potentiale von RMO werden ausgewählte Ergebnisse eines mehrjährigen religionsvergleichenden Forschungsprojektes vorgestellt, in dessen Rahmen ihre Angebote und Vernetzungen beschrieben und mit Blick auf relevante Einflussfaktoren analysiert worden sind. Dabei wurde deutlich, dass alle untersuchten RMO soziale Dienste anbieten, deren Art und Umfang von einer Reihe von Faktoren mitbestimmt werden. Hierzu zählen etwa Mehrheits-Minderheits-Konstellationen in den Herkunftsländern, erloschene Rückkehrhoffnungen, die Sozialstruktur der Mitglieder sowie öffentliche Diskurse über verschiedene religiöse Traditionen. Die durch RMO erbrachten Dienstleistungen sind häufig nur in geringem Maße strukturiert und in der Regel binnenorientiert. Gleichzeitig sind die zivilgesellschaftlichen Potentiale von RMO nur begrenzt steuerbar, da sie starken Eigendynamiken unterliegen. Die aktuelle Fluchtzuwanderung lässt sich dabei als Chance zur weiteren Professionalisierung der Angebote von RMO begreifen. Ansatzpunkte dafür wären etwa interreligiöse und interkulturelle Qualifizierungsmaßnahmen für Ehrenamtliche und Gemeindevorsteher.
Abstract
Religious communities often have a charitable impetus which transcends a narrow sense of membership. Consequently, the involvement of religious communities in the public welfare production is a frequent issue of discussion. Religious pluralization caused by migration or by the occurrence of new religious movements may lead to a diversification of social services yielded by religious communities. The article investigates the civic potentials of religious migrant organizations (RMO) in order to challenge the deficit oriented focus on RMO in existing migration research. Departing from some conceptual considerations about the civic potentials of RMO, there will be presented selected results from a collaborative research project on the internal and external networks of RMO. The results indicate that all RMO in the sample offer social services. The provision of these services is related to a bundle of group characteristics, such as being part of an “experienced minority” in the country of origin, aspirations of return, social, demographic and economic structures and public discourses about different religious traditions. Moreover, the social services provided by RMO are usually less formalized and introverted. Against this background, actual processes of refuge immigration constitute a chance for the further professionalization of social service provision through RMO. In this regard interreligious and intercultural measures of qualification for volunteers and community leaders might be a fruitful point of departure.
Notes
Eine Fatwa ist ein Gutachten zur korrekten religiösen Lebensführung auf der Grundlage von Koran und Sunna (Überlieferung). Geläufig ist auch die Bezeichnung als Rechtsgutachten, wobei allerdings die Geltung einer Fatwa einzig auf der Autorität des entsprechenden Religionsgelehrten beruht.
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Nagel, AK. Religiöse Migrantenorganisationen als soziale Dienstleister. Soz Passagen 8, 81–97 (2016). https://doi.org/10.1007/s12592-016-0226-1
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DOI: https://doi.org/10.1007/s12592-016-0226-1
Schlüsselwörter
- Religiöse Migrantenorganisationen
- Zivilgesellschaft
- Migration
- Soziale Dienste
- Potentialorientierung
- Integration
- Wohlfahrtsproduktion