1 Einleitung

Die politikwissenschaftliche Forschung zum Zusammenhang von Internetentwicklung und Demokratie ist gekennzeichnet durch mindestens zwei übergeordnete fortschrittsoptimistische Annahmen sowie deren Kritik und Infragestellung.Footnote 1 Zum Ersten betont die transnationale Hypothese die Qualität des Internets als eines Mediums globalen Zuschnitts, das durch die Möglichkeitsbedingungen seiner technischen Architektur sowie die dynamisch beförderte kulturelle Globalisierung eine Transnationalisierung gesellschaftlicher Prozesse und somit auch politischer Öffentlichkeiten herbeiführen könne. Zum Zweiten erwartet eine partizipatorische Hypothese, dass die Internetkommunikation geeignet sei, den demokratischen Bürger zu ertüchtigen und ihm eine unmittelbare Beteiligung an demokratischen Entscheidungsfindungsprozessen im Sinne einer direkten oder starken Demokratie (Barber 1994) zu ermöglichen.

Die vorliegende Studie untersucht die beiden grundlegenden Annahmen am Beispiel der Online-Kommunikation im sozialen Netzwerk Twitter zu zwei Politikfeldern von internationaler Relevanz, nämlich Netzpolitik (Netzneutralität) und Umweltpolitik (Klimawandel). Die Politikfelder sind so gewählt, dass sie sich sowohl hinsichtlich ihres Regelungsgegenstands als auch der Governance-Strukturen deutlich unterscheiden. Aus unterschiedlichen Gründen bieten beide jedoch Transnationalisierungspotential: Netzneutralität ist ein Kernanliegen der transnational vernetzten Nutzergemeinschaften, der Klimawandel ist eine klassische globalisierte Agenda. Welches Ausmaß und welche Muster von Transnationalisierung zeigen die politikfeldspezifischen Ausschnitte der Twitter-Kommunikation? Wird eine Öffnung der politischen Auseinandersetzung für Ad-hoc-Gruppierungen und Aktivisten erkennbar oder behalten die klassischen Politikakteure und medialen Gatekeeper die Oberhand? Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede weisen die Politikfelder hinsichtlich beider Aspekte auf? Um diese Fragen zu beantworten, werden die Beteiligungs- und Netzwerkstrukturen der zentralen Hashtags #NetNeutrality und #ClimateChange vergleichend analysiert. Dabei setzen wir komplementäre Verfahren ein: Zum einen analysieren wir die Twitter-Kommunikation hinsichtlich der Geolokation der beteiligten Nutzer. Zum anderen führen wir Netzwerkanalysen durch, um die politikfeldspezifische Relevanz verschiedener Gruppen wie z. B. klassischer Akteure der repräsentativen Demokratie, medialer Gatekeeper, Interessengruppen oder individueller Aktivisten bewerten zu können. Die Ergebnisse lassen eine Transnationalisierung von Twitter-Kommunikation erkennen, deren Ausprägung allerdings an politikfeldspezifische Charakteristika gebunden ist. Eine weitreichende Egalisierung politischer Beteiligung im Sinne der Demokratisierungsannahme ist hingegen nicht festzustellen, da die klassischen medialen und politischen Gatekeeper in den themengebundenen Twitter-Netzwerken weiterhin eine zentrale Rolle einnehmen.

Im folgenden Abschnitt geben wir zunächst einen Überblick über die theoretische Literatur zum Spannungsverhältnis von Globalisierung und Demokratie sowie relevante empirische Studien zur Twitter-Kommunikation. Aus beiden Forschungssträngen leiten wir ein beträchtliches Desiderat ab, den potentiellen Transnationalisierungs- und Demokratisierungswirkungen politischer Online-Kommunikation durch ein systematisches Verfahren nachzugehen. In Abschn. 3 begründen wir unsere Fallauswahl für die vergleichende Studie, formulieren Erwartungen und erläutern das methodische Vorgehen der Untersuchung. Abschn. 4 präsentiert und diskutiert die Analyseergebnisse, bevor abschließend in Abschn. 5 die Erkenntnisse und Überlegungen zusammengefasst werden.

2 Forschungsstand und Theorie

Die Begriffe Transnationalisierung und transnational dienen nicht allein der Beschreibung empirischer Phänomene,Footnote 2 sondern sie haben hinsichtlich der Demokratieentwicklung eine stark normative Bedeutung. Dies kann nur verstehen, wer sich einen Überblick über die politiktheoretische Literatur zum Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Globalisierung bzw. Internationalisierung verschafft. Tatsächlich geht ein Großteil demokratietheoretischer Schriften von einem prekären Verhältnis von Globalisierung bzw. Internationalisierung und Demokratie aus, ja von einer Gefährdung demokratischer Ordnung durch Globalisierungsprozesse (Guéhenno 1996; Habermas 1998; Held 1997). Aus dieser Perspektive stehen die zu untersuchenden empirischen Phänomene geradezu im Widerspruch zueinander, zumindest in einem Verhältnis der Herausforderung des einen durch das andere. Demgegenüber wird gerade im Begriff der Transnationalisierung aber auch eine andere Position zum Ausdruck gebracht, die beide Dimensionen gewissermaßen lösungsorientiert verknüpft, indem, von der beschriebenen Gefährdungslage der Demokratie ausgehend, die normative Erwartung einer Transnationalisierung demokratischer Teilhabe formuliert und diese als Ausweg oder Remedur begrüßt wird, mithin geradezu als Antwort auf die von Held formulierte Schlüsselfrage:

In the context of trends towards regionalization, European integration, fundamental transformations in the global economy, mass communications and information technology, how can democracy be sustained? […] How can citizens participate as citizens in a new, more complex, internationally organized world? (Held 1997, S. 251; Dryzek 2000, S. 115; siehe auch Kielmansegg 2013, S. 236)

2.1 Das prekäre Verhältnis von Globalisierung und Demokratie

Wenden wir uns zunächst der skeptischen Perspektive zu, dann ist die Frage zu stellen, worin die angenommene Herausforderung, die zu überwindende Spannung besteht? Die in modernen Nationalstaaten verwirklichte demokratische Herrschaftsordnung werde durch die in einer vernetzten und interdependenten Staatenwelt erzwungene Öffnung und Relativierung territorialer Räume herausgefordert, ja geradezu gefährdet und ausgehöhlt. Jede normative Verwendung des Begriffspaars Transnationalisierung/transnational impliziert im Grunde ex negativo die als mehr oder weniger unauflösbar betrachtete Symbiose von Demokratie und Nationalstaat, die den skeptischen Blick auf nichtstaatliche Formen der Demokratie prägt. Die Verbindung demokratischer Herrschaft mit nationalstaatlicher Ordnung wird überdeutlich etwa in dem Buch von Jean-Marie Guéhenno (1996), das bezeichnenderweise mit dem „Ende der Demokratie“ betitelt ist, obwohl es eigentlich um das prophezeite Ende des Nationalstaats geht (Guéhenno, S. 10).Footnote 3 Auch laut Jürgen Habermas zählt „die politische Integration der Bürger einer großräumigen Gesellschaft zu den unumstrittenen historischen Leistungen des Nationalstaates“ (Habermas 1998, S. 110; Dryzek 2000, S. 115; vgl. Guéhenno 1996, S. 75).Footnote 4 Und in dem Maße, in dem die Staatsgrenzen durch Globalisierungsphänomene „porös“ würden und diese ein „Regieren jenseits des Nationalstaates“ (Zürn 1998) erforderten, sei die so genannte postnationale Konstellation geradezu notwendig mit einer Sorge um die Idee demokratischer Selbstgesetzgebung verbunden, die „bisher nur im nationalen Rahmen glaubwürdig implementiert worden ist“ (Habermas 1998, S. 95).

Es ist plausibel und weitgehender Konsens in der wissenschaftlichen Debatte, dass die politische Integrationsleistung des Nationalstaates durch grenzüberschreitende Phänomene in einer globalisierten Welt, also durch Prozesse der ökonomischen, politischen und kulturellen Verflechtung, zumindest herausgefordert wird:

Die menschliche Gemeinschaft ist zu groß geworden, um noch ein politisches Gemeinwesen zu bilden. Die Bürger stellen immer weniger eine Gesamtheit dar, in der kollektive Souveränität zum Ausdruck kommen könnte; sie sind lediglich juristische Personen mit Rechten und Pflichten, sie befinden sich in einem abstrakten Raum mit zunehmend ungewissen territorialen Grenzen (Guéhenno 1996, S. 13; vgl. auch Kielmansegg 2013, S. 248).

In Abgrenzung zu übertriebenen AuflösungserwartungenFootnote 5 gibt es jedoch gute Argumente für den Fortbestand des Nationalstaates als maßgebliche Organisationsform unterschiedlicher Gesellschaften (Held 1997, S. 252–253). Für die Demokratien ist das nicht zuletzt die erfolgreiche Selbstorganisation der Bürger. Demgegenüber zeigen die bereits etablierten Formen eines Regierens jenseits des Nationalstaates mehr oder weniger eklatante Schwächen im Bereich der Legitimität (Dryzek 2000, S. 116). Sie können zwar ggf. durch ein effektives politisches Management auf internationaler und globaler Ebene ein erhebliches Maß an Output-Legitimität erlangen. Auf der Input-Seite zeigen sie indes Defizite (Scharpf 1999). Das Auseinanderfallen der Räume der Politikkoordination, der Entscheidungsfindung auf der einen Seite und der Meinungsbildung in nationalen politischen Öffentlichkeiten auf der anderen erscheint problematisch.

Demgegenüber definiert und integriert der Nationalstaat eine politische Primärgemeinschaft als Nation, auf die sich der demokratische Anspruch der Selbstgesetzgebung beziehen kann. Diese sozialen Konstruktionen haben sich zudem durch nationalstaatlich institutionalisierte und fragmentierte Mediensysteme als imagined communities (Anderson 2006), Kommunikations- (Kielmansegg 2003, S. 58; 2013, S. 253) oder Diskursgemeinschaften (Schünemann 2014, S. 70, 104) strukturell verfestigt und stabilisiert. Erst in dem Maße, in dem diese Gemeinschaften mit den tatsächlichen Schicksalsgemeinschaften (welt-)politischer Ereignisse (im Sinne von „overlapping communities of fate“, Held 1997, S. 264) – oder auch nur medial erreichten Aufmerksamkeitsgemeinschaften („communities of sentiment“, Appadurai 2010, S. 6) – nicht mehr zusammenpassen, ist eine Erosion nationaler Gesellschaften zu erwarten. Mit Pries (2010, S. 10) ist es zwar nicht als wahrscheinlich anzusehen, dass es zu einer Auflösung der Nationalstaaten kommt, es bilden sich aber sehr wohl neue Sozialräume heraus, die die bestehenden Gemeinschaften relativieren. Mit derartigen Entwicklungsszenarien beschäftigt sich seit langem schon die Europaforschung in intensiv geführten Debatten. Sie bewegten und bewegen sich im Wesentlichen zwischen den Polen euphorischer Visionen europäischer Demokratie und der so genannten No-Demos-These (Kielmansegg 2003; 2013, S. 255). Auch der Blick auf die internetgetriebene Globalisierung scheint durch bipolare Szenarien geprägt.

2.2 Internettechnologien als Katalysator von Transnationalisierung und Demokratisierung

Neben der skeptischen findet sich auch eine optimistische Perspektive auf das Verhältnis von Internet und Demokratie, die von denselben Globalisierungs- und Integrationsphänomenen ausgeht. Denn sowohl auf der Suche nach einer europäischen Öffentlichkeit, als auch im Hinblick auf die weiterführende Integration zu einer Weltöffentlichkeit: Dem Internet wird aufgrund seines Transnationalisierungspotentials und der entsprechenden -wirkung eine potentiell große Rolle bei dieser Transformation zugeschrieben.

Das Internet ist in Architektur und Ambition global oder transnational angelegt. Die so genannte Internetrevolution hat Globalisierungsprozesse substanziell verstärkt und dynamisch beschleunigt. Es verwundert deshalb nicht, dass mit dem Aufkommen des Internets als Massenmedium Abgesänge auf den Nationalstaat einhergingen. Effektvoll wurde dies etwa in der „Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace“ von John Perry Barlow (1996) zum Ausdruck gebracht:

Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather.

Tatsächlich bilden sich, ähnlich wie von Barlow pathetisch formuliert, neue mediale Konsumgewohnheiten heraus und vor allem alternative Sozialräume, welche nicht mehr auf raum-zeitliche Kopräsenz im materiellen Raum angewiesen sind, um eine soziale Umwelt, etwa im Sinne von Alfred Schütz (1993, S. 202; vgl. Guéhenno 1996, S. 78; Held 1997, S. 253; Pries 2010, S. 160), zu bieten. Die Internetentwicklung befördert die „Entgrenzung“ und „Ortlosigkeit“ sozialer Praktiken und Kommunikation (Kneuer 2013b, S. 10).

Genau in diesen Entwicklungstendenzen wollen die optimistischen oder gar utopischen Stimmen zur Internetentwicklung aber gerade keine undemokratischen Tendenzen erkennen (kritisch: Hindman 2009; Morozov 2011; Thiel 2014). Vielmehr wurde und wird von politischer wie auch von wissenschaftlicher Seite große Hoffnung in die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien gelegt. Im Sinne des Net Empowerment und einer Networked Public Sphere prophezeit etwa Yochai Benkler:

The emergence of a new information environment, one in which individuals are free to take a more active role than was possible in the industrial information economy of the twentieth century. This new freedom holds great practical promise: as a dimension of individual freedom; as a platform for better democratic participation; as a medium to foster a more critical and self-reflective culture; and, in an increasingly information-dependent global economy, as a mechanism to achieve improvements in human development everywhere (Benkler 2006, S. 2; s. auch Siedschlag et al. 2001, S. 10).

Aus der optimistischen Perspektive scheint die Internetentwicklung also gerade zur umfassenden Heilung oder zumindest Linderung postdemokratischer Tendenzen beitragen zu können (Kneuer 2013a, S. 7), denn das Internet verspricht „völlig neue Chancen der Selbstorganisation der Bürgergesellschaft“ (Kielmansegg 2013, S. 262).

Dieses abstrakte Versprechen (Kneuer 2013a, S. 13) hat sich in mindestens drei Strängen formulierter Erwartungen konkretisiert. Zum einen setzten die Apologeten einer stärkeren Flankierung der repräsentativen Demokratie durch direktdemokratische Verfahren und mehr Bürgerbeteiligung früh auf die technischen Kommunikationsmittel im Computer- und dann im Internetzeitalter (Barber 1994). Daneben trat ein zweiter Strang euphorischer Erwartungen hervor, der sich weniger in Form verfassungsrechtlicher Reformprogramme äußerte als in der Annahme einer Herausforderung der elitengesteuerten Institutionen repräsentativer Demokratie (Benkler 2006; Shirky 2008). Klassische Politakteure und mediale Gatekeeper würden künftig von jedermann, von den Grassroots oder Netroots vernetzter Gesellschaften infrage gestellt, ja potentiell ersetzt (Bruns 2009; Shirky 2008; vgl. kritisch Hindman 2009, S. 102; Schünemann 2012). Hindman fasst die Hoffnungen dieses „Myth of Digital Democracy“ wie folgt zusammen: „The Internet’s most important political impacts come from the elimination of ‚old media‘ gatekeepers“ (Hindman 2009, S. 12). Zuletzt hat ein dritter Strang die euphorischen Annahmen in ein nach außen gerichtetes Demokratisierungsszenario übersetzt und in Internettechnologien eine Herausforderung für autokratische Regime sehen wollen (Diamond 2010; Howard und Hussain 2011).

2.3 Vermittelnde Position und Leitfragen

Was bleibt von den drei Strängen übrig, wenn man die euphorischen Erwartungen durch eine nüchterne Betrachtung ersetzt? Das Internet hat mit Blick auf die Opportunitätsstrukturen transnationaler Politik- und Demokratieformen zweifellos dazu beigetragen, dass die Vernetzung einer Weltgesellschaft heute zumindest aus technisch-infrastruktureller Sicht möglich erscheint. Zudem könnte die kulturelle Globalisierung, also die globale Diffusion von Werten und Normen, basierend auf und ergänzt durch die Nutzung des Englischen als Weltverkehrssprache (Held 1997, S. 257), zur soziokulturellen Integration beitragen, die von den hartnäckigen Skeptikern als Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie formuliert wird (No demos). Gerade soziale Medien oder Netzwerke, die für die zweite Phase der Internetentwicklung so prägend sind, tragen das Versprechen auf eine soziale Integrationsleistung (theoretisch auch jenseits von Staatlichkeit) bereits in ihrer Bezeichnung. Sie könnten den Verlust kommunikativen Zusammenhalts sich in transnationaler Kommunikation zerfasernder Nationalgesellschaften im virtuellen Raum kompensieren. Innergesellschaftlich bieten sie zunächst einmal neue Beteiligungsmöglichkeiten und können eine „wichtige Rolle bei der Organisation und Mobilisierung von Kampagnen und Protesten“ (Kneuer 2013a, S. 14) spielen. Zudem werden die sozialen Medien auch genannt, wenn an die Relativierung klassischer Massenmedien und ihrer Gatekeeper-Funktion für die politische Öffentlichkeit gedacht wird (dazu kritisch Sarcinelli 2014, S. 334). Da ihr Vernetzungsangebot schließlich in der Regel transnational ausgerichtet ist und funktioniert, bieten sie in mehrerer Hinsicht das technische Dispositiv, um virtuelle Sozialräume jenseits der Nationalgesellschaft und transnationale Diskursräume zu etablieren (Knaut 2012; Knaut und Keller 2012).

Mit der Twitter-Kommunikation greift sich die Studie bewusst das soziale Netzwerk heraus, das in besonderem Maße für eine erhöhte politische Beteiligungskultur und eine Diversifizierung der Medienakteurslandschaft steht, denn Twitter dient neben der sozialen Vernetzung auch Nachrichten- und Informierungsfunktionen. Kwak et al. (2010) zeigten, dass Sender-Empfänger-Beziehungen auf Twitter in geringerer Prozentzahl reziprok sind, als es typischerweise in sozialen Netzwerken der Fall ist, und dass auch Nutzer mit einer vergleichsweise geringen Zahl an Followern über Retweets eine hohe Reichweite aufweisen können, wenn ihre Beiträge als thematisch relevant wahrgenommen werden und damit rasch diffundieren. So stellt Twitter zum einen ein funktionales Äquivalent zu klassischen Nachrichten- und Informationsmedien dar, zum anderen bietet es ein in besonderem Maße begünstigendes infrastrukturelles Umfeld für transnationale Vernetzungsprozesse.Footnote 6

Diese Funktionszuschreibung berechtigt nicht ohne Weiteres zu hochtrabenden Erwartungen. Kritische Untersuchungen der Auswirkungen des Internets im Allgemeinen und sozialer Medien im Besonderen auf die Demokratieentwicklung haben bereits viele Enttäuschungen zu Tage gefördert. Wird partizipativen Anstrengungen generell die paradoxe empirische Beobachtung entgegen gehalten, dass die neuen Verfahren und Mechanismen die Selektionseffekte in der tatsächlichen Beteiligung noch einmal erheblich verstärkten, so trifft das für die Partizipation über das Internet noch in gesteigertem Maße zu (Reinforcement-These, Davis 1999; Siedschlag et al. 2001, S. 13). Empirische Befunde offenbarten vor allem ein partizipatorisches Desinteresse seitens der Internetnutzer, während etablierte politische Akteure das Internet in ihre bewährten Kommunikationsstrategien integrierten. Die politische Nutzung des Internets „normalisiert“ sich, so dass „politics as usual“ im Netz zu beobachten sei (Margolis und Resnick 2000).

Euphorische Erwartungen werden weiterhin gedämpft durch Beiträge, die die angeblich niedrigere Partizipationsqualität zum Thema haben. Online-Partizipation sei demnach kurzlebig, emotional erregt und reduziere sich auf vergleichsweise oberflächlichen Slacktivism. Sie sei nicht einfach mit politischer Beteiligung gleichzusetzen, auch wenn es sich um im weitesten Sinne politische Inhalte handelt, die online konsumiert werden (vgl. Salzborn 2012, S. 113; Kneuer 2013a, b; Kneuer und Richter 2015, S. 200; Sarcinelli 2014).

Die im Folgenden präsentierte Analyse politischer Twitter-Kommunikation lässt die Dimension der Partizipationsqualität indes außer Acht und wählt eine weniger anspruchsvolle Definition politischer Beteiligung. Sie orientiert sich an einem Minimalverständnis politischer Teilhabe (siehe Abschn. 2.4), auf dessen Basis Transnationalisierung und Partizipation gemessen werden. Damit geht es bei den zu erfassenden Phänomenen Transnationalisierung und Demokratisierung zunächst einmal ausschließlich um zwei Erweiterungsformen politischer Beteiligung: zum einen nämlich auf der Makroebene um eine Erweiterung der Kommunikationsgemeinschaft über nationale Grenzen hinweg sowie innerhalb eines demokratisch verfassten Systems, gleichsam auf der Mikroebene, um eine Ausweitung der Beteiligungsstrukturen auf neue Akteure und eine breitere Öffentlichkeit. Auf Basis dieses Grundverständnisses formulieren wir die folgenden Leitfragen:

  1. 1.

    Inwieweit kommt es in der politischen Online-Kommunikation zu einer Transnationalisierung oder zumindest einer transnationalen Vernetzung politischer Öffentlichkeit?

  2. 2.

    Wie stellt sich die Netzwerkstruktur hinsichtlich der beteiligten Akteure dar (klassische mediale Gatekeeper vs. Enthierarchisierung/Öffnung)?

  3. 3.

    Welche Variationen zeigen sich zwischen den untersuchten Politikfeldern/Themen? Wie lassen sich diese erklären?

2.4 Empirische Annäherungen

Der vorangegangene Überblick über die Literatur zum Verhältnis von Transnationalisierung und Demokratie zeigt, dass es an theoretischen Entwürfen nicht mangelt. Demgegenüber lassen sich kaum empirische Studien finden, die die unterstellten oder tatsächlichen Transnationalisierungstendenzen politischer Kommunikation in den Blick nehmen (Ausnahme: Kneuer und Richter 2015). Während die sozialwissenschaftliche Analyse von Twitter-Kommunikation in den vergangenen Jahren eine dynamische Entwicklung genommen hat, konzentriert sich die überwiegende Zahl an Beiträgen auf Wahlkämpfe oder politische Ereignisse in nationalen Kontexten (vgl. den Überblick in Jungherr 2014). Zunehmend erscheinen auch Studien, die Nutzungsmuster oder Protestnetzwerke im Ländervergleich betrachten (u. a. Barberá 2014a; Lotan et al. 2011; Theocharis et al. 2015). Bereits hierin wurde auf transnationale Diffusionsprozesse geschlossen, plausibilisiert etwa durch die hohe Übereinstimmung der Nutzer in Twitter-Netzwerken zu den ägyptischen und tunesischen Revolutionen (Lotan et al. 2011) oder die Involvierung von Akteuren der spanischen Indignados-Bewegung in einem Twitter-Netzwerk zu den Anti-Austeritätsprotesten in Griechenland (Theocharis 2016). Dies geschah jedoch jeweils nicht auf Basis einer systematischen Prüfung der Transnationalisierungshypothese. Demgegenüber wurde die Frage der Transformation politischer Öffentlichkeiten durch die Online-Kommunikation (im Sinne des Net Empowerment) in einigen Studien gründlicher untersucht, allerdings mit uneinheitlichen Ergebnissen (ausführlich: Boulianne 2015; Jungherr 2014). Insgesamt ist festzuhalten, dass die bisherige Forschung in ihrer territorialen Reichweite innerhalb nationalstaatlicher Grenzen oder in vergleichenden Designs einem methodologischen Nationalismus von vornherein verhaftet geblieben ist.

Diese Tendenz verwundert nicht angesichts der methodischen Schwierigkeiten, die mit der Untersuchung von Kommunikation in sozialen Medien im Allgemeinen (Boyd und Crawford 2012; Jungherr 2014; Ruths und Pfeffer 2014; vgl. Abschn. 3.3) und von grenzüberschreitendem Online-Aktivismus im Speziellen verbunden sind. Zwar erscheint angesichts transnationaler Vernetzungsphänomene im Internet eine Reduktion auf die Weltverkehrssprache und Lingua Franca des Internets Englisch zunächst plausibel und gerechtfertigt. Tatsächlich wird auch in nicht-angloamerikanischen Ländern ein beträchtlicher Teil der Tweets auf Englisch abgesendet (Mocanu et al. 2013). Aber diese grundlegende Auswahl relevanter Twitter-Kommunikation über global präsente und in der Regel englischsprachige Hashtags bedeutet bereits eine Auswahlentscheidung, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt werden muss.

Zudem ist hinsichtlich der Partizipationshypothese anzunehmen, dass sich unsere Analyse noch exklusiver als die Forschung im nationalen Rahmen auf netzaffine, kosmopolitische Teilöffentlichkeiten bezieht. Zumindest legt etwa Hindmans Studie zur politischen Kommunikation über Blogs in den USA eine solche Erwartung nahe. Denn darin konnte bereits eine klare Konstanz der Möglichkeitsbedingungen und Wirklichkeiten politischer Teilhabe im Internetzeitalter nachgewiesen werden:

The unmistakable conclusion is that almost all the bloggers in the sample are elites of one sort or another. […] A hugely disproportionate number of bloggers are lawyers or professors. Many are members of the elite media that the blogosphere so often criticizes […] In the blogosphere, as in the Athenian agora, those who devote themselves to public debates are those with social autonomy (Hindman 2009, S. 123–124).

Der vorliegenden Studie liegt vor dem Hintergrund dieser hohen individuellen Beteiligungshürden und -voraussetzungen ein breites Verständnis von Partizipation zugrunde. Die Nutzung eines Hashtags, die Nennung eines Nutzers oder ein Retweet sind niedrigschwellige politische Betätigungen. Kritiker degradieren digitale politische Partizipationsformen daher zum Slacktivism, der in der realen Welt wesentlich ineffektiver sei als analoge Beteiligungsformate (Morozov 2011; Kneuer und Richter 2015, S. 186). Die Kommunikationsforschung hat allerdings auch gezeigt, dass über elitäre Meinungsführer mobilisierende Effekte entstehen können („Two-Step-Flow“-Prozesse; Katz und Lazarsfeld 1955). Zentrale Akteure in Netzwerken erreichen mit ihrem politischen Aktivismus eine große Zahl an Followern und wirken dadurch als intermediäre Bindeglieder zwischen Bürgern, Medien und politischen Entscheidungsträgern. Mehrere Studien konnten die Theorie von Lazarsfeld et al. für die Online-Kommunikation bestätigen (Choi 2014; Norris und Curtice 2008). Im Hinblick auf die Partizipationsgrade ergab eine kombinierte Analyse von Twitter- und Survey-Daten von Vaccari et al. (2015), dass politische Aktivitäten in sozialen Medien mit höherschwelligen Beteiligungsformen, wie z. B. der Teilnahme an Offline-Veranstaltungen, einhergehen. Die Autoren argumentieren in kausalanalytischer Hinsicht umsichtig, konstatieren dennoch:

The health of democracies depends, among other things, on citizens’ political participation. Our findings suggest that access to political information and the opportunity for self-expression on social media contribute to these qualities rather than endangering them (Vaccari et al. 2015: 13).

Dementsprechend sind von diskursiven Vernetzungsprozessen sowohl direkte als auch diffuse Wirkungen auf Verhandlungskonstellationen zu transnationalen Problemstellungen sowie Interaktionsprozesse mit nationalen politischen Debatten zu erwarten. Als empirische Vergleichsgegenstände unserer Untersuchung wählen wir die Twitter-Kommunikation zu zwei Politikfeldern von globalem Interesse, Netzneutralität und Klimawandel.

3 Fallauswahl und Forschungsdesign

3.1 Fallauswahl: Transnationaler Aktivismus in zwei Politikfeldern

Die ausgewählten Politikfelder sind zunächst einmal sehr unterschiedlich. Zwar lässt sich mit Goldsmith und Wu (2006, S. vii) eine gewisse Ähnlichkeit über die diskursiven Strategien der jeweiligen Aktivisten sowie den Gehalt ihrer Forderungen an die (in diesem Fall amerikanische) Regierung beobachten/konstruieren: Ähnlich der Umweltbewegung verlangt auch die Netzneutralitätsbewegung von nationalstaatlichen Regierungen, „to protect the original, unpredictable, and uncontrolled nature of the Internet“. Dennoch ist vor allem eine Divergenz der Politikfelder festzustellen, sowohl thematisch als auch hinsichtlich der politischen Auseinandersetzungsformen und Governance-Strukturen. Netzneutralität ist eine der dominierenden netzpolitischen Kernfragen mit entsprechendem Mobilisierungspotential der transnationalen Netzgemeinde. Klimawandel kann als paradigmatischer Fall einer grenzüberschreitenden Herausforderung mit kontinuierlich hoher Mobilisierung transnational operierender, institutionalisierter Akteure angesehen werden. Im Folgenden werden die Politikfelder und ihre transnationale Dimension erläutert.

3.1.1 Netzneutralität

Netzneutralität ist ein netzpolitisches Kernthema, das in vielen Staaten der entwickelten Welt zu einem Gegenstand der politischen Auseinandersetzung geworden ist. Insbesondere die transnational vernetzte Gemeinde der Netizens sieht in solchen Geschäftsmodellen der Telekommunikationsunternehmen, die auf unterschiedlichen Transportgeschwindigkeiten für verschiedene Inhalte basieren, einen Angriff auf die ursprüngliche Idee des Internets. Sie fordert ein durch nationale oder internationale Intervention abgesichertes Bekenntnis zur prinzipiellen Gleichbehandlung von Datenpaketen bei der Übertragung im Netz und das Verbot von Zero-Rating-Diensten, die einige Anbieter gegenüber ihren Wettbewerbern bevorteilen. Das Prinzip der Netzneutralität und seine wahrgenommene Gefährdung durch Unternehmen rühren damit an das freiheitliche Selbstverständnis der Netizens. Als ähnliches Beispiel aus der Vergangenheit kann die massive Mobilisierung der Netzgemeinde gegen das international ausgehandelte Urheberrechtsabkommen ACTA gelten. Nach jahrelangen Verhandlungen und am Ende eines internationalen Entscheidungsprozesses führte der wirksam artikulierte Widerstand der transnational vernetzten Nutzergruppen zu einer bemerkenswerten politischen Kehrtwende (Dür und Mateo 2014; Kneuer 2013a, S. 7).

Demgegenüber erhält die Bewegung zugunsten der Netzneutralität offene Unterstützung durch verschiedene Regierungen, so auch durch die US-amerikanische, die auf netzpolitischem Terrain nicht allein dem Selbstverständnis nach international eine klare Führungsrolle spielt und sich immer wieder als Verteidigerin eines freien Internets inszeniert und versteht. Auch in diesem Feld haben die US-amerikanische Rechtsetzung und speziell die mit Spannung erwartete Regulierung der Aufsichtsbehörde FCC (Federal Communications Commission) 2015 also zwangsläufig eine Vorbildfunktion für die weltweite Regulierung des Politikfelds.

Gleichwohl ist klarzustellen, dass sich dieser Aspekt der Regulierung des Datenverkehrs zwischen Internetserviceprovidern und -nutzern durchaus national vornehmen und durchsetzen lässt, Netzneutralität also im Gegensatz zu anderen netzpolitischen Problemen sowie insbesondere den Herausforderungen des Klimawandels nicht zwingend grenzüberschreitende Regelungen erfordert. Dennoch wird die grundsätzliche Regulierungsfrage in einer Vielzahl von Ländern parallel gestellt und gelangt regelmäßig in deren tagespolitische Debatten. Im EU-Binnenmarkt liegt die Regulierungskompetenz in diesem Bereich sogar auf der supranationalen Ebene. Hier ist die Netzneutralität zu einem institutionellen Streitpunkt geworden, nachdem sich das EU-Parlament nach einer stringenten Kampagne europäischer digitaler Bürgerrechtsorganisationen klar für die Netzneutralität ausgesprochen hatte. Der EU-Rat präsentierte im März 2015 eine abweichende Position, die die Interessen der europäischen Internetprovider deutlich stärker berücksichtigt.

3.1.2 Klimawandel

Umweltkatastrophen und umweltpolitische Probleme, ob natürlich oder menschenverursacht/-begünstigt, zählen traditionell zu den klarsten Phänomenen, die sich durch eine globalisierte Wirkung auszeichnen und einen transnationalen Steuerungsbedarf induzieren (vgl. Pries 2010).

Contemporary environmental problems are perhaps the clearest and starkest examples of the global shift in human organization and activity, creating some of the most fundamental pressures on the efficacy of the nation-state and of state-centric politics (Held 1997, S. 258).

Die Umweltbewegung hat sich zudem mithilfe global wirksamer Medienereignisse konstituiert und „stand auch an vorderster Front beim Einsatz der neuen Informationstechnologien als Werkzeuge zur Organisation und Mobilisierung und vor allem bei der Nutzung des Internet“ (Castells 2002, S. 141).

Das Problemfeld Klimawandel und Klimapolitik überführt die weithin akzeptierte Einsicht bezüglich der schädlichen Auswirkungen menschengemachter Umweltverschmutzung in eine weltpolitische Regulierungsbemühung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich vergleichsweise früh und insbesondere seit der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro auf globaler Ebene institutionalisierte Foren für dieses Regulierungsfeld etabliert haben. Damit zeichnet sich die internationale Klimapolitik sichtbar als klassische globalisierte Agenda aus. Sie eignet sich auch deshalb hervorragend als Vergleichsfall, weil sich hier schon früh für politische Stakeholder relevante transnationale Aktivitäten und Initiativen herausgebildet haben (Kielmansegg 2013, S. 257). Während zu Beginn die Unternehmensinteressen stärker vertreten waren, zeigte eine Betrachtung im Zeitverlauf, dass die Interessenvermittlung im Umfeld von globalen Klimakonferenzen mittlerweile ähnlich divers und institutionalisiert ist wie in nationalen Politikfeldern (Hanegraaff 2015).

3.2 Erwartungen und Variation

Welche strukturellen und erklärungsbedürftigen Variationen der Twitter-Kommunikation zu den beiden Problemfeldern sind zu erwarten? Und welche Schlüsse lassen sich daraus im Hinblick auf die oben angestellten theoretischen Überlegungen ziehen? Mit Blick auf die Demokratisierungsannahme können wir für beide Fälle im Anschluss an das zentrale Demokratisierungsversprechen der Internetentwicklung annehmen, dass die Offenheit und Zugänglichkeit des Twitter-Netzwerks eine Relativierung der klassischen politischen Repräsentationsinstanzen und medialen Gatekeeper zugunsten von zivilgesellschaftlichen Gruppen und einzelnen Aktivisten erlauben. Ferner kann anschließend an frühere Studien erwartet werden, dass sich Internetnutzer insbesondere dann politisch betätigen, wenn selbstreferentielle Nutzungsfragen auf der politischen Agenda stehen. Beispiele hierfür sind der Online-Aktivismus gegen das Zugangserschwerungsgesetz der damaligen Bundesfamilienministerin von der Leyen oder der weltweite Aktivismus gegen das Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen ACTA. Damit könnte im Hinblick auf die Transnationalisierungsannahme eine grenzübergreifende politische Online-Vernetzung vor allem dann entstehen, wenn die Regulierung des Kommunikationsraumes Internet und deren Kernfrage Netzneutralität zur Debatte stehen. Dementgegen steht auf der anderen Seite die Annahme, dass es von der fortgeschrittenen Institutionalisierung einer politischen Teilöffentlichkeit und deren Netzwerkstrukturen abhängt, zu welchen Graden in der Online-Welt Transnationalisierung auftritt. Unter diesen Vorzeichen wäre ein deutlicherer Befund für den Klimawandel zu erwarten, denn dieses Problemfeld gehört aufgrund der internationalen Regulierungsnotwendigkeit zu den klassischen „globalisierten Agenden“ und genießt seit zwei Jahrzehnten große Aufmerksamkeit innerhalb demokratischer Öffentlichkeiten.

3.3 Methodisches Vorgehen

Für die automatisierte Datenerhebung dieser Studie wurden im Zeitraum von 14. Januar bis 6. März 2015 die Hashtags #NetNeutrality und #ClimateChange ausgelesen. Twitter-Hashtags als thematische Sammelbegriffe dienen „as a vehicle for otherwise unconnected participants to be able to join in a distributed conversation“ (Bruns und Burgess 2011, S. 49).Footnote 7 Mit Hilfe des R-Package streamR (Barberá 2014b) wurden die Metadaten und Inhalte von 884.729 Tweets und Retweets extrahiert, wovon anschließend 55 Prozent über den Geolokationsdienst DataScienceToolkit einem Land zugeordnet werden konnten.Footnote 8 Die Netzwerkanalysen wurden mit der Visualisierungssoftware Gephi durchgeführt.

Die Untersuchung von Twitter-Kommunikation unterliegt mehreren methodischen Vorbehalten (Boyd und Crawford 2012; Ruths und Pfeffer 2014). Zunächst variiert die Twitter-Nutzung zwischen Ländern. Während 2014 beispielsweise 23 Prozent der US-amerikanischen Online-Bevölkerung Twitter-Nutzer sind (Duggan et al. 2015), geben 9 Prozent der deutschen Onliner an, gelegentlich Twitter zu nutzen (van Eimeren und Frees 2014). Die Variation in der Mediennutzung, in der Bevölkerungsgröße und im englischen Sprachgebrauch wird von den Ergebnissen unserer Studie reflektiert. So ist eine Dominanz der angelsächsischen Länder, allen voran der USA, in der transnationalen Twitter-Kommunikation zu beobachten. Laut aktuellen Schätzungen des Konzerns stammen 23 Prozent der 302 Mio. aktiven Nutzer aus den USA (Twitter 2015). Selbstredend sind die Twitter-Population und deren Subgruppe der politisch aktiven Nutzer in keinem Fall mit der gesamtgesellschaftlichen Demographie gleichzusetzen oder repräsentieren diese in angemessener Weise, weder im globalen noch im innerstaatlichen Vergleich. Zudem unterliegen die präsentierten Ergebnisse gewissermaßen einem „Platform Bias“, denn Twitter stellt nur ein Soziales Netzwerk unter vielen dar. Ungeachtet dessen rücken die benannten Limitationen in unserer Analyse in den Hintergrund, da der Fokus auf dem Vergleich der Transnationalisierung zweier Politikfelder liegt und die medienbedingten strukturellen Rahmenbedingungen konstant gehalten werden.Footnote 9

4 Ergebnisse und Diskussion

4.1 Geolokationsanalysen und Muster internationaler Beteiligung

Zunächst wird die internationale Beteiligung in der Twitter-Kommunikation zu den beiden Politikfeldern untersucht. Als ersten Untersuchungsschritt zeigt Abb. 1 die globale Distribution der Tweets.

Abb. 1
figure 1

Geolokation von Tweets zu #NetNeutrality und #ClimateChange

76 % aller Tweets zu #NetNeutrality wurden aus den USA abgeschickt, während neben den etablierten Demokratien nur wenige weitere Länder eine Schwelle von 0,25 % der Tweets überschreiten. Netzneutralität wird vor allem von Bürgern hochentwickelter Staaten als relevantes politisches Thema wahrgenommen. Die internationale Verteilung im Klimawandel-Diskurs ist diverser. Zwar sind immer noch 47 % der Tweets US-amerikanischen Ursprungs, aber auch in den englischsprachigen Nationen Vereinigtes Königreich (UK), Kanada und Australien wird intensiv via Twitter über den Klimawandel diskutiert. Es partizipieren zudem Internetnutzer aus Ländern in Afrika (Kenia, Nigeria, und Südafrika), Asien und Südamerika, die teilweise bereits direkt vom Klimawandel betroffen sind.

An dieser Stelle zeigt sich bereits, dass die beiden Politikfelder, die weltweit einen Regulierungsbedarf aufzeigen, in ihrer Twitter-Kommunikation divergieren. Die dynamischen Entwicklungen in der US-amerikanischen Policy-Debatte in der Untersuchungsperiode stimulierten die Aktivität im #NetNeutrality-Sample. Am 4. Februar verkündete FCC-Chairman Tom Wheeler im Fachmagazin Wired und auf Twitter, sich in seinem Regulierungsvorschlag für das Prinzip der Netzneutralität einzusetzen. Schließlich verpflichtete die FCC die amerikanischen Internetprovider in ihrer Entscheidung am 26. Februar zur Einhaltung der Netzneutralität, was eine hohe Aktivität auf Twitter auslöste, auch getrieben durch die Massenmedien und Beiträge politischer Akteure wie Präsident Barack Obama.

Die Klimawandel-Debatte dagegen verbleibt überwiegend auf einem konstanten Niveau, da wenige tagesaktuelle politische Ereignisse mit großer Mobilisierungskraft in den Untersuchungszeitraum fielen. Dementsprechend liegt das Volumen an Tweets für #NetNeutrality um 32 % über der Gesamtzahl an Tweets zu #ClimateChange. Es ist zu erwarten, dass die Mengenverhältnisse und diskursiven Konstellationen in intensiven Phasen klimapolitischer Verhandlungen, z. B. während UN-Klimakonferenzen, deutlich abweichen. Insofern sind die Ergebnisse dieser Studie, wie die Untersuchung von Ad-hoc-Kommunikationsprozessen allgemein, von der Spezifikation des Untersuchungszeitraums abhängig.

Es lässt sich als Zwischenfazit festhalten, dass die politische Kommunikation über Twitter ungeachtet der US-amerikanischen Dominanz internationalisiert ist und Länder wie Kanada und Australien im #ClimateChange-Datensatz, gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße, sogar überrepräsentiert sind. Eine wesentliche Beschränkung stellen jedoch weiterhin sprachliche Demarkationslinien dar, so ist eine klare Dominanz der englischsprachigen Welt festzustellen. Die folgenden Netzwerkanalysen können Aufschluss geben über die verwandte Frage, ob die Hashtag-Communities nationalstaatliche Segregationstendenzen aufweisen. Zudem sollen sie beantworten, ob eine Egalisierung politischer Partizipation zu beobachten ist.

4.2 Netzwerkanalysen und differenzierte Transnationalisierungsbefunde

Abb. 2 zeigt die Ergebnisse der Netzwerkanalysen. Diese wurden aus Darstellungsgründen auf die 500 wichtigsten Akteure in beiden Netzwerken beschränkt.Footnote 10

Abb. 2
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Netzwerkanalysen zu #NetNeutrality und #ClimateChange

Das #NetNeutrality-Netzwerk ist geprägt von US-amerikanischen Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Medien. Die US-amerikanische Regulierungsdebatte wird abgebildet durch die Netzwerkzentralität der Regulierungsbehörde FCC und deren Chairman Tom Wheeler. Die politische Polarisierung des Themas spiegelt sich dadurch wider, dass sich zwei Lager herauskristallisieren, separiert nach Befürwortern (links) und Gegnern einer Regulierung des Datenverkehrs durch die FCC (rechts). Die Separierung des Netzwerks entsteht, da von den Beteiligten überwiegend Debattenteilnehmer aus dem eigenen Lager genannt oder deren Inhalte weitergeleitet werden. Von Seiten der Demokratischen Partei, progressiven NGOs und Inhaltsanbietern wie Mozilla, Tumblr oder Reddit wurde die Ansicht vertreten, dass die FCC im Sinne des Konsumentenschutzes und der digitalen Innovationsförderung befugt sei, den Telekommunikationsunternehmen Netzneutralität gesetzlich vorzuschreiben. Die Republikaner, Tea Party-Gruppierungen und die Internetserviceprovider argumentierten, dass eine solche Regulierung des Internets die Befugnisse einer staatlichen Regulierungsbehörde überschreite und einen illegitimen Markteingriff darstellen würde.Footnote 11 Der mittlere Bereich der Grafik wird hauptsächlich von Akteuren aus der Medienbranche besetzt, die von beiden Lagern regelmäßig zitiert und durch Weblinks verknüpft werden. Zu vermuten ist, dass die überraschende Positionierung der Internetserviceprovider Comcast und Verizon im linken Lager aufgrund zahlreicher negativer Bezugnahmen erfolgt, da sie als die zentralen Feindbilder von der Netzneutralitätsbewegung häufig erwähnt wurden.Footnote 12

Das Netzwerk zu #ClimateChange präsentiert sich homogener und weniger nach Konfliktlinien polarisiert. Die Bekämpfung des Klimawandels kann als Valence Issue bezeichnet werden, dessen Notwendigkeit unter den Diskussionsteilnehmern als weitgehend konsensual gelten kann. Transnational ausgerichtete NGOs und Institutionen mit einem technischen Fokus wie die NASA, die IAEA oder das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) dominieren die #ClimateChange-Debatte. Dies ist Ausdruck der niedrigeren Politisierung im Vergleich zu #NetNeutrality. Für die besondere transnationale Qualität von #ClimateChange spricht die große Präsenz von UN-Institutionen und der zugehörigen Community. Im Umfeld der Weltklimaverhandlungen gibt es ein regelmäßig interagierendes Akteurscluster, zu dem u. a. NGOs wie WWF und Greenpeace zählen, die über die Twitter-Öffentlichkeit auf die Interessenvermittlung in diesen Institutionen einzuwirken versuchen. Ihre Konzentration im rechten Teil des Netzwerks zeugt davon, dass innerhalb des Netzwerks verschiedene Debattenräume bestehen. Zudem sind zwei nationalstaatlich strukturierte Debattencluster an der Peripherie zu identifizieren. Eine Ballung von Akteuren aus dem Vereinigten Königreich findet sich rechts unten, ein Cluster US-amerikanischer Protagonisten links oben im Netzwerk.

Die visualisierten Ergebnisse stehen unter dem Vorbehalt der darstellungsbedingten Beschränkung auf die 500 aktivsten Nutzer des jeweiligen Hashtags sowie der großen Dominanz US-amerikanischer Aktivität. Um belastbare Erkenntnisse hinsichtlich der Transnationalisierungsfrage zu gewinnen, werden im Folgenden die Strukturen nationaler Debatten detaillierter betrachtet. Hierzu werden für sämtliche Nutzer ihre PageRanks innerhalb nationaler Netzwerke (nur Tweets aus Land X) und innerhalb des weltweiten Netzwerks (ohne die Tweets aus Land X) berechnet. Das „Matching“ der maximalen Zahl an Nutzern, die sowohl in nationalen als auch in weltweiten Netzwerken präsent sind, erlaubt den Vergleich von Akteurskonstellationen und Bezugspunkten in geographisch differenzierten Debattenräumen. Um diesen Prozess zu veranschaulichen, werden in Abb. 3 die beteiligten Nutzer aus USA und UK für beide Politikfelder betrachtet.

Auf der Y‑Achse sind die weltweiten Netzwerke, auf der X‑Achse auf Basis nationaler Daten berechnete Netzwerke berücksichtigt.Footnote 13 Bei #NetNeutrality zeigen die Netzwerke in beiden Ländern eine überaus hohe Übereinstimmung mit der Debatte im Gesamtnetzwerk (Korrelationen r = 0,98 für USA, r = 0,99 für UK). Britische Twitter-Nutzer adressieren also in gleichem Ausmaß die Akteure der US-Policy-Debatte, während keine britischen Akteure hohe PageRanks erreichen. Auffällig ist der hohe PageRank der FCC sowohl im US- als auch im UK-Netzwerk, abgetragen im Ausschnitt im rechten Teil der NetNeutrality-Grafiken. Demgegenüber zeigen sich bei #ClimateChange in beiden Nationen deutliche Abweichungen von den globalen Mustern.Footnote 14 Es finden sich jeweils Akteure aus dem politisch-medialen System mit erheblich zentralerer Stellung im nationalen als im weltweiten Netzwerk (lokalisiert zwischen Regressionsgerade und X‑Achse). Im #ClimateChange-Netzwerk korrelieren die nationalen und weltweiten PageRanks der „matched users“ mit Korrelationswerten von r = 0,65 im Falle der USA und r = 0,83 für UK.

Abb. 4 erweitert diesen Analyseschritt auf die weiteren topplatzierten Länder, gemessen an dem absoluten Tweet-Volumen. Hierbei zeigen sich durchweg hohe Korrelationen (r ≥ 0,8) zwischen nationalen und weltweiten #NetNeutrality-Debatten. Durch diesen Vergleich kann gezeigt werden, dass die Dominanz der USA in #NetNeutrality nicht nur durch die quantitative Überzahl an Tweets aus den USA zu erklären ist, sondern vor allem dadurch, dass sich auch die internationalen Nutzer auf die US-Debatte und deren zentralen Akteure beziehen. Weltweit werden die Akteure der amerikanischen Policy-Debatte als Referenzgrößen betrachtet, während etwa aus der europäischen Netzpolitik lediglich die Europaabgeordnete Marietje Schaake prominent anzufinden ist. Am stärksten weicht Indien ab, wo Verletzungen der Netzneutralität durch den Telekommunikationsanbieter Airtel thematisiert wurden. Die Aktualität des Themas in einem weiteren nationalen Politikraum führt offenbar zur Ausbildung eigener Schwerpunkte, so ist die FCC zwar auch in Indien der Akteur mit dem höchsten PageRank, darauf folgt aber der indische Minister für Kommunikation und Informationstechnologien Ravi Shankar Prasad.

Abb. 3
figure 3

Vergleich nationaler und weltweiter PageRanks (PR) in USA und UK

In der Klimawandel-Debatte zeichnet sich ein heterogenes Bild ab. Zwar finden sich hohe Übereinstimmungen nationaler und weltweiter Netzwerkstrukturen (r ≥ 0,83) in der Mehrzahl der betrachteten Länder, es gibt aber auch fünf Abweichler. Die USA weisen eine hohe Konzentration an spezifischen nationalen Akteuren auf (vgl. Abb. 4). Insbesondere aber in Australien, Indien, Irland und Kanada sind divergierende Netzwerkstrukturen zu erkennen (r < 0,5). In diesen Ländern sind einige nationale Interessengruppen sowie Spitzenpolitiker und Medien überrepräsentiert.Footnote 15 Für #ClimateChange lassen sich folglich für die englischsprachigen Länder und Indien länderspezifische Muster oder nationale Schließungstendenzen erkennen. Der Klimawandel ist ein salientes politisches Thema in nationalen politisch-medialen Systemen, weshalb etablierte Akteurskonstellationen und nationale Fragestellungen Transnationalisierungstendenzen überlagern können. Relevante UN-Institutionen und NGOs wie Greenpeace befinden sich dagegen in den meisten Ländern nahe der Regressionsgerade, d. h. sie werden länderübergreifend in nationalen Debatten referenziert.

Abb. 4
figure 4

Vergleich nationaler und weltweiter PageRanks (PR) in 11 Ländern. Korrelationen (Pearson’s r) zwischen den PageRanks von Nutzern in nationalen und weltweiten Netzwerken, berechnet ohne das jeweilige Land. Im ClimateChange-Netzwerk von Kanada wurde der Ausreißer @tjwiseman ausgeschlossen. Ohne diesen Ausschluss liegt die Korrelation bei r = 0,08

Insgesamt erkennen wir Anzeichen einer transnationalisierten Öffentlichkeit, die sich um gemeinsame Themen und Akteure gruppiert. Allerdings bedingen sowohl die Governance-Strukturen als auch die Themensalienz des Politikfelds die Ausprägung von Internationalisierungs- oder Transnationalisierungsprozessen. Im Politikfeld Netzneutralität sind US-Akteure die Taktgeber, im Falle des Klimawandels transnationale NGOs und Institutionen. Dennoch zeigen sich in beiden Politikfeldern länderspezifische Muster der Twitter-Debatten. Hieraus leiten wir ab, dass internationale Beteiligung (vgl. Abb. 1) nicht gleichzusetzen ist mit einer Transnationalisierung politischer Öffentlichkeiten. Globale Hashtags koppeln auch verschiedene nationale Policy-Debatten, ohne dass zwingend eine bewusste Anknüpfung an globale Debatten stattfände. Gleichwohl ist so eine nicht-intendierte Diffusion internationaler Erfahrungen und Normen innerhalb von Hashtag-Communities und über Two-Step-Flow-Prozesse in nationale Politikdiskurse hinein möglich.

4.3 Netzwerkanalysen und Demokratisierungsbefund

Mit Blick auf die Demokratisierungshypothese lässt sich anhand von Abb. 2 feststellen, dass die klassischen Gatekeeper der politischen und medialen Interessenvermittlung weiterhin präsent und zentral sind. Darauf deuten bereits die länderspezifischen Muster hin, insofern sie die Aneignung globaler Themen durch innenpolitische Akteure anzeigen. Unsere Befunde widersprechen somit dem Leitgedanken Shirkys: „Here comes everybody“ (Shirky 2008). Im Gegensatz zu Protestnetzwerken (Theocharis 2016) zeugt die Politikvermittlung in beiden Themengebieten von einer Persistenz struktureller Offline-Muster im Cyberspace. Dies gilt für die institutionell verfestigte Klimawandel-, aber auch für die Netzneutralitätsdebatte. Individuelle Aktivisten und Ad-hoc-Gruppierungen spielen mit wenigen Ausnahmen, z. B. dem kanadischen Folk-Sänger Joe WisemanFootnote 16, eine untergeordnete Rolle. Allerdings muss differenzierend hervorgehoben werden, dass NGOs Twitter durchaus gewinnbringend zur Steigerung ihrer Reichweite und Vernetzung einsetzen.

5 Zusammenfassung

Die vorliegende Studie hat die Transnationalisierungs- und Demokratisierungsannahmen, die die Internetentwicklung begleitet haben, anhand zweier Politikfelder für das soziale Netzwerk Twitter überprüft. Auf dem erreichten Analyseniveau (Analyse der Geolokationen, Netzwerkanalysen und Netzwerkvergleich) lässt sich transnationale Twitter-Kommunikation zwar für beide Themen erkennen. Allerdings bedarf dieser Befund einiger Differenzierung: Zum Ersten sind die Twitter-Debatten in beiden Fällen durch eine Dominanz US-amerikanischer Nutzer(-gruppen) sowie solchen aus den angelsächsischen Ländern gekennzeichnet. Dieser Befund liegt zuerst in der Auswahlentscheidung zugunsten global genutzter Hashtags und der Nutzung des Englischen begründet. Im Vergleich handelt es sich allerdings um eine strukturelle Grundbedingung der Twitter-Kommunikation, die für beide Fälle konstant ist. Zudem zeigt die außerordentlich große Orientierung an der amerikanischen Netzneutralitätsdebatte, auch in nicht-englischsprachigen Ländern, dass die auswahlbedingte Dominanz der USA im Sample nicht prinzipiell mit dem Aufdecken transnationaler Kommunikationsmuster im Widerspruch steht.

Diese Beobachtung führt uns zur zweiten Differenzierung: Unsere Ergebnisse haben gezeigt, dass internationale Beteiligung nicht bereits mit einer Transnationalisierung politischer Öffentlichkeiten gleichzusetzen ist. Eine ähnliche Klarstellung finden wir auch bei Kneuer und Richter (2015). Sie unterscheiden zwischen der „technischen Ermöglichung von Netzwerkbildung“ und der „tatsächlichen kommunikativen Wertigkeit der Netzwerkverbindung“ (ebd., S. 24). Wir nehmen mit den hier vorgenommenen Netzwerkanalysen eine Mittelposition ein. Die von uns vermessenen Netzwerkaktivitäten bilden nicht allein die technische Möglichkeit der Vernetzung ab, sondern die tatsächliche Aktivität der kommunikativen Verbindung. Beide definierten Link-Typen (Retweets und Mentions) berühren durchaus die inhaltliche Dimension, insbesondere der Retweet ist ein inhaltlicher Bezug. Dennoch gibt es fraglos eine Analyseebene darüber, welche die tatsächliche inhaltliche Auseinandersetzung in den Blick nimmt und sich nicht auf Metadatenauswertung beschränkt. Während wir diese Überprüfung eines substantielleren Transnationalisierungsbegriffs noch nicht geleistet haben, beanspruchen die vorgenommenen Analysen doch einen größeren Aussagewert, als es die bloße Untersuchung technischer Vernetzung erlauben würde.

Doch wie lassen sich unsere Ergebnisse auf Grundlage dieser Differenzierungen nun interpretieren? Insgesamt muss das Transnationalisierungspotential sozialer Medien problemfeldspezifisch betrachtet werden. Außerdem sollten mehrere Analyse- und Vergleichsschritte getan werden, bevor eilfertige Schlüsse gezogen werden. Denn, gemessen an der Geolokation der Nutzer, ist die internationale, also im Wesentlichen über die USA und die angelsächsischen Länder hinausgehende Beteiligung für die Klimawandel-Kommunikation größer. Der Vergleich der Netzwerkdarstellungen deutet auch auf einen höheren Transnationalisierungsgrad der Klimawandeldebatte hin. Zwar zeigt die zugehörige Netzwerkanalyse einige nationalstaatliche Cluster an, so dass der Annahme, dass ein strukturaler Nationalismus (Schünemann 2014, S. 512) die Herausbildung transnationaler Kommunikationsstrukturen hemmt, nicht generell zu widersprechen ist, zentrale Knoten bilden jedoch die institutionalisierten Akteure globaler Klimapolitik (Regierungs- und Nicht-Regierungsorganisationen).

Demgegenüber scheinen nationale Schließungstendenzen vor allem mit Blick auf die USA offensichtlich. Die Tagesaktualität des Themas in den USA führt neben der allgemeinen US-Dominanz von Twitter dazu, dass US-amerikanische Akteure in der #NetNeutrality-Debatte zentral und tonangebend sind, ja sich in dem analysierten Netzwerk sogar die Polarisierung der parteipolitischen Lager abbildet. Der Netzwerkvergleich über die Korrelation von PageRanks zeigt allerdings, dass sich die Nutzer weltweit auf die US-Debatte, der für die Regulierung der Netzneutralität eine Vorbildfunktion zukommt, beziehen. Damit stellt sich bei genauerer Betrachtung der beinahe paradoxe Befund ein, dass die durch US-amerikanische Innenpolitik überlagerte Twitter-Debatte eine höhere Transnationalisierung erreicht. Denn der Netzwerkvergleich für die Klimawandel-Debatte ergibt entsprechend differenzierte Ergebnisse. Die internationale Beteiligung an der Debatte ist zwar ausgeprägter, aber es zeigen sich deutlicher nationale Muster, zumindest in den englischsprachigen Ländern und Indien, d. h. nationale Akteurskonstellationen und Bezugspunkte, von denen aus auf die globale UN-Klimaagenda lediglich Bezug genommen wird. Auch diese explorativen Ergebnisse können durch aufbauende qualitative Untersuchungen der Klimadiskurse untermauert werden.

Hinsichtlich der Partizipationsdimension und der Frage, ob es zu einer Transformation politischer Öffentlichkeit kommt, die die klassischen Strukturen repräsentativdemokratischer Systeme infrage stellt, bestätigt die Studie Befunde einer „Normalisierung“ demokratischer Vermittlung in Zeiten des Internets. Referenziert werden vor allem die medialen Gatekeeper und klassischen Politakteure. NGOs scheinen in der politischen Online-Kommunikation zwar Landgewinne zu verzeichnen, dem Jedermann oder Ad-hoc-Gruppierungen gelingt es aber nur in Ausnahmefällen, eine zentrale Stellung im Netzwerk zu erlangen.

Angesichts der Herausforderungen und Schwierigkeiten scheint es uns geboten, abschließend die wesentlichen Anschlussfragen für die weitere Forschung in diesem Bereich zu formulieren. Mit Blick auf den zuletzt besprochenen Beteiligungsaspekt ist noch einmal zu betonen, dass wir bislang keine Differenzierung unterschiedlicher Partizipationsgrade vorgenommen haben. Allerdings ist für politische Online-Kommunikation im Allgemeinen und die Sozialen Medien im Besonderen durchaus anzunehmen, dass Beteiligung nicht gleich Beteiligung ist, sondern sehr oberflächliche Formen der Partizipation neben substanzielleren Debattenbeiträgen stehen. Eine systematische Unterscheidung des Beteiligungsgrads brächte gewiss eine erhebliche Differenzierung hinsichtlich des Akteursfelds mit sich. Außerdem wäre sie geeignet, das potentielle Spannungsverhältnis zwischen einer (ggf. transnationalen) Erweiterung des Felds der Politikbeteiligten und der Partizipationsqualität offenzulegen.

Um die oben problematisierten Selektionseffekte zu reduzieren, wäre eine Berücksichtigung weiterer Vergleichsfälle wünschenswert. Untersuchungszeiträume sollten so gewählt sein, dass sich die zu vergleichenden Politikfelder in Phasen vergleichbarer Debattenintensität befinden. Ein solches Forschungsdesign wird aber generell von technischen Beschränkungen der Ex-post-Erhebung von Twitter-Daten limitiert. Dem „Platform Bias“ sollte durch die systematische Berücksichtigung anderer sozialer Netzwerke wie insbesondere Facebook sowie ausgewählten Websites und Blogs begegnet werden. Zuletzt kann dem mit der Wahl global genutzter Hashtags verbundenen Sprachproblem nur durch die Identifizierung einer multilingualen Klasse verbreiteter Hashtags beigekommen werden. Damit steigt die Komplexität des Forschungsdesigns erheblich. Allerdings wären bei einem erfolgreichen Vorgehen tiefergreifende Ergebnisse für die Transnationalisierungsfrage möglich.

Überhaupt ist der hier verwendete und operationalisierte Transnationalisierungsbegriff ein umfassender und in gewisser Weise oberflächlicher. Die Erweiterung von Online-Kommunikationsräumen und die transnationalisierte Partizipation über Twitter und andere Online-Netzwerke stellen Möglichkeitsbedingungen (nicht nur technischer, auch sozialer Art) für eine substanzielle Transnationalisierung gesellschaftlicher Diskurse dar. Eine umfassende Überprüfung dieser Prozesse erfordert allerdings qualitative Verfahren der vergleichenden Diskursanalyse. Für solche aufbauenden Forschungsarbeiten scheint aufgrund der besonders großen Datenkorpora eine Kombination mit automatisierten und quantifizierenden Verfahren zur Analyse großer Datenbestände (z. B. Korpusanalyse) sinnvoll. Eine qualitative Analyse von Teilkorpora als finaler Untersuchungsschritt würde sowohl komplementäre Befunde zur Netzwerkanalyse als auch eine Differenzierung von Partizipationsgraden ermöglichen.