Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

hätte man uns vor 30 Jahren die Frage gestellt, inwieweit die Computertechnologie das Fach Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in der Zukunft verändern wird, wäre die wahrscheinliche Antwort gewesen: „Sie wird ganz sicher großen Einfluss nehmen.“ Aber niemand hätte das Ausmaß und die Richtung dieser Veränderungen realistisch beschreiben können. Heute leben und arbeiten wir mit großer Selbstverständlichkeit in der „Hightechwelt“ der Computer, deren enorme Auswirkungen nicht nur auf die Forschung, sondern auch auf die tägliche Routine in Klinik und Praxis niemand voraussagen konnte.

Fragen nach den realistischen Zukunftsperspektiven der Forschungsprojekte, die für diese Ausgabe zum Leitthema „Neue Technologien“ ausgewählt wurden, sind ähnlich schwierig zu beantworten. Noch sind ihre Auswirkungen nur spekulativ zu beurteilen. Wir wissen, diese Technologien sind machbar, und sie werden unseren Berufsalltag verändern, aber das Ausmaß kennen wir noch nicht. Es ist so, als hätten wir die erste Seite eines neuen Krimis aufgeschlagen.

Es folgen faszinierende Kapitel. Die Nanotechnologie nimmt uns mit auf eine Reise in die Welt von Strukturen, die 10.000-fach kleiner sind als der Durchmesser eines menschlichen Haars. Nanomaterialien mit neuartigen, häufig in der Natur unbekannten Eigenschaften werden in dieser Welt entwickelt. In Diagnose, Überwachung und Therapie sollen reaktive Nanostrukturen medizinische Aufgaben erfüllen. Nanopartikel sollen als anpassungsfähige Medikamententräger dienen, die gezielt chemotherapeutische Mittel in krebsbefallene Zellen einschleusen oder Selbstheilungsprozesse in Gang setzen.

Bildgebende Verfahren, die in der Entwicklung sind, zeigen uns menschliches Gewebe in einer Auflösung bis hin zum atomaren Niveau. Wir sehen bisher ungeahnte Details der anatomischen Strukturen. In der Chirurgie werden die Operationstechniken durch die strukturelle und funktionelle Informationsqualität beeinflusst werden, die in der Bildgebung noch auf uns zu kommen.

Das zukunftsorientierte Thema „personalisierte Medizin“ oder „Personalised Healthcare“ ist ein heißes Eisen und wird sehr kontrovers diskutiert. Je nach Interessengruppe wird dieses Schlagwort anders charakterisiert und für zukünftige Entwicklungen genutzt.

Die Pharmaindustrie setzt auf eine extrem individualisierte Diagnostik und Therapie, bei der die Analyse individueller Genprofile immer gezieltere Arzneimittelentwicklungen erlaubt. Motto: Je mehr Medikamente für die Therapie einer Krankheit verfügbar sind, umso individueller lässt sie sich behandeln.

Die Gesundheitspolitik setzt auf verbesserte Versorgungsstrategien anhand zielgerichteter individualisierter Therapien, eine Steigerung der Lebensqualität und Optimierung der Kosteneffizienz. Vor den entsprechenden gesundheitspolitischen Weichenstellungen steht andererseits die harte Realität des Kostendrucks.

Viele Mediziner hoffen generell auf die bessere Phänotypisierung der Patienten und eine „auf jeden einzelnen zugeschnittene Behandlung“. Mithilfe von neuen Bildgebungstechniken, Gensequenzierung, molekularer Charakterisierung und verbesserter Biomarkergenerierung werden auch in der Onkologie (und damit in der Tumorchirurgie) die Weichen neu gestellt, wenn künftig medikamentöse Therapien nach individualisierten Prognosen möglichst früh ansetzen. Manche Onkologen setzen schon jetzt individuelle Gentests ein, um etwa vorherzusagen, bei welchen Patienten bestimmte Hightechmedikamente wirken und bei welchen nicht. Prädiktive Tests vor der Behandlung sollen künftig bei jedem einzelnen Patienten eine Abklärung erlauben, ob bei ihm ein bestimmtes Medikament wirken wird. Entsprechende Forschungen laufen bereits in der Pharmaindustrie (wir bringen dazu ein Interview mit Basler Forschern).

Die Zukunft unserer Medizin wird aber auch von der geeigneten Form der Wissensvermittlung abhängen. Schon heute haben wir das Problem, aus einer ungeheuren Fülle von Informationen die für uns relevanten Informationen auswählen zu können. Künftig wird darum ein Wissensmanagement nötig sein, das uns bei der intelligenten Recherche in den globalen Wissensräumen unterstützt.

Eine Delphi-Studie des Fraunhofer Instituts für System- und Innovationsforschung ISI in Karlsruhe untersuchte 2007, welche neuen Möglichkeiten in der Gesundheitsvorsorge und für die Behandlung von Krankheiten die Informationstechnologie bis 2020 eröffnen werde. Insgesamt 36 IT-Forschungsprojekte – von Implantaten, die Körperfunktionen überwachen und automatisch Medikamente abgeben, bis hin zu Robotern als Pflegepersonal in der Klinik – wurden auf ihre Verwirklichung bis 2020 untersucht und die meisten als zu diesem Termin machbar eingestuft. Aber nicht alles, was technisch möglich sei, werde sich letztlich auch durchsetzen (etwa der Pflegeroboter), so das Fazit der Karlsruher Forscher.

Das Wesen der Wissenschaft besteht darin, sich mit Unbekanntem, Neuem zu beschäftigen. Aber das ist ein Gang auf schwierigem Terrain und ein Abenteuer, das Mut – auch zu Irrtümern und Umwegen – und interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert.

H.-F. Zeilhofer