Am 30. Oktober 2011 ist der erste Herausgeber des Wirtschafts- und sozialstatistischen Archivs, unser Freund und Kollege Hans Wolfgang Brachinger, in seinem Wohnort Tafers in der Schweiz verstorben. Er wurde gerade einmal 60 Jahre alt. Bis wenige Tage vor seinem Tod hat er mit Autoren und Gutachtern korrespondiert, Beiträge redigiert und das Heft 3/2011 des WiSoStA in einen druckfertigen Zustand überführt. Es sollte das letzte einer immer erfolgreicheren Reihe sein, die am 1. Januar des Jahres 2007 begonnen hatte, als Hans Wolfgang Brachinger vom Vorstand der Deutschen Statistischen Gesellschaft zum Gründungsherausgeber eines neuen Fachjournals berufen wurde, welches die Rolle des ehrwürdigen deutschsprachigen Allgemeinen Statistischen Archivs, das zum gleichen Zeitpunkt in eine englischsprachige internationale Fachzeitschrift verwandelt wurde, fortführen sollte.

Dass dieses neue Journal tatsächlich zur Plattform eines regen wissenschaftlichen Gedankenaustauschs werden würde, war damals überhaupt nicht klar. Denn immer mehr deutschsprachige Statistiker und Statistikerinnen scheinen zu glauben, dass man diese Wissenschaft auf Deutsch nicht mehr betreiben könne. Dabei wird aber nur allzu gerne übersehen, dass Statistik keine l’art pour ’art bedeutet, sondern sich immer an den Problemen und Anforderungen der Menschen zu orientieren hat, die in ihrem Berufsalltag Statistik brauchen. Und deren Sprache ist in Deutschland, Österreich und einem großen Teil der Schweiz immer noch Deutsch. Und so kam das WiSoStA einem verbreiteten Wunsch vieler praktisch arbeitenden Statistiker entgegen, über ihre konkreten Sachprobleme in der Sprache diskutieren zu dürfen, die sie von Kindesbeinen an am besten kennen.

Und wer sollte der erste Herausgeber dieser neuen Zeitschrift sein, wenn nicht der auf so vielfältige Weise in die praktische deutschsprachige Statistik eingebundene Hans Wolfgang Brachinger? Als Sprecher der Jury für den Gerhard Fürst-Preis des Statistischen Bundesamtes, als führender Experte für hedonische und allgemeine Preisindices (hierzu hat er in dem 2011 erschienenen 100-Jahre-Jubiläumsband der DStatG einen bemerkenswerten Übersichtsartikel vorgelegt; es sollte seine letzte wissenschaftliche Arbeit sein), als Präsident der schweizerischen Kommission für die Bundesstatistik und als Gründer eines Forschungszentrums für Wirtschaftsstatistik kannte er wie nur wenige hierzulande die Probleme, mit denen sich die Kollegen und Kolleginnen ”an der Front” tagtäglich herumzuschlagen haben. Auch das wirtschaftsstatistische Adäquationsproblems war zeitlebens ein großes Anliegen von Hans Wolfgang Brachinger gewesen: wie kann man die theoretischen Konstrukte der Wirtschaftswissenschaften mit den gemessenen Größen der Wirtschaftsstatistik möglichst gut zur Deckung bringen? Aber seine wissenschaftlichen Interessen gingen darüber weit hinaus; sie galten auch den geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Risikowahrnehmung (hierzu hat er mit seiner Frau Renate und anderen im Jahr 1999 einen vielbeachteten Aufsatz im American Economic Review publiziert) sowie Entscheidungen unter Unsicherheit ganz allgemein. Bereits seine Habilitationsschrift an der Universität Tübingen aus dem Jahr 1989 hatte sich damit befasst. Von Tübingen war Hans Wolfgang Brachinger dann nach kurzen Zwischenstationen in Eichstätt und Konstanz im Jahr 1991 als ordentlicher Professor und Direktor des Seminars für Statistik an die Wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg in der Schweiz berufen worden. Diesem Standort ist er trotz verschiedener Abwerbeversuche treu geblieben, von 1999 bis 2003 war er auch Vizerektor dieser Universität.

Mit Hans Wolfgang Brachinger verliert die deutschsprachige Statistik nicht nur einen ihrer in der Praxis angesehensten Vertreter, auch sein Kommunikationstalent ging über das Normale weit hinaus; er hat es wie kaum ein anderer verstanden, aus dem Schatten des Elfenbeinturms herauszutreten und seine Wissenschaft auch anderen zu vermitteln. Besonders durch seine zahlreichen Veröffentlichungen zu gefühlter und wahrer Inflation in der Neuen Zürcher und der Süddeutschen Zeitung, im Focus und im Handelsblatt hat er die Statistik auch für Nichtstatistiker fassbarer gemacht. Dass etwa mit einer steigenden Anzahl der Kaufakte, die mit einem Gut verbunden sind, die gefühlte Inflation in aller Regel zunimmt, ist zwar ex post mehr als einleuchtend, war aber lange Zeit als Faktum kaum beachtet worden. ”Wir wissen längst”, schrieb er im Januar 2009 in der Süddeutschen Zeitung, ”dass die Inflationswahrnehmung vor allem durch die Preise der kaufhäufigen Güter wie Lebensmittel und Treibstoffe getrieben wird.” Und das ist alles andere als ein nebensächliche Beobachtung. Denn ”die Inflationswahrnehmung ist ein wichtiger Schlüssel zur Erklärung der Konsumneigung der Verbraucher. Sie ist dann besonders hoch, wenn die Teuerung bei kaufhäufigen Gütern hoch ist im Vergleich zur Teuerung bei den kaufseltenen.” Mit anderen Worten: ein und derselbe Wert der erklärenden Variablen ”Inflationsrate” etwa in einer makroökonometrischen Konsumfunktion ist nicht das gleiche, je nachdem wie sie zustande kommt, und diese bahnbrechende Einsicht hat noch längst nicht die Beachtung gefunden, die sie verdient.

Viele Kollegen und Kolleginnen trauern auch um einen guten Freund. Seit einem ersten Treffen bei der Statistischen Woche 1982 in München, als er dem Schreiber dieser Zeilen bei einem Paar Weißwürsten zusammen mit seiner späteren Frau Renate seine damals vor dem Abschluss stehende Dissertation (bei Eberhard Schaich) über robuste Entscheidungen nahebrachte, fühlte ich mich auch dem Menschen Hans Wolfgang Brachinger verbunden. Wenn man ihn besuchte, etwa in seinem schönen Haus in Tafers, ging man in besserer Stimmung weg als hin. Und noch kurz vor seinem Tode gingen zahlreiche elektronische Nachrichten hin und her, er selbst wird wohl gewusst haben, dass nicht mehr viele folgen würden, behielt es aber für sich. Nicht nur ich vermisse ihn sehr. Lieber Wolfgang, die Statistik ist ärmer ohne dich.