Das Hauptziel der gerade entstehenden europäischen Referenznetzwerke (ERN) Footnote 1 besteht in der Bereitstellung einer hochspezialisierten Gesundheitsversorgung für Patienten mit seltenen und hochkomplexen Krankheiten in der Europäischen Union.

Der 15. Dezember 2016 war ein Meilenstein. 23 europäische Referenznetzwerke (ERN)Footnote 2 wurden durch das zuständige EU Board of Member StatesFootnote 3 offiziell anerkannt. Diese ERN, die sich ausschließlich auf seltene Erkrankungen fokussieren, werden mit aller Wahrscheinlichkeit im Frühjahr 2017 beginnen zu arbeiten. Der Anerkennung vorausgegangen war ein sechsmonatiger Begutachtungsprozess, in dem die Netzwerke und die beteiligten Kliniken einer umfangreichen Bewertung unterzogen worden sind. Zwei ERN werden von universitären humangenetischen Einrichtungen koordiniert: nämlich das European Reference Network on Rare Congenital Malformations and Rare Intellectual Disability (ITHAKA) und das European Reference Network on GENetic TUmour RIsk Syndromes (GENTURIS). Das ERN ITHAKA wird koordiniert vom Division of Evolution and Genomic Sciences in Manchester (Frau Prof. Jill Clayton-Smith) und das ERN GENTURIS vom Institute for Molecular Life Sciences – Human Genetics in Nijmegen (Frau Prof. Nicoline Hoogerbrugge).Footnote 4

In den ERN werden Expertise und Ressourcen zur Diagnose und Behandlung seltener Erkrankungen gebündelt und Fachwissen über Grenzen hinweg ausgetauscht. Die ERN sollen Patientinnen und Patienten in allen EU-Mitgliedstaaten den Zugang zur Diagnose und Behandlung seltener und hochkomplexer Erkrankungen ermöglichen und erleichtern.

Die Dimension der ERN wird deutlich, wenn man die durch sie abgedeckten Erkrankungsgruppen betrachtet (siehe Tab. 1). Mit den ERN wird eine europäische Versorgungsinfrastruktur aufgebaut, die den gesamten Bereich der seltenen Erkrankungen umfasst. Damit wird eine Infrastruktur für ca. 30 Mio. Patienten etabliert, deren Versorgung in den nationalen Gesundheitssystemen in der Regel ungenügend geleistet und erstattet wird.

Tab. 1 Übersicht der anerkannten Europäischen Referenznetzwerke (Stand: 15.12.2016)

EU-Rahmenbedingungen zur Etablierung der europäischen Referenznetzwerke (ERN)

Zwei Dokumente der EU sind für die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen bei der Etablierung der ERN und der Umsetzung auf nationaler Ebene maßgebend:

  1. 1.

    Council Recommendation of 8 June 2009 on an action in the field of rare diseases (2009/C 151/02)Footnote 5.

  2. 2.

    Directive 2011/24/EU of the European Parliament and of The Council of 9 March 2011 on the application of patients’ rights in cross-border healthcareFootnote 6.

Das erste Schlüsseldokument beinhaltet die Empfehlungen des Rats der Europäischen Union zur Verbesserung der Koordination und interne Abstimmung von nationalen, regionalen und lokalen Initiativen im Bereich der seltenen Erkrankungen. Eine zentrale Empfehlung bestand in der Ausarbeitung und Verabschiedung von nationalen Aktionsplänen bis Ende 2013. Auf diesem Hintergrund hat das Bundesministerium für Gesundheit gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE e. V.) das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE)Footnote 7 gegründet. NAMSE hat dann in den Jahren 2010 bis 2013 für Deutschland einen Katalog mit 52 Vorschlägen und Handlungsempfehlungen zum Informationsmanagement, zu möglichen Diagnosewegen, zu Versorgungstrukturen und zur Erforschung von seltenen Erkrankungen ausgearbeitet und unter dem Titel „Nationaler Aktionsplan für Menschen mit seltenen Erkrankungen“Footnote 8 veröffentlicht. Die Einrichtung, Anerkennung und Finanzierung einer neuartigen Versorgungsstruktur für Patienten mit seltenen Erkrankungen ist das Kernelement des Nationalen Aktionsplanes. Diese Versorgungsstruktur soll Typ A Zentren (Referenzzentren), Typ B Zentren (Fachzentren für seltene Erkrankungen) und Typ C Zentren (Kooperationszentren) umfassen (siehe Infobox 1).

Infobox 1

Typ A Zentren (Referenzzentren für Seltene Erkrankungen, mit den Fachzentren für xyz) setzen sich aus mehreren Typ B Zentren (Fachzentren) zusammen und haben zusätzlich krankheitsübergreifende Strukturen (z. B. für die Betreuung von Patienten mit unklarer Diagnose, Lotsen, interdisziplinäre Fallkonferenzen, innovative Spezialdiagnostik). Typ A Zentren (Referenzzentren) sind zudem für die unklaren Fälle zuständig, betreiben Grundlagen- und klinische Forschung, und stellen die Basis der medizinischen Ausbildung dar.“ (Quelle: http://namse.de/images/stories/Dokumente/nationaler_aktionsplan.pdf, S. 12).

Typ B Zentren (Fachzentren für Krankheit/Krankheitsgruppe x) arbeiten ebenfalls krankheitsoder krankheitsgruppenspezifisch für Patienten mit gesicherter Diagnose oder konkreter Verdachtsdiagnose, verfügen aber neben dem ambulanten auch über ein stationäres, interdisziplinäres und multiprofessionelles Versorgungsangebot. Insoweit handelt es sich bei einer Typ B Einrichtung (Fachzentrum) um eine Krankenhauseinrichtung, die für die jeweilige Seltene Erkrankung oder Krankheitsgruppe über ein ambulantes und stationäres Versorgungsangebot verfügt.“ (Quelle: http://namse.de/images/stories/Dokumente/nationaler_aktionsplan.pdf, S. 11).

Die Typ C Zentren (Kooperationszentren für Krankheit/Krankheitsgruppe x) stellen die krankheits- oder krankheitsgruppenspezifische ambulante Versorgung interdisziplinär und multiprofessionell sicher. Ein Typ C Zentrum (Kooperationszentrum) ist in erster Linie für die Erbringung konkreter Versorgungsleistungen bei Patienten mit gesicherter Diagnose oder klarer Verdachtsdiagnose zuständig. In Frage kommen hierfür bspw. niedergelassene Schwerpunktpraxen, Gemeinschaftspraxen, Medizinische Versorgungszentren (MVZ) oder Krankenhäuser.“ (Quelle: http://namse.de/images/stories/Dokumente/nationaler_aktionsplan.pdf, S. 11).

Die von der EU angestoßene politische Bearbeitung des Themas der seltenen Erkrankungen ist in Deutschland in einen Maßnahmenkatalog gemündet, der Lösungen der Versorgungsprobleme im Rahmen des deutschen Gesundheitssystems vorschlägt. Die notwendige rechtliche Anpassung des Gesundheitssystems, die (auch) die ungeklärte Finanzierung der innovativen Versorgungsstruktur adressiert, sollte mit dem KrankenhausstrukturgesetzFootnote 9 vollzogen werden. Die Umsetzung des Krankenhausstrukturgesetzes wird derzeit allerdings durch die unabgeschlossenen Verhandlungen der Spitzenverbände der Selbstverwaltung verzögert. Zugleich gibt es in Hinsicht auf das Verfahren, das die Anerkennung der neuen Versorgungseinrichtungen gemäß der beschlossenen KriterienkatalogeFootnote 10 regeln und durchführen soll, seit einer geraumen Weile keine Fortschritte.

Das zweite Schlüsseldokument ist die Direktive des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rechte der Patienten in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung aus dem Jahr 2011. In diesem Dokument werden die entscheidenden Weichen für den Aufbau der Europäischen Referenznetzwerke gestellt. Mit den Referenznetzwerken wird die in der Direktive geregelte grenzüberschreitende Versorgung in der EU zum Umsetzungsziel real existierender europäischer VersorgungsnetzwerkeFootnote 11. Dies gilt auch für die Transparenz über die angebotenen Versorgungsdienstleistungen, die freie Bewegung von Patienten und Patientendaten (gemäß den geltenden Datenschutzbestimmungen) sowie dem Austausch von Expertise unter Klinikern und Wissenschaftlern. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen und der korrespondierenden Versorgungsexpertise liegt es auf der Hand, dass sich aus einer grenzüberschreitenden Versorgung für Patienten mit seltenen Erkrankungen ein hoher Nutzen ergeben kann. Expertisetransfer und die Möglichkeit der Nutzung der EU-weit besten Angebote könnten beispielsweise dazu beitragen, dass Patienten auf diagnostische und therapeutische Dienstleistungen gleicher bzw. gleich hoher Qualität zugreifen können.

Das Dilemma, das die Umsetzung der Ziele der Referenznetzwerke erschwert, besteht darin, dass die Organisation und Finanzierung der europaweit sehr heterogenen Gesundheitssysteme in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten liegt. Für die Integration der ERN in die nationalen Gesundheitssysteme und damit für den schrittweisen Aufbau eines grenzüberschreitenden freien Marktes der Gesundheitsdienstleister im Bereich der seltenen Erkrankungen ist eine (beschränkte) Teilung dieser Verantwortung erforderlich. Damit tun sich die Mitgliedsstaaten gegenwärtig noch schwer. Die erfolgte Anerkennung der ERN und die hohe Geschwindigkeit, mit der die ERN eingerichtet werden – schon ab Frühjahr 2017 werden diese beginnen zu arbeiten – lässt allerdings erwarten, dass ein wachsender Integrations- und Finanzierungsdruck auf die nationalen Gesundheitspolitiken entstehen wird.

Koordination zwischen europäischen Referenznetzwerken (ERN) und den nationalen NAMSE-Fachzentren

Koordinationsbeispiel: Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) Tübingen

Exemplarisch lässt sich die gegenwärtige Situation am Beispiel des Tübinger Zentrums für Seltene Erkrankungen (ZSE) folgendermaßen beschreiben:

Entsprechend der fachlichen Expertise der beteiligten Kliniken und Institute hat das Tübinger ZSE einen Schwerpunkt seiner Aktivitäten im Bereich der seltenen neurologischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen. Das dazugehörige Spezialzentrum entspricht einem NAMSE Typ B Zentrum (Fachzentren für Krankheit/Krankheitsgruppe x) und müsste, sobald ein Anerkennungsverfahren tatsächlich durchgeführt wird, den Kriterien des konsentierten Anforderungskatalogs entsprechen.

Dieser Anforderungskatalog enthält vor allem Prozess- und Strukturkriterien zu den Punkten:

  • Zentrumsstruktur,

  • Diagnostik und Behandlung,

  • Vernetzung und interdisziplinäre Zusammenarbeit,

  • Krankheits- und patientenorientierte Forschung sowie

  • Wissens- und Informationsmanagement,

die im Rahmen der gegenwärtigen Struktur und Aktivitäten vom Tübinger Spezialzentrum erfüllt werden könnten.

Im Unterschied und zusätzlich zu den NAMSE-Kriterien verlangen die Europäischen Referenznetzwerke das Anbieten von hochspezialisierten Leistungen und von Parametern, mit denen diese Leistung gemessen werden können. Passend zu seiner Expertise beteiligt sich das Tübinger Institut (unter anderem) am Europäischen Referenznetzwerk für seltene neurologische Erkrankungen. Die genetische Diagnostik gehört in diesem Europäischen Referenznetzwerk, wie in den meisten anderen, zu den hochspezialisierten Leistungen.

Parameter wie:

  • Fallzahlen,

  • Zeit bis zur Diagnose,

  • Prozentsatz der gelösten Fälle pro Erkrankungsgruppe, und

  • kalkulierte Preise

werden für alle Zentren verfügbar sein. Damit wird in Hinsicht auf die Leistung genetische Diagnostik eine Vergleichbarkeit der Qualität und Preise ermöglicht, so dass ein Patient (oder seine Versicherung) in der grenzüberschreitenden Versorgung die preis-leistungsmäßig beste Diagnostik wählen kann.

Die hohe Geschwindigkeit, mit der die ERN auf europäischer Ebene etabliert werden, führt paradoxerweise dazu, dass das Tübinger Zentrum als ERN-Expertisezentrum operabel und sichtbar sein wird, deutlich bevor eine Anerkennung als NAMSE-Fachzentrum in Aussicht steht. Die prinzipielle Zielrichtung der ERN, also die schrittweise Etablierung einer grenzüberschreitenden Versorgung im Bereich der seltenen Erkrankungen, wird für das Arbeiten des Zentrums somit (zunächst) bestimmend sein.

Grundlegende Probleme der Koordination

Realisierungsdruck

Entsprechend den Anforderungen der ERN wird sich das Tübinger ZSE somit in seiner Struktur stärker auf die Notwendigkeiten der Referenznetzwerke orientieren müssen. Die Chance, wie Frankreich, basierend auf dem vor drei Jahren beschlossenen Aktionsplan eine nationale Struktur zu entwickeln, die man in die zahlreichen ERN hätte integrieren können, wurde in Deutschland nicht genutzt. Dies trifft zu auf den notwendigen Aufbau von Registern wie auch wie auch das dringend notwendige e‑Health-Konzept zur Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen. Beides wird nun durch die ERN bestimmt werden und im ungünstigsten Fall werden technische Plattform und Konzept vorgegeben, die den Gegebenheiten des deutschen Gesundheitswesens nicht optimal entsprechen. Mit den ERN hat die Priorisierung und Erfüllung von Versorgungsaufgaben eine europäische Dimension gewonnen, dem sich nationale Aufgaben unterordnen werden müssen. Deutschland ist davon in besonderem Maße betroffen aufgrund der fehlenden Finanzierung der Zentren und der deutlichen geringeren Druck, die entsprechend notwendigen Voraussetzungen für eine Umsetzung zu schaffen.

Europäische Gesundheitssysteme

Für den Aufbau, Betrieb und Erfolg der ERN, die die nationalen Expertise-Zentren vernetzen sollen, welche von den jeweiligen EU Mitgliedsstaaten offiziell gebilligt worden sind, ist ein Konflikt zentral. Dieser ist geprägt durch die nationale Verantwortung für die Gesundheitsversorgung (inklusive Finanzierung) auf der einen Seite und durch das Prinzip der freien Bewegung von Personen, Produkten, Dienstleistungen und Kapital, welches in den Gründungsverträgen der EU festgelegt wurde, und damit der freien grenzüberschreitenden Verfügbarkeit der medizinischen Versorgung für alle europäische Patienten auf der anderen Seite. Im Interesse der Patienten mit seltenen Erkrankungen ist die grenzüberschreitende Versorgung insofern, als sie es Ihnen erlauben würde, die EU-weit bestmögliche Versorgung in Anspruch zu nehmen. Die bestehende nationale Verantwortung für die Gesundheitsversorgung, welche einhergeht mit einer Deckelung der Kosten, die in den Mitgliedsstaaten für Leistungen zur Verfügung stehen, hat jedoch den gegenteiligen Effekt einer Abschottung der Gesundheitssysteme. Eine direkte, grenzüberschreitende Konkurrenz der Leistungsanbieter ist daher unter den gegenwärtigen Bedingungen nur sehr limitiert realisierbar. Die Integration der ERN in die nationalen Versorgungssysteme wird daher viel stärker davon abhängen, inwiefern zusätzliche Leistungen der ERN, wie die Erhöhung der Qualität durch Expertisetransfer oder der Aufbau von europäischen Registern, auf einer europäischen Versorgungsebene verankert werden können. Die Finanzierung dieser ERN Leistungen wird allerdings durch die Mitgliedsstaaten gemäß ihrer nationalen Verantwortung geleistet werden müssen.

Qualitätsanforderungen

Die Erhöhung und Angleichung der Qualität von Leistungen, die für die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen erbracht werden, ist eines der Hauptziele der ERN. Die Entwicklung und Durchsetzung von Richtlinien, Best Practice und standardisierten Versorgungspfade sind insofern eine der Hauptaktivitäten. Die Qualitätsanforderungen, die in den ERN entwickelt werden, werden in den (NAMSE) Fachzentren, die an ERN teilnehmen, umgesetzt werden müssen. Sinnvoll wäre es, wenn Erfüllung der Qualitätsanforderungen und Finanzierung der entsprechenden spezialisierten Leistungen verknüpft werden würden. Inwiefern deutsche Krankenkassen jedoch ERN Qualitätsstandards anerkennen werden, noch dazu für Leistungen, deren Finanzierung teilweise noch unklar ist (siehe oben), ist eine noch nicht diskutierte, aber für die Integration der ERNs auf der Ebene der Fachzentren wichtige Frage.

Ausblick

Unbenommen der Herausforderungen, die mit den in 2017 an den Start gehenden ERN verknüpft sind, lassen sich schon heute eine Reihe von positiven Effekten festhalten, welche die ERN hervorbringen werden. Dies sind beispielsweise:

  • Die ERN werden Anlaufpunkte für alle Patienten mit seltenen Erkrankungen bieten („Home für all rare disease patients“).

  • Eine zentrale Charakteristik der ERN wird die gleichberechtigte Einbindung der Patientenorganisationen auf europäischer Ebene sein.

  • Mit den ERNs werden Netzwerke der europäischen Expertisezentren auf nachhaltige Weise etabliert.

  • Die Sichtbarkeit der Expertisezentren für Patienten und Ärzte wird durch die ERN signifikant erhöht.

  • Die Existenz eines speziellen Versorgungsbedarfs für seltene Erkrankungen wird sichtbar, womit zugleich politischer Druck zur Erfüllung dieses Bedarfs kreiert wird.

  • Perspektivisch wird sich durch die Arbeit der ERN die Qualität der Versorgungsleistungen in der EU angleichen und die Leistungen werden besser verfügbar sein.

  • Die ERN werden die Basis für Forschung und Therapieentwicklung verbessern, indem umfassendere und besser beschriebene Patientenkohorten, europaweite und interoperable Register sowie bessere Forschungskoordination etabliert werden.