Menschenkinder sind anders als die Nestflüchter im Tierreich Lebewesen, für deren Überleben eine funktionierende soziale Gemeinschaft unerlässlich ist, denn die Mutter, notfalls eine andere Elternperson, kann das Kind nur erhalten, wenn sie ihrerseits von der sozialen Gemeinschaft gestützt und befähigt wird. Die bereits rein körperliche Abhängigkeit von Erwachsenen nimmt im Laufe der Kindheit etwas ab; etwas ältere Kinder können sich notfalls als „Wolfsjungen“ durchschlagen, sich in chaotischen Verhältnissen wie Krieg und Vertreibung Nahrung und hier und da Wärme erkämpfen. Die psychische Angewiesenheit auf andere, auf das Wahrgenommenwerden durch andere und auf Interaktion, nimmt mit dem Älterwerden nicht ab. Kleinkinder, ältere Kinder, Jugendliche, Erwachsene, alte Menschen überleben Zeiten, in denen es niemanden gibt, der sie wahrnimmt, denen sie etwas bedeuten – aber in der Regel nicht, ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen. Die Schäden, die so gesetzt werden, sind vielfältig, und nur selten einmal mit simplen Schemata posttraumatischer Gestörtheit zu fassen. Nicht selten handelt es sich um lang dauernde, sublime Formen der emotionalen Vernachlässigung und Misshandlung, bei denen sich das Kind in innere Widersprüche von Liebe und Hass verstricken kann. Auch die manifeste Gewalt und der manifeste sexuelle Missbrauch gewinnen ihre besonders zerstörerische Wirkung durch das, was sie an deletären Veränderungen im Selbstkonzept und in der Weltsicht der Kinder bewirken.

Dieses Themenheft der Zeitschrift Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie umkreist „Kinder“ im Hinblick auf mögliche Gefahren und tatsächliche körperliche und psychische Schädigungen. Es beginnt mit einer Übersicht von Irina Franke und Marc Graf, die sich in Basel seit Langem mit dem Problem der Kinderpornografie befassen und einen Überblick geben über die Entwicklung dieses Marktes von illegaler Pornografie und implizitem realen sexuellen Missbrauch, der von den Nutzern solchen Materials aber oftmals verleugnet wird. Diskutiert werden schließlich Interventionsmöglichkeiten hinsichtlich der Täter. Es folgt eine rechtsmedizinische Übersicht der Kölner Arbeitsgruppe von Sibylle Banaschak; immer wieder gibt es ja Diskussionen, ob Kindesmisshandlung, zumal mit irreversiblen Schädigungen oder gar Tod des Kindes, nicht häufiger vermieden werden könnte, wenn einschlägige Verletzungsmuster nicht übersehen würden – oder aber eine Intervention auch gegen den Willen der Elternpersonen nicht gescheut würde.

Eine Form der Kindesmisshandlung ist der sexuelle Missbrauch von Kindern, der auch in dieser Zeitschrift immer wieder Thema wissenschaftlicher Untersuchungen war. Das von der katholischen Kirche geförderte Forschungskonsortium beschreibt in der Metaanalyse in diesem Heft die bisherigen Bemühungen unterschiedlicher Arbeitsgruppen, solche Kriminalität nicht nur in Form einer Zweierbeziehung von (isoliertem, bösem) Täter und (isoliertem, schutzlosen) Opfer zu beschreiben, sondern den strukturellen, sozialen Kontext (mitsamt seiner Ideologie) einzubeziehen, also (kirchliche) Schule, (Elite-)Internat, Gemeindejugend in ihrer Bedeutsamkeit mit zu erfassen. Zwischen dem rein intrinsischen Täteranteil (wie einer angstbehafteten Sexualitätsvorstellung) und strukturellen Einflüssen zu unterscheiden und beides zu gewichten, ist bereits methodisch nicht leicht.

Kinder waren ja nicht selten in Internate gekommen, weil die häuslichen Verhältnisse kompliziert waren und Streit zwischen Vater und Mutter bestand. Der Streit um das Sorgerecht und um weitere Rechte in diesem Zusammenhang wird nicht selten mit harten Bandagen geführt; Gutachten und Gutachter sind Figuren in diesem Kampf. Sie sollen entscheiden, was für das Kindeswohl am besten ist. Bekanntlich gibt es viel Kritik an diesen Gutachten, zumal von der jeweils unterlegenen Partei, aber sicher auch berechtigte Kritik. Rechtsanwältin Anja Kannegießer und der pensionierte Familienrichter Horst-Heiner Rotax stellen in ihrem Beitrag die formalen Standards vor, auf die sich diverse Berufsverbände und Interessenvertretungen geeinigt haben. Die Erfahrungen mit methodischen Mindeststandards (z. B. bei der aussagepsychologischen oder der kriminalprognostischen Begutachtung) belegen, dass der Weg der Besserung tatsächlich mit einer sauberen Methodik beginnt, wie beispielsweise der Befolgung der Forderung Max Webers nach strikter Trennung von Tatsachenbeschreibung und Werturteil (hier: psychologischer Bewertung bzw. Deutung). Es bleibt der Wunsch, dass es auch noch mehr inhaltliche, entwicklungspsychologische Forschung zu der Frage gibt, was das Kindeswohl ist und auf welchen Wegen es am besten bewahrt werden kann (und dass deren Ergebnisse nicht von Arbeitsmarktstrategen in Richtung möglichst früher Fremdversorgung vorgegeben werden).

Am Ende der Themenbeiträge gelangen wir zu Kindern und Jugendlichen als Tätern sexueller Übergriffe, die wiederum meistens Kinder zum Opfer haben. Gerade bei besonders schweren Fällen, so einer sadistisch motivierten Kindstötung durch einen 13-Jährigen, mit einem Wiederholungsdelikt ein Jahr später, hat man sich in der Vergangenheit bisweilen entschlossen, durch Behandlung mit einem Antiandrogenpräparat den Testosteron-Spiegel auf Kastrationsniveau zu senken. Dies schafft viele schwierige Fragen, wie man dabei in die Pubertät, in die sexuelle Identitätsbildung, in die Persönlichkeitsentwicklung eingreift. Gleichwohl besteht eine gewisse Verlockung, bei älteren Kindern und Jugendlichen, bei denen sich eine künftige sexuelle Gewaltdelinquenz abzeichnet, die Sexualität quasi „abzuschalten“ – zunächst einmal. Aber wie lange dann? Die World Federation of Societies of Biological Psychiatry hat sich dem Problem der biologischen Behandlung sexuell devianter Jugendlicher gestellt; Peer Briken und Frank Häßler, die daran beteiligt waren, fassen das Ergebnis – die Empfehlungen – auf Deutsch zusammen.

Es folgt bei den „freien Beiträgen“ eine Studie von Bernd Borchard und Annika Gnoth über die rätselhafte Frage, warum sich so viele Kriminaltherapeuten darüber beschweren, dass der Verurteilte sich angepasst verhält und sie damit scheinbar arbeitslos macht. Ist Anpassung vorrangig Täuschung? Der Beitrag sollte Pflichtlektüre im Maßregelvollzug sein; er korrespondiert mit dem „Blitzlicht“ in diesem Heft über „Ungläubige Therapeuten“.

Es folgen dann eine Stellungnahme von T. Amelung zu der Kritik von Andrej König (König 2015) am Berliner Präventionsprojekt „Kein Täter werden“ sowie eine Entgegnung von Andrej König. Die Effizienz einer Behandlung, die verhindern soll, dass jemand eine Straftat begeht, der bisher keine Straftaten begangen hat, ist schwer zu berechnen; dieses Wissen eint beide Beiträge. Es folgen wie stets der Journal Club, diesmal über das Outcome entlassener forensischer Patienten und über Wohnungseinbruch, dann das Blitzlicht und die Reiseempfehlungen.

Hans-Ludwig Kröber