Das vorliegende ZPS-Themenheft Spiegeln befasst sich wie bereits die Hefte zum Szenenaufbau, zum Doppeln und zum Rollenwechsel/Rollentausch mit einer Psychodrama-Technik. Während es beim Rollenwechsel/Rollentausch häufig eine begriffliche Verwirrung gibt (vgl. Schacht und Pruckner 2003), gibt es beim Thema Spiegeln eine konzeptuelle Vielfalt. Spiegeln gibt es in zahlreichen Varianten, denen der Säuglingsforschung, der psychodynamischen Psychotherapien, der Alltagssprache und last but not least der der psychodramatischen Methodik, die wiederum mehrere Unterformen aufweist. Als HeftherausgeberInnen haben wir versucht, den ganzen Reigen abzubilden, und hoffen, dass Sie sich als LeserInnen am Ende ein Bild davon machen können, was Spiegeln bedeuten kann, aber auch, was das Spezifische am psychodramatischen Spiegeln ist.

Wie beim Doppeln stellt sich schon bei der ersten Beschäftigung eine Irritation über den Begriff Spiegeln ein: ist es das Spiegeln oder das Gespiegelt werden, was gemeint ist? Ist es das aktive Spiegeln eines anderen, oder ist es der passive Blick in den Spiegel? Trotz der sprachlichen Verwirrung über die richtige Verwendung der Begriffe Rollenwechsel und Rollentausch, weiß am Ende jedeR PsychodramatikerIn, was zu tun ist. Die Situation mit dem Spiegeln offenbart jedoch, dass sich die psychodramatische Sprache manchmal mit der Alltagssprache kreuzt.

Moreno, zugegebenermaßen nicht gerade die Referenz beim Thema begriffliche Klarheit, schreibt 1959 zum Spiegeln: „Die Stufe der ‚Ich-Erkenntnis‘ entspricht der psychodramatischen Spiegelmethode. […] Es war das besondere Verdienst des Psychodramas, eine Forschungsmethode zu entwickeln, die dem natürlichen Prozess der Selbsterkenntnis nahe steht. Wenn wir die Spiegelmethode in psychodramatischen Sitzungen anwenden, schöpfen wir aus den fundamentalen Erlebnissen des Kindes.“ (Hutter und Schwehm 2009, S. 326) Das Kind, welches sich zum ersten Mal von außen, im Spiegel sieht, erschrickt zunächst, fürchtet sich vielleicht; es durchläuft einen allmählichen Erkenntnisprozess, bis es begreift, dass das, was es vor sich im Spiegel sieht, es selbst ist. Das heißt, das Kind sieht sich zunächst nicht gespiegelt, sondern es sieht ein Kind. Moreno weiter: „Dieses kindliche Erlebnis hat eine Parallele in der psychodramatischen Technik des Spiegelns, nur haben wir hier nicht einen gegenständlichen Spiegel, sondern der Patient sieht sich, seine Psyche, wie in einem Spiegel. Ein Hilfs-Therapeut, der ihn sorgfältig studiert hat, stellt ihn auf der Bühne dar. Der Patient […] sieht eine Kopie von sich selbst: wie er sich benimmt, wenn er morgens aufsteht, wie er auf die Mutter schimpft, wie er sein Frühstück isst, und wie er sich in typischen Situationen seines Lebens verhält.“ (a. a. O.) Wird man als ProtagonistIn gespiegelt, wird man Betrachterin des eigenen Lebens. Es findet damit durch den Akt des psychodramatischen Gespiegeltwerdens eine Distanzierung zur eigenen Person statt; die ProtagonistIn gerät in einen bewusst herbeigeführten dissoziativen Zustand zu sich selbst. Ich begebe mich weg von mir, und überlasse einer anderen Person mein Selbst mitsamt den darin enthaltenen Rollen (Gedanken, Gefühlen, Worten, Handlungsimpulsen). Anders als beim reinen Rollenwechsel oder beim Rollentausch erhält die ProtagonistIn beim Verlassen der eigenen Rolle keine andere aktive Rolle in der Szene, sondern wird zur passiven ZuschauerIn der eigenen Person. Dies ist zwar auch eine Rolle, aber eine außerhalb der Szene bzw. der Bühne. Von dort nähert sie sich innerlich wieder der eigenen Person an, in dem sie günstigenfalls erkennt: das bin ja ich! Erfüllt das Spiegeln seine Funktion, erlebt die ProtagonistIn zwei Zustände gleichzeitig: sie sieht sich von außen und von innen, als ZuschauerIn/BeobachterIn und im Doppel, aus der Fremdwahrnehmung und aus der Einfühlung. Wie ein Kind sieht es sich immer noch im Spiegel, auch wenn es schon direkt mit der Nase an diesen stößt. „Wenn es näher und näher auf den Spiegel zugeht, geht auch das andere, das Spiegelbild näher, bis sie sich auf der Oberfläche des Spiegels treffen.“ (a. a. O.) Doch der Spiegel lädt nicht nur dazu ein, sich selbst immer näher zu kommen, um so wieder mit sich identisch zu werden, oder im ungünstigen Fall wie Narziss nicht (mehr) zu verstehen, dass der Andere nicht im eigenen Spiegelbild zu finden ist; der Spiegel kann mit seiner harten Oberfläche auch dafür sorgen, dass man aus einem Traum aufwacht: OMG Footnote 1, so bin ich also…. Das Erkenne-dich-selbst! gelingt oft besser, wenn das Bild etwas mehr oder stärker wiedergibt, als es sich in der eigenen Ich-bin-mit-mir-im-Reinen-Mentalität anfühlt. Ein Bild, ein Affekt oder ein Handlungsimpuls, der nur 1:1 vom Spiegel zurückkommt, ist schnell langweilig und rutscht damit unter die Wahrnehmungsschwelle, bzw. kann schnell bedrohlich werden. Der von der StellvertreterIn, bzw. der von der Mutter oder dem Vater, markierte Affekt wird wahrgenommen, weil er die eigene Wahrnehmung mit seiner Differenz irritiert und anreichert. „Der Spiegel kann überzeichnet werden, eingesetzt als Technik wohlüberlegter Verstörung, um den Patienten aufzurütteln, weiterzukommen und von einem passiven Zuschauer zu einem aktiven Teilnehmer zu werden, einem Handelnden, um zu korrigieren, was seinem Gefühl nach, nicht die richtige Darstellung und Interpretation seiner selbst ist.“ (Moreno 1969, zit. nach Hutter und Schwehm 2009, S. 327) Die Beobachterrolle, in der sich die ProtagonistIn befindet, während sie gespiegelt wird, provoziert, da sie nur wahrnimmt und sich einfühlt, aber in diesem Moment (noch) nicht aktiv handeln kann. Wenn man so möchte, wird hier ein Handlungshunger induziert. Allen et al. definieren genau diesen Moment des sich von außen Sehens und mit sich dabei in der Erkenntnis wieder identisch werden als einen Bestandteil des Mentalisierens: „es geht über die Empathie hinaus, weil es auch bedeutet, sich über den eigenen psychischen Zustand Klarheit zu verschaffen – sich in sich selbst einzufühlen.“ (2011, S. 392). Der Philosoph Helmuth Plessner nannte als Voraussetzung dafür die „exzentrische Positionalität“, die Möglichkeit des Menschen zu sich selbst reflexiv in ein Verhältnis zu treten. PsychodramatikerInnen sprechen gewöhnlich von einem „guten“ Auto-Tele, wenn dies gelingt. In der Sprache der Psychodrama-Techniken wären es Doppeln und Spiegeln gleichzeitig. Wenn es zusätzlich zu dem reflexiven Verhältnis zu sich selbst gelingt, ein introspektives Verhältnis zum Gegenüber zu entwickeln – eine Theory of Mind zu entwickeln -, sind wir bei dem angelangt, was im deutschen Sprachraum unter Mentalisieren verstanden wird (vgl. Schulz-Venrath 2013, S. 80): ein Mensch kann sich selbst von außen und den anderen von innen sehen und verstehen. Gilt also die Formel: Spiegeln = (Mentalisieren – Doppeln)? Oder ist es vielmehr so, dass die Bühne die Innenwelt der ProtagonistIn (vgl. Holmes’ Inner World Outside) spiegelt, sowie eine StellvertreterIn die konkreten Handlungen, Gedanken und Gefühle, welche die ProtagonistIn zuvor gezeigt hat, dieser widerspiegelt? Dann wäre das protagonistInnenzentrierte Psychodrama an sich die Mentalisierung.

Als LeserIn werden Sie diese Gedanken in den Beiträgen des Themenheftes wiederfinden. Der Beitrag Astrid Amanns führt ins Spiegeln ein. In ihren kurzen Interviewsequenzen zeigt sie, was Psychodrama-AnwenderInnen unter Spiegeln verstehen, und wann sie diese Technik zum Einsatz bringen. Michael Schacht stellt in seinem Beitrag die enge Verbindung von Selbsterkenntnis und Spiegeln in Frage, wie sie von vielen PsychodramatikerInnen vertreten wird. Sein Referenzsystem ist dabei die Entwicklungspsychologie. Ulf Klein dagegen bezieht sich auf die neurophysiologischen Aspekte des Spiegelns, wenn er versucht Zusammenhänge und Unterschiede zwischen dem Spiegeln, der Mentalisierung und der Theory of Mind aufzuzeigen. In ihrem zweiten Artikel in diesem Heft stellt Astrid Amann eine Linie her zwischen Freud, Moreno, Lacan und Fonagy. Für alle diese vier Autoren war der Spiegel bzw. das Spiegeln von zentraler Bedeutung. Damit ist eine Brücke zur psychodynamischen Therapie geschlagen, die Hans-Peter Hartmann in seinem Artikel über Narzissmus und Spiegeln ausführlicher beschreibt. Die folgenden Beiträge beziehen sich mehr auf Formate, Anwendungsfelder und Zielgruppen beim Spiegeln. Sabine Kern eröffnet diese Reihe mit einem Wagnis, nämlich dem Blick in den psychodramatischen Spiegel. Sie beschreibt Grundlagen der Spiegeltechnik im klinischen Kontext und im Coaching und differenziert dabei verschiedene Formen des Spiegelns. Sonja Hintermeier widmet sich der Spiegeltechnik im Einzelsetting bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, wobei sie auf ein strukturbezogenes Vorgehen achtet. Sabine Spitzer nimmt sich den Körper im Psychodrama vor und beschreibt praxisnah, wie die Spiegeltechnik bei Menschen mit Übergewicht zum Einsatz kommen kann. Die beiden Beiträge von Staudinger und Scheuffgen sind dem Kinder- und Jugend-Klientel gewidmet. Karl Staudinger zeigt aus der Praxis Beispiele wie die verschiedenen Formen des Spiegelns bei Kindern und Jugendlichen zum Einsatz kommen können. Kristina Scheuffgen fokussiert in ihrer Einzelfallstudie über einen traumatisierten Jungen, der selbst zum Täter wurde, wie die psychodramatische Spiegeltechnik helfen kann, die Steuerung im eigenen Handeln wiederzuerlangen. Reinhard Krüger und Christian Stadler eröffnen den letzten Abschnitt, in dem es um Fragen von Annäherung und Abgrenzung von Spiegeln zu anderen therapeutischen Techniken und Methoden geht. Sie beschreiben in ihrem Beitrag Mentalisieren durch Psychodrama, inwieweit sich ein weit gefasstes Mentalisierungskonzept mit dem Psychodrama deckt und inwieweit eine Verbindung zum Spiegeln besteht. Marianne Tobler-Schkölziger stellt danach das Playback-Theater als dynamischen Spiegel vor. Andreas Schulz hält Paaren eine andere Art Spiegel vor, nämlich den der Märchen, Mythen und Legenden. Schließlich lädt Ferdinand Buer im anderen Artikel dazu ein, sich mit psychodramatischer, atheistischer Spiritualität auseinanderzusetzen. Er eröffnet damit Perspektiven sowohl für religionsgebundene wie religionsfreie Menschen. Wenn man so möchte, auch ein Blick in den Spiegel.

Das Themenheft ist damit dank unserer schreibwilligen AutorInnen gefüllt, und durch das Spiel mit dem Spiegel(n) vielleicht nicht nur für PsychodramatikerInnen eine interessante Lektüre. Letztere wünschen wir auf alle Fälle!