Im deutschen Hochschulsektor wurden in den letzten Jahrzehnten umfassende Umstrukturierungsprozesse wie die Bologna-Reform und die Etablierung des Neuen Steuerungsmodells angestoßen. Wenngleich die Effekte dieser Veränderungen noch nicht vollständig abgeschätzt werden können, zeigt sich derzeit zumindest, dass die mit den Reformen verbundenen Ziele bisher nicht hinreichend erreicht wurden. So ist die Studierendenschaft auch in den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen nach wie vor stark selektiv in Hinblick auf ihre soziale Herkunft (z. B. Maaz et al. 2014). Mangelnde Bildungsgerechtigkeit zeigt sich weiterhin auch für Studierende mit Migrationshintergrund und in verschiedenen Fachdisziplinen in geschlechtsabhängigen Disparitäten. Auch hohe Misserfolgsquoten, sichtbar in Studienabbruchzahlen und einer mittleren Studiendauer, die über die Regelstudienzeit deutlich hinausweist (Statistisches Bundesamt 2013, 2015; Bildungsbericht 2014), zeigen an, dass die angestrebten Ziele bisher noch nicht erreicht wurden. Damit stehen Fragen nach der Qualität, Effektivität und Effizienz der Hochschulbildung und ihren individuellen und gesellschaftlichen Erträgen wieder im Fokus der Debatte.

Die zunehmende gesellschaftliche und individuelle Bedeutung akademischer Kompetenzen kann mit Blick auf die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaftsstandorte und des wissenschaftstechnologischen Fortschritts auf nationaler und internationaler Ebene als unbestritten gelten. Wenn es trotzdem nicht gelingt, Studienabbrüche in großer Zahl zu verhindern oder Studierendengruppen mit unterschiedlichen Studieneingangsvoraussetzungen gleichermaßen wahrscheinlich zu einem erfolgreichen Studienabschluss zu führen, wie z. B. weibliche Studierende in traditionell männlich dominierten Fachdisziplinen oder Studierende mit nicht-deutschem sprachlich-kulturellen Hintergrund (z. B. Heublein et al. 2014; Happ et al. 2016), stellt sich die Frage, ob die zunehmende Diversität der Studierenden in der gegenwärtigen Hochschulbildung noch nicht hinreichend reflektiert wird. Aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen im postsekundären Bildungsbereich etwa in Europa, wie zunehmende Internationalisierung, Migration, und auch zunehmende globale Mobilität der Studierenden (zwischen Studiendisziplinen, Institutionen und Ländern), legen nahe, Fragen des Kompetenzerwerbs stärker in ihrer Abhängigkeit von diesen Veränderungsprozessen zu betrachten. Der Mehrwert akademischer Bildung („value added“) ist in den letzten Jahren international stark diskutiert worden. In den meisten OECD-Ländern entwickelt sich der tertiäre Bereich zum „Hauptausbilder“, wenn über 50 % der Bevölkerung einen Hochschulabschluss erwerben. In einigen bildungsökonomischen Studien (Pritchett 2001; Wolf 2002) zeichnen sich Hinweise auf die Ineffektivität der akademischen Bildung ab und es wird konstatiert, dass der „Mehrwert“ der Hochschulbildung in der Gesellschaft überschätzt werde. Bei Befragungen in der Wirtschaft und Industrie in den letzten Jahrzehnten werden seitens der Arbeitgebenden insbesondere das sogenannte „träge“ Fachwissen der Hochschulabsolventen sowie Defizite in fachübergreifenden Kompetenzen wie Problemlösefähigkeit und kritischem Denken beklagt (DIHK 2015). Laut Studierendenbefragungen wie z. B. dem Studienqualitätsmonitor 2012 finden Aspekte wie Anwendungsorientierung und Praxisbezug im Studium nicht hinreichend Berücksichtigung (Woisch et al. 2013).

In diesem Zusammenhang kann der 2000 verabschiedete Beschluss der Kultusministerkonferenz zur „Kompetenzorientierung“, d. h. zu einer stärker auf Kompetenzvermittlung und Kompetenzerwerb ausgerichteten Hochschullehre und Prüfungspraxis, verortet werden (KMK 2000). Mit ihm wurden den in der Hochschulpraxis und der Forschung Tätigen mehrere Fragen aufgeworfen: Was müssen Studierende im 21. Jahrhundert wissen und können? Wie sind Kompetenzen im Kontext der stets zunehmenden fachkulturellen, institutionellen und individuellen Heterogenität zu betrachten? Wie können „handlungsnahe“ Kompetenzen erfolgreich vermittelt werden? Die Antworten auf diese Fragen können nur auf der Grundlage von sowohl theoretisch als auch empirisch fundierten Erkenntnissen zu den Bedingungen, zur Entwicklung und Gestaltung sowie zu den Wirkungen von akademischen Lehr-Lern-Prozessen gewonnen werden. Dies erfordert die Definition und modellgestützte Beschreibung sowie zuverlässige und valide Erfassung der in der Hochschulbildung erworbenen Kompetenzen als zentrale Zielgrößen akademischer Bildungsprozesse.

Während dieses Forschungsfeld in Deutschland jahrelang vernachlässigt wurde (siehe hierzu auch Kuhn et al. in diesem Themenheft), können auf internationaler Ebene in letzter Zeit zunehmend starke Forschungsbemühungen festgestellt werden. Exemplarisch seien die international vergleichende „Teacher Education and Development Study: Learning to Teach Mathematics (TEDS-M)“ (IAE 2011) sowie das AHELO-Programm (Assessment of Higher Education Learning Outcomes) (OECD 2013) genannt. Die Studien liefern mehrere Hinweise darauf, dass es systematische Unterschiede beim Erwerb akademischer Kompetenzen zwischen verschiedenen Fachdomänen, unterschiedlichen Hochschulinstitutionen sowie auch zwischen den Ländern gibt (s. a. die Ergebnisse der PIACC-Studie für die Gruppe der Hochschulabsolventen; OECD 2013; s. a. Lai und Vierring 2012). Offensichtlich gelingt in manchen Studienfachdisziplinen, Institutionen und Ländern die Vermittlung und Förderung von Kompetenzen besser als in anderen. Die Ursachen dafür sind jedoch sowohl auf nationaler als auch internationaler Ebene empirisch bislang nur wenig erforscht. Ihre Untersuchung stellt hochschulpraktisch und hochschulpolitisch ein wichtiges Forschungsdesiderat dar. Denn erst die Kenntnis der Erklärungsfaktoren für diese Unterschiede würde eine nachhaltige Optimierung und Entwicklung der Lehr- und Prüfungspraxis und somit den Erfolg der akademischen Ausbildung ermöglichen.

Die zu erwerbenden Fähigkeiten und Fertigkeiten – beispielhaft seien hier Problemlösefähigkeit, analytisches und kritisches Denken sowie Fachwissen und akademische Selbstkonzepte genannt – stehen als verschiedene Kompetenzfacetten inzwischen in nahezu allen Modulhandbüchern und werden von den Abnehmersystemen der akademischen Bildung zunehmend gefordert. Bislang liegen jedoch nur wenige Forschungserkenntnisse zu der Frage vor, wie und inwieweit die Kompetenzen in den verschiedenen Studienfächern und den verschiedenen Hochschulinstitutionen (Universitäten, Fachhochschulen, etc.) auch tatsächlich vermittelt bzw. erworben werden (können). Dieses Forschungsdefizit ist zweifelsohne zu einem großen Teil auf den Mangel an Messinstrumenten zur validen, reliablen und objektiven Erfassung und Analyse des Kompetenzerwerbs im Verlauf und nach Abschluss des Studiums zurückzuführen (s. Kuhn et al. in diesem Themenheft; s. a. Zlatkin-Troitschanskaia et al. 2016). Zur Passung von im Studium erworbenen und im Beruf geforderten Kompetenzen lassen sich bislang lediglich Untersuchungen finden, die auf die Fremdeinschätzung der Arbeitgebenden sowie die Selbstwahrnehmung der Absolventinnen und Absolventen rekurrieren (s. hierzu HIS 2013; DIHK 2015). So konnte bislang auch nicht hinreichend erforscht werden, wie das Entwicklungspotenzial akademischer Kompetenzen während des Studiums zu bewerten ist und welche Lehr-Lern-Angebote oder Fördermaßnahmen in der akademischen Bildung zu priorisieren sind.Footnote 1

Die Förderlinie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) „Kompetenzmodelle und Instrumente der Kompetenzerfassung im Hochschulsektor – Validierungen und methodische Innovationen“ geht aktuelle hochschulpolitische und hochschulpraktische Herausforderungen der „Kompetenzorientierung“ in der Lehr- und Prüfungspraxis an und soll einen wesentlichen Beitrag zur Schließung bestehender Forschungslücken und Defizite in der Assessmentpraxis leisten (Zlatkin-Troitschanskaia et al. 2016). Im Rahmen der insgesamt 15 geförderten Projektverbünde werden zentrale Entwicklungsbedarfe der weiterführenden Kompetenzforschung im Hochschulbereich systematisch untersucht. Es wird erforscht, wie trotz hoher konzeptueller und messmethodischer Anforderungen eine objektive, zuverlässige und valide Messung akademischer Kompetenzen gewährleistet werden kann. Damit soll das Programm zur Entwicklung des immer noch defizitären Forschungsstandes zur Modellierung und validen Erfassung akademisch erworbener Kompetenzen beitragen und effektive Lösungsansätze für Problemlagen in der aktuellen Hochschulpraxis entwickeln (Zlatkin-Troitschanskaia und Pant 2016). Die Projektverbünde erfassen Kompetenzen in verschiedenen Bereichen, die sich wie folgt gruppieren lassen: 1) Fachübergreifende Kompetenzen, 2) Kompetenzen in der Lehrerbildung und 3) Fachbezogene Kompetenzen (Medizin und Wirtschaftswissenschaften).

Die Förderlinie schließt an die KoKoHs-Initiative von 2011 bis 2015 an, in der Expertinnen und Experten aus verschiedenen Studiendisziplinen, Fachdidaktiken und Kompetenzforschung im Rahmen eines multidisziplinär und methodenintegrativ angelegten Forschungsprogramms zusammengearbeitet haben. In dieser vorangegangenen Initiative wurden Forschungsprojekte gefördert, die neben der Modellierung und Erfassung von akademisch vermittelten fachübergreifenden Kompetenzen insbesondere domänenspezifische Fertigkeiten und Kenntnisse in den Studiendomänen der Ingenieurwissenschaften, der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, der Bildungswissenschaften und der Lehrerausbildung in den MINT-Fächern erfasst haben. In den insgesamt 24 Projektverbünden wurden Kompetenzmodelle und Instrumente zur validen Erfassung akademisch erworbener Kompetenzen entwickelt und bundesweit empirisch erprobt. Die Ergebnisse zeigen, dass die für verschiedene Studiendomänen entwickelten Modelle und dazugehörigen Instrumente eine solide Grundlage für die Messung von Kompetenzen im Hochschulbereich liefern, auf der in Zukunft mit vertiefenden Analysen aufgebaut werden kann.

1 Zur Struktur und den Inhalten dieses Themenhefts

In diesem Themenheft werden sowohl die Arbeiten aus den Projekten der KoKoHs-Förderinitiative als auch weitere Studien aus diesem Forschungsfeld vorgestellt. Die Studien repräsentieren drei Fachdomänen, die in bisherigen Forschungsbemühungen besondere Berücksichtigung fanden: die Lehrerbildung, die Ingenieurwissenschaften und die Wirtschaftswissenschaften. Die im Themenheft präsentierten Studien heben einige zentrale konzeptuelle und messmethodische Ergebnisse der Kompetenzforschung im Hochschulbereich hervor und verweisen zugleich auf eine Vielzahl von Aufgaben und Herausforderungen für die weitere Forschung. Daraus lassen sich Implikationen sowie Entwicklungsperspektiven für Hochschullehre und Prüfungspraxis in der akademischen Bildung ableiten.

Im Überblicksartikel von Kuhn, Zlatkin-Troitschanskaia, Pant und Hannover betrachten die Autorinnen und Autoren in einem kritischen Review den Stand der nationalen Forschung zur validen Erfassung der im Hochschulstudium erworbenen fachspezifischen und fachübergreifenden Kompetenzen von Studierenden. Sie zeigen, dass sich die meisten Arbeiten bislang auf fachspezifische kognitive Kompetenzen, wie die Kompetenzfacette Fachwissen, und auf nur wenige Fachdomänen, wie naturwissenschaftlich-mathematische Studiengänge in der Lehrerausbildung, fokussieren. Bei der Erfassung von fachübergreifenden Kompetenzen Studierender sowie von nicht-kognitiven Kompetenzfacetten decken die Autorinnen und Autoren deutliche Erkenntnisdefizite und Herausforderungen für zukünftige Forschung auf.

Im Beitrag von Nagel und Reiss wird mathematisches Argumentieren als Kernkompetenz in mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen, speziell in mathematischen Vorkursen zu Beginn ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge, betrachtet und es werden Aspekte (erfolgreicher) Argumentation identifiziert. Bei der Untersuchung der Qualität der Argumentation, der Art der Argumente, der verwendeten Hilfsmittel und der Inhalte der Aufgabe zeigt sich insbesondere ein erheblicher Einfluss des Inhalts der Argumentationsaufgaben, der darauf hindeutet, dass in der Hochschullehre anschauliche Inhalte sowie prozedurale Verfahrensweisen als Argumentationsaspekte stärker berücksichtigt werden sollten.

Fachspezifisches Professionswissen von angehenden Mathematiklehrkräften der Sekundarstufe liegt im Fokus der Studie von Heinze, Dreher, Lindmeier und Niemand. Hierbei schlagen die Autoren und Autorinnen eine Modellierung des fachspezifischen Professionswissens von Lehrkräften mit der Unterteilung in fachdidaktisches Wissen (PCK) sowie zwei Arten von Fachwissen vor: akademisches Fachwissen (CK) und Fachwissen im schulischen Kontext (SRCK). Sie zeigen auf, dass die zwei Fachwissensdimensionen empirisch trennbar sind und diskutieren anschließend den potenziellen Mehrwert des neuen Konstrukts SRCK für die Untersuchung des Professionswissens von Lehramtsstudierenden.

Der Beitrag von Behrendt, Dammann, Ştefănică und Nickolaus behandelt fachliche Strukturen und erreichte Niveaus bei Studierenden des Maschinenbaus und des Bauingenieurwesens im Fach Technische Mechanik (TM). Für die separierbaren Teilbereiche „Statik“, „Elastostatik“ und „Dynamik“ unterscheiden die Autoren und Autorinnen auf Basis einer IRT-Skalierung drei Niveaustufen und untersuchen dabei den Einfluss potenzieller schwierigkeitserzeugender Merkmale, wie die Zahl der Lösungsschritte, die Zahl der Fachbegriffe und inhaltsspezifische Komplexitätsmerkmale. Es zeigt sich, dass für die Statik und die Dynamik vor allem die fachspezifischen mathematischen Anforderungen die Itemschwierigkeiten erklären.

Im Fokus des Beitrags von Förster, Brückner, Beck, Zlatkin-Troitschanskaia und Happ liegen individuelle und kontextuelle Prädiktoren des Fachwissenserwerbs zum Internen Rechnungswesen im Hochschulstudium, der bei Studierenden der Wirtschaftswissenschaften deutschlandweit mittels eines ins Deutsche übersetzten, adaptierten und umfassend validierten international erprobten Tests aus dem Bereich Accounting erfasst wurde. Bei der Betrachtung möglicher relevanter Einflussfaktoren auf den Fachwissenserwerb, wie hochschulischen und vorausgehenden Lerngelegenheiten, soziokulturellen Hintergrunds und Geschlecht zeigen die Befunde der Mehrebenenanalyse, dass erwartungskonform der Besuch einer Veranstaltung des Internen Rechnungswesens den größten Zusammenhang mit dem Fachwissen aufweist und eine vor dem Studium absolvierte kaufmännische Berufsausbildung bei Kontrolle weiterer einbezogener Merkmale ebenfalls in positivem Zusammenhang mit dem Fachwissen steht.

Die in diesem Themenheft gesammelten Beiträge präsentieren Ansätze zur Lösung der konzeptionellen und messmethodischen Herausforderungen bei der validen Erfassung akademischer Kompetenzen und umfassen sowohl die ausgewählten zentralen Befunde aus dem KoKoHs-Forschungsprogramm als auch weitere Projekte in diesem Forschungsfeld. Die fünf Studien machen deutlich, dass trotz der enormen theoretischen und empirischen Herausforderungen in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte in diesem Forschungsbereich erreicht werden konnten. Sie beziehen sich sowohl auf die theoretischen Modellierungen als auch auf die Entwicklung von darauf basierten Messinstrumenten und deren Validierung. Von diesen Arbeiten können wesentliche Impulse für die weitere Kompetenzforschung sowie Lehr- und Prüfungspraxis im Hochschulbereich ausgehen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber möchten allen Autorinnen und Autoren herzlich danken, die dieses Themenheft mit ihren Beiträgen unterstützt und ermöglicht haben. Ein besonderer Dank gilt auch den Gutachterinnen und Gutachtern für ihre wertvollen und konstruktiven Rückmeldungen zu den eingereichten Manuskripten.