Hinreichende Fertigkeiten im Lesen, Schreiben und Rechnen sind wesentliche Voraussetzungen für die Teilnahme am sozialen, kulturellen und politischen Leben unserer Gesellschaft. Kinder und Jugendliche mit schwachen Lese-, Rechtschreib- oder Rechenfertigkeiten sind nicht nur in der Schule, sondern auch im täglichen Leben vielfältig beeinträchtigt. Meist bestehen die Beeinträchtigung weit über die Schulzeit hinaus und gehen nicht selten mit ausgeprägten psychischen Problemen in den Bereichen, Emotion und Affekt, Verhaltenssteuerung und Aufmerksamkeit einher. Da schulische Leistungsprobleme in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen weit verbreitet sind, besteht umso mehr Grund zur Sorge. Ein Drittel aller Grundschulkinder zeigen in wenigsten einem dieser drei basalen Fertigkeitsbereiche auffällig schwache Leistungen (T-Werte unter 40). Etwa jedes achte Kind in Deutschland erfüllt dabei sogar die diagnostischen Kriterien für eine „Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten“ (vgl. Fischbach et al. 2013; Moll et al. 2014).

Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten oder – wie oftmals in schulischen Kreisen bezeichnet – Lern- und Leistungsstörungen in den Bereichen Lesen, Rechtschreiben und Rechnen beschäftigt seit Jahrzehnten weite Kreise in Schulpädagogik, Sonderpädagogik, Psychologie und Medizin. Dabei bleibt oft unscharf definiert, was genau unter Lern- und Leistungsstörungen zu verstehen ist. In der offiziellen Fassung der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ (ICD-10; Dilling et al. 2000) werden sie über das Vorliegen (erwartungswidriger) Minderleistungen im Bereich des Lesens, des Rechtschreibens und des Rechnens definiert. Die Erwartungswidrigkeit der Minderleistung wird dabei an drei Kriterien festgemacht. Die Leistung muss deutlich unter dem aufgrund a) des Alters, b) der allgemeinen Intelligenz und c) der Beschulung erwartbaren Niveaus liegen. Dies hat zur Folge, dass die Diagnose „Entwicklungsstörung“ streng genommen nur gestellt werden darf, wenn eine lernbereichsspezifische Minderleistung (in der Regel mit Hilfe von Schulleistungstests nachgewiesen), eine allgemeine Intelligenz mit einem IQ über 70 und eine bedeutsame Diskrepanz zwischen den allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten (gemessen durch den Intelligenztest) und den Leistungsbereichen im Lesen (Lesegeschwindigkeit, Lesefehler, Leseverständnis), Rechtschreibung (Rechtschreibfehler) und Rechnen (arithmetisches Faktenwissen, Größen- und Mengenvorstellung, mathematisches schlussfolgerndes Denken) nachweisbar ist. Die Minderleistung wird dabei über die Diskrepanz zwischen dem für die jeweilige Klassen- bzw. Altersstufe erwartbaren und dem individuellen Leistungsniveau bestimmt. Verbreitet ist es, einen Diskrepanzwert zwischen 1–1,5 Standardabweichungen (10–15 T-Wertpunkte) zugrunde zu legen, wodurch Leistungsniveaus von einem Prozentrang kleiner als 16 (bei 10 T-Wertpunkten Abweichung vom mittleren Erwartungswert der Altersgruppe) als Minderleistungen bezeichnet werden.

Um die Situation für die Betroffenen zu verbessern, ist sowohl eine ursachenbezogene individuelle Diagnostik als auch eine effektive evidenzbasierte Förderung von zentraler Bedeutung. Bisher ist die Evidenzlage der Fördermaßnahmen in den genannten Bereichen noch weitgehend unbefriedigend (Ise et al. 2012). Auch im Bereich der individuellen und ursachenbezogenen Diagnostik bedarf es weiterer Anstrengungen. Im Forschungsschwerpunkt „Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) aufgesetzten Rahmenprogramms „Empirische Bildungsforschung“ wurden empirisch ausgerichtete Forschungsvorhaben gefördert, die dazu beitragen, Kindern und Jugendlichen, die von Störungen im Bereich des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens betroffen sind, eine individuelle, ursachenbezogene Diagnostik und evidenzbasierte Förderung zu ermöglichen. Die in diesem Schwerpunkt seit 2011 geförderten Projekte werden durch eine Koordinierungsstelle am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt und am Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität München unterstützt, um die Zusammenarbeit zwischen den Projekten zu unterstützen, sie interdisziplinär und international zu vernetzen und die Forschungserträge in Wissenschaft und Gesellschaft zu dissiminieren. Alle Beiträge dieses Themenschwerpunktes entstammen oder stehen in enger Verbindung zu dem BMBF-geförderten Schwerpunkt.

Der erste Beitrag „Stichwort: Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ von Thomas, Schulte-Körne und Hasselhorn wurde im Rahmen der Tätigkeit der Koordinierungsstelle für diesen Forschungsschwerpunkt erstellt. Er gibt einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Thema. Dabei werden die allgemeinen Definitionen und Kriterien zur Feststellung einer umschriebenen Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten erläutert sowie auf Einschränkungen und aktuelle Prävalenzschätzungen eingegangen. Außerdem wird ein differenzierter Überblick des aktuellen Forschungsstands zu den Ursachen, der Diagnostik sowie der effektiven Prävention bzw. Intervention für die Lese-Rechtschreib-Störung, die Rechenstörung und die kombinierten Störungen schulischer Fertigkeiten gegeben.

Die nächsten drei Beiträge beschäftigen sich mit Interventionsmöglichkeiten bei Kindern, die unter einer Lese-Rechtschreibstörung leiden bzw. schwache Leseleistungen zeigen. Ausgehend von Befunden, dass Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen Funktionsdefizite im Bereich des phonologischen (und bisweilen auch zentral-exekutiven) Arbeitsgedächtnisses aufweisen, entwickelten Mähler, Jörns, Radtke und Schuchardt ein computerbasiertes adaptives Trainingsprogramm, bei dem unterschiedliche Arbeitsgedächtnisfunktionen systematisch geübt werden. In einer gut kontrollierten Evaluationsstudie wurden Drittklässler mit und ohne Lese-Rechtschreibschwierigkeiten dem neu entwickelten Trainingsprogramm unterzogen. In Übereinstimmung mit britischen Ansätzen dieser Art fanden sich kurzfristige Steigerungen in der Funktionstüchtigkeit des visuell-räumlichen und (für Kinder ohne Lese-Rechtschreibschwierigkeiten) zentral-exekutiven Arbeitsgedächtnisfunktionen. Die Funktionen des phonologischen Arbeitsgedächtnisses erwiesen sich dagegen als weitgehend änderungsresistent.

Dieser Befund passt gut zu den Ergebnissen der Übersichtsarbeit von Galuschka und Schulte-Körne, in der die empirische Evidenz für die Wirksamkeit von Interventionsansätzen und Programmen zur Förderung von Leseleistungen bei Kindern und Jugendlichen mit Lesestörung auf der Basis aktueller Metaanalysen durchleuchtet wird. Dabei zeigt sich, dass besonders Förderprogramme die Lesekompetenz der betroffenen Kinder und Jugendlichen verbessern, die auf Methoden der Graphem-Phonem- bzw. Phonem-Graphem-Korrespondenz aufbauen und das Gliedern von Wörtern in kleinere Einheiten und das wiederholte Lesen von Wortteilen nutzen, während allgemeine auditive Funktionstrainings sich neben vielen anderen Ansätzen nicht als wirksam nachweisbar waren.

Die Arbeit von Müller, Mayer, Richter, Križan, Hecht und Ennemoser beschäftigt sich ebenfalls mit der Wirksamkeit von Lesetrainings. Die Autoren untersuchten die Wirkungen dreier Ansätze zur Leseförderung in der Mitte der Grundschule, die sich empirisch als effektiv erwiesen haben: Phonics-Übungen sowie Leseflüssigkeits- und Lesestrategietrainings. Auch wenn sich kurzfristig Effekte der Phonics-Übungen und des Strategietrainings auf Prozesse der Worterkennung und der Integration auf Satzebene zeigten, blieben längerfristige Trainingswirkungen aus. Die Autoren leiten daraus die Vermutung ab, dass die Aufrechterhaltung der vermittelten Fertigkeiten prinzipiell wirksamer Lesetrainings durch anschließende unterrichtliche Maßnahmen sichergestellt werden müsse.

Und schließlich werden in dem letzten Beitrag dieses Themenhefts Analysen eines Längsschnittprojektes vorgestellt, in dem Kinder mit umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten vom Ende der zweiten bis zum Ende der vierten Klassenstufe untersucht wurden. Schuchardt, Brandenburg, Fischbach, Büttner, Grube, Mähler und Hasselhorn gehen dabei der Frage nach, ob die Minderleistungen von Kindern mit Lernstörungen mit einem bereichsspezifisch niedrigem schulischen Selbstkonzept einhergehen (z. B. ein niedriges mathematische Selbstkonzept bei Kindern mit Dyskalkulie) oder ob es im Verlauf der späteren Grundschuljahre auch zu Generalisierungen niedriger Selbsteinschätzungen eigener Leistungsmöglichkeiten auf andere – leistungsmäßig nicht beeinträchtigte schulische Bereiche kommt (z. B. ein niedriges mathematische Selbstkonzept bei mit einer Lese-Rechtschreibstörung).

Die Beiträge des vorliegenden Themenheftes dokumentieren einerseits die Vielfalt aktueller Forschungsbemühungen zur individuellen und evidenzbasierter Förderung von Kindern und Jugendlichen mit umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, andererseits verdeutlichen sie die zahlreichen Desiderate, die es noch zu überwinden gilt, wie z. B., die geringen Effektstärken und vor allem die geringe oder fehlende Nachhaltigkeit einzelner Förderkonzepte, um die Probleme der Betroffenen in der pädagogischen Praxis in den Griff zu bekommen. Für zukünftige Forschungsarbeiten ergibt sich daher neben interessanten und wichtigen interdisziplinären Anknüpfungspunkten vor allem die Erkenntnis, dass nach wie vor noch viele Fragen offen sind.