1 Editorial

Als im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft trat, bewirkte sie im deutschen Bildungswesen einen wichtigen Perspektivenwechsel. Ziel dieser weltweit akzeptierten Konvention ist es, möglichst alle Kinder und Jugendliche gemeinsam in einer Schule zu unterrichten. Die Entwicklung zu einer inklusiven Schule führt zu beträchtlichen Anforderungen an die Bildungspolitik, die Schul- und Unterrichtsplanung, die Lehrer- und Lehrerinnenausbildung, die Gestaltung der Unterrichtspraktiken und die Kooperationsfähigkeit der Eltern, Schüler und Schülerinnen. In den Voraussetzungen, Gesetzgebungen und Planungen und der Realisierung eines inklusiv organisierten Schulsystems unterscheiden sich die Bundesländer beträchtlich. Die gegenwärtige Situation ist vielfältig; in ihr wird mit unterschiedlichen Inklusionsbegriffen, Inklusionsstrategien, pädagogischen und didaktischen Vorstellungen gearbeitet. Meistens wird der Begriff auf die Inklusion von Kindern mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf begrenzt; nicht selten wird jedoch Inklusion auch auf den Einschluss von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund bezogen. In allen Bundesländern gibt es Reformanstrengungen, für die auch zusätzliche finanzielle Mittel aufgebracht werden. In dieser Situation des Aufbruchs, in der die Entwicklung in den Bundesländern unterschiedlich weit gelangt ist, versucht dieses Heft der ZfE eine Zwischenbilanz des gegenwärtigen Stands der Entwicklung zu erarbeiten.

Rolf Wernings Stichwortartikel macht deutlich: Inklusion ist ein vieldimensionales Konzept, das in seinem Beitrag zur Reform der Schule dargestellt wird, jedoch prinzipiell die gesamte Lebensspanne umfasst. Inklusion ist eine globale und eine regionale Aufgabe. Als spezifische Inklusion fokussiert sie Kinder und Jugendliche mit Behinderungen bzw. sonderpädagogischem Förderbedarf. Neben dieser Akzentuierung zielt der Begriff häufig auf eine allgemeine Ausrichtung. Mit dieser umfasst er auch Fragen der Bildungsgerechtigkeit im „Kontext von Multikulturalität, Geschlecht und sozialer Herkunft“ und das Anliegen einer „Pädagogik der Vielfalt“. Wie müssen Schulen gestaltet werden, damit alle Kinder und Jugendliche möglichst gut gefördert werden? Dabei spielen Probleme des Zugangs, der Akzeptanz, der sozialen Partizipation und der Leistungsverbesserung eine wichtige Rolle. Diese Überlegungen zielen darauf, an der Entwicklung einer inklusiven Schul- und Unterrichtsentwicklung zu arbeiten, in deren Rahmen entsprechende Kulturen, Strukturen und Praktiken einen wichtigen Teil einnehmen. Schließlich untersucht der Artikel unter Bezug auf vorliegende Forschungen die Einstellungen und Überzeugungen von Lehrkräften im Hinblick auf Inklusion und macht deutlich, wie komplex der Weg zu einer inklusiven Schule ist und wie notwendig umfangreiche diesen Prozess begleitende Forschungen sind.

Klaus Klemms Artikel zeigt mithilfe bildungsstatistischer Daten, dass der Weg zur inklusiven Schule und besonders zur inklusiven Sekundarstufe noch weit ist. Im ersten historischen Teile seiner Untersuchung wird dargelegt, dass sich die Beschulung der Kinder mit sonderpädagogischem Förderungsbedarf seit den fünfziger Jahren in zwei Phasen einteilen lässt. In der ersten Phase erfolgt ein Ausbau der Sonderschule bzw. der Förderschule, in die im Schuljahr 1952/1953 lediglich 2 % der Kinder gehen. Die Expansionsphase (oder auch Phase des Ausbaus) des Bildungswesens in den siebziger Jahren erfasst auch den Sonderschulbereich, so dass die Förderquote behinderter Kinder in der alten Bundesrepublik in dieser Zeit auf 4,8 % wächst. Sie geht dann aber in den achtziger Jahren (in der zweiten Phase, der Phase der Entwicklung/ des Rückbaus) auf 4,1 % aller Schülerinnen und Schüler der siebten Jahrgangsklasse zurück; im Schuljahr 2012/2013 sogar auf 3,6 %. Zugleich wächst der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, von 13,4 % im Jahr 2001/2002 auf 18,4 % im Jahr 2008/2009 und auf 28,2 % im Jahr 2012/2013. Der Inklusionsanteil ist in den Bundesländern und in den Schulstufen sehr unterschiedlich. Die allgemeine Förderquote von Kindern mit Förderbedarf reicht 2012/2013 von 5 % in Niedersachsen bis zu 10,1 % in Mecklenburg-Vorpommern. Der Anteil der inklusiven Bildung reicht von 63,1 % in Bremen bis 14,7 % in Niedersachsen. Der Anteil der inklusiv geförderten Kinder ist im frühkindlichen Bereich und in der Grundschule wesentlich höher als in der Sekundarschule bzw. im Gymnasium. Ein zentrales Problem liegt darin, dass Kinder in den Bundesländern nach sehr unterschiedlichen Kriterien als förderungsbedürftig eingestuft werden, es also keine allgemein verbindlichen Kriterien für die Diagnose des Förderbedarfs gibt. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass Inklusion in der Sekundarstufe bzw. im Gymnasium bisher nur unzureichend realisiert wird, so dass hier ein erheblicher Handlungs- und Forschungsbedarf besteht.

Ziel des Beitrags von Colin Cramer und Martin Harant zu „Inklusion – Interdisziplinäre Kritik und Perspektiven von Begriff und Gegenstand“ ist es, Widersprüche und Aporien in der gegenwärtigen Debatte um Inklusion zu identifizieren und kritisch zu bearbeiten. In der Inklusionsdebatte geht es um die Teilhabe an Gesellschaft und Bildung. Drei Problemebenen werden unterschieden: auf der Makroebene das Menschenrecht „Inklusion“, auf der Mezoebene die Realisierung dieses Menschenrechts und auf der Mikroebene die Umsetzung dieser Prinzipien. Im Weiteren wird der Inklusionsbegriff auf diesen drei Ebenen präzisiert. Historische und bildungstheoretische Positionen, Fragen der Anerkennung und Vergemeinschaftung sowie technologische Mittel der Realisierung werden erörtert.

Vera Moser, Jan Kuhl, Hubertus Redlich und Lea Schäfer wenden sich mit ihrer empirischen Untersuchung Einstellungen und Überzeugungen – „Beliefs“ – von Studierenden sonder- und grundschulpädagogischer Studiengänge in Deutschland zu. Diese Beliefs beziehen sich auf die Förderung, Unterstützung, Therapie und Integration marginalisierter und/oder behinderter Schülerinnen und Schüler im Unterricht. Die Autoren entwickeln auf der Basis von Voruntersuchungen ein Beliefs-Modell von spezifischen förderpädagogischen und domänenübergreifenden (nicht auf ein Unterrichtsfach oder eine sonderpädagogische Fachrichtung bezogenen) Einstellungen, operationalisieren dieses in einem Fragebogen und berichten über eine Befragung von fast tausend Studierenden grundschul- und sonderpädagogischer Lehramtsstudiengänge. Es zeigt sich, dass unabhängig vom studierten Lehramt höhere individuumsbezogene und emphatische Einstellungen von Studierenden mit einer höheren Inklusionsorientierung und einer höheren psychiatrisch-therapeutischen Orientierung einhergehen. Die Beliefs von Studierenden von sonder- und grundschulpädagogischen Studiengängen sind nicht identisch. Übereinstimmende Beliefs im Hinblick auf positive Einstellungen zur Inklusion können die gemeinsame Arbeit von sonder- und grundschulpädagogischer Fachkräfte befördern, während Unterschiede im Hinblick auf z. B. medizinisch-therapeutische Orientierungen einer erfolgreichen gemeinsamen Arbeit nicht entgegenstehen müssen, sondern eher unterschiedliche Perspektiven in multiprofessionellen Teams bedingt durch Ausbildung und Arbeitsauftrag widerspiegeln.

Der Beitrag von Justin J.W. Powell und Julia Biermann vergleicht – den Thementeil abschließend – institutionelle Aspekte inklusiver Schulbildung in Deutschland, Island und Schweden. Der Vergleich erfolgt entlang einer rechtlichen, einer normativen und einer kulturell-kognitiven Dimension inklusiver Bildung. Dabei wird deutlich, wie unterschiedlich die Förderung von als förderbedürftig wahrgenommen Schülerinnen und Schülern in den drei Ländern erfolgt. Island und Schweden – als unterschiedliche Facetten von „Inklusionsländern“ – ähneln sich in vielen Aspekten, ein bedeutsamer Unterschied besteht allerdings darin, dass in Schweden auf eine offizielle Definition und Klassifikation von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf verzichtet wird. Dieser dezidierte „Antiklassifizierungsansatz“ führt dazu, dass solche Schülerinnen und Schüler in der allgemeinen Schule statistisch nicht erfasst werden. Der Beitrag schließt mit Hinweisen der beiden Autoren, wie ihrer Ansicht nach in Deutschland inklusive Schulbildung (besser) verwirklicht werden könnte.