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Abduktion, Induktion – Konfusion

Bemerkungen zur Logik der interpretativen Sozialforschung

Abduction, induction – confusion

Notes on the logic of interpretative social research

  • Allgemeiner Teil
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Zeitschrift für Erziehungswissenschaft Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Wenn in der erziehungswissenschaftlichen Forschung von Kategorienbildung u. ä. gesprochen wird, so erfolgt dies in der Regel unter einem Verweis auf die „Induktion“. Die empirische Bestätigung bestehender Gesetze geschieht ebenfalls induktiv – ebenso wie Daten induktiv gesammelt werden. Die äquivoke Verwendung dieses Begriffs widerspricht einem einheitlichen Verständnis der Logik der Forschung. Mit Bezug auf den amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce wird seit einiger Zeit eine alternative Theorie der Erkenntnisgewinnung durch Abduktion thematisiert. Der vorliegende Artikel stellt einen Beitrag zu dieser Diskussion dar. Mittels einer strukturellen Betrachtung der Prozesse der Erkenntnisgewinnung und -sicherung wird eine einheitliche sowie logisch-philosophisch angemessene Reflexion von Untersuchungsergebnissen der interpretativen Sozialforschung angeboten.

Abstract

When education research speaks of category-building, a reference is usually made to “induction”. The empirical confirmation of existing laws would also occure inductively, as is the data also collected inductively. The ambiguous use of this term contradicts a unified understanding of the logic of research. With reference to the American philosopher Charles Sanders Pierce, an alternative theory of knowledge acquisition through “abduction” has been discussed recently. This paper contributes to this debate. A unified and (logic-)philosophically adequate reflexion of results of investigations from interpretative social research will be proffered using a structural look at the process of knowledge acquisition and securing knowledge.

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Abb. 1
Abb. 2
Abb. 3
Abb. 4
Abb. 5
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Abb. 7
Abb. 8
Abb. 9

Notes

  1. Zur Induktion im Kontrast von Gesetzesgenerierung und -bestätigung vgl. Kelle 1997, S. 115 ff.

  2. Diese Ausarbeitung ist der methodologischen Diskussion in der qualitativen Sozialforschung gewidmet. Auf eine Thematisierung der Erkenntnisse und Diskussionen aus anderen Bereichen, wie etwa der KI-Forschung, der Kriminologie und der analytischen Philosophie, muss wegen des eingeschränkten Umfangs verzichtet werden.

  3. Ein Hinweis aus logischer Sicht: Die Deduktion ist an dieser Stelle schematisch auf All-Beseitigung und „Modus ponens“ beschränkt. Peirce nimmt dieses Schema als das elementare Schema der Deduktion. Er zeigt, dass sich alle Syllogismen auf die drei Schlussformen Deduktion, Induktion und Abduktion reduzieren lassen. Weiterhin werden mit diesem Schema (und auch den noch folgenden) nur solche Gesetze erfasst, die auf abzählbar unendlich viele Subjekte reduziert sind. Diese Reduktion stellt eine Vereinfachung zugunsten der Verständlichkeit dar. Auch werden im Folgenden nicht einzelne Ausprägungen der Deduktion diskutiert, weil es hier eher um den grundsätzlichen Unterschied zwischen Induktion und Abduktion, als um ein eingehendes Verständnis der (mathematischen) Logik geht.

  4. Die Bedeutung der Termini aus der Logik ist nicht mit ihrer alltäglichen Bedeutung gleichzusetzen. Betrachtet man im sozialwissenschaftlichen Kontext einen „Fall“, so bezieht man sich hiermit zumeist auf ein Phänomen, dass es zu analysieren gilt. Im weiteren Verlauf dieses Artikels wird sich zeigen, dass ein solcher „Fall“ kein Fall im logischen Sinn ist, sondern vielmehr ein „Resultat“. Der „Fall“ bei der logischen Analyse zeichnet sich ausschließlich dadurch aus, dass er eine konkrete Realisierung des Antecedens eines Gesetzes ist.

  5. Wie spätestens das zweifelhafte Beispiel zur Entdeckung Newtons zeigt, sollen die hier verwendeten Beispiele keine Beispiele für oder aus Forschungsvorhaben sein. Vielmehr sollen sie dazu dienen, auf eine einfache Art die Unterschiede zwischen den Schlussformen zu verdeutlichen.

  6. Man mag das allgemeine „Gesetz“ (Peirce selbst nutzt hierfür an einer anderen Stelle den Terminus „rule“, CP 2.623, 1878) nicht in der Beschreibung der Abduktion von Peirce wieder erkennen. Hier folgt der Verfasser den Überlegungen von Hempel und Oppenheim, die besagen, dass jede Erklärung mindestens ein allgemeines Gesetz enthalten muss (s. Stegmüller 1976, S. 454). Im „Bohnenbeispiel“ (CP 2.623) nutzt Peirce selbst ein allgemeines Gesetz. Der Terminus „Gesetz“ ist nicht auf gültige Theoreme beschränkt, sondern umfasst jede allgemeine konditionale („wenn …, dann…“) Beziehung (auch solche, die nicht richtig sind). Ein vergleichbares Schema und differenziertere finden sich in Schurz (2008). Bei der Rekonstruktion von Schüleräußerungen hat sich dieses Schema als brauchbar erwiesen, sodass eine weitere Differenzierung nicht notwendig erscheint. Natürlich kann R ( x 0 ) auch ein allgemeiner Zusammenhang sein.

  7. Würde dieses Beispiel entsprechend der anderen Auffassung mit dem Schema der Induktion rekonstruiert werden, so würde das beobachtete Phänomen (das Resultat der Abduktion) als Resultat (und nicht als Fall) der Induktion erscheinen. Zudem würde die mögliche Erklärung (der Fall der Abduktion) als Fall der Induktion die oberste Prämisse bilden.

  8. Minnameier (2004 und 2005) führt noch eine weitere Unterscheidung an, die hier nicht weiter thematisiert werden kann. Weiterhin wird in der Literatur diskutiert, ob der Terminus „Abduktion“ für den Schluss auf eine beliebige (Peirce) oder auf die beste Erklärung (Harman) reserviert sein sollte (Paavola 2006; Minnameier 2004). Auch diese Diskussion kann hier nicht aufgegriffen werden. Es sei jedoch angemerkt, dass diese Arbeit der Theorie von Peirce folgt und somit alle möglichen Hypothesen abduktiv gewonnen werden (vgl. hierzu auch Meyer 2007a, S. 218 ff.). Diese können dann im weiteren Forschungsprozess (s. Abschnitt 5) einer Überprüfung unterzogen werden.

  9. Goethes Faust zu Wagner: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit, sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grunde nur der Herren eig‘ner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“.

  10. In der Wissenschaft finden sich natürlich auch andere theoretische Ansätze. Kognitionspsychologisch und interaktionistisch geprägte Untersuchungen werden hieraus als zwei konträre Pole ausgewählt.

  11. Man denke z. B. an einen Arzt, der ausgehend von Symptomen wie Fieber eine Grippe diagnostiziert. Der Nachweis von Influenzaviren gibt zwar Aufschluss darüber, dass die Person an einer Grippe leidet (theoretischer Erkenntnisweg), ob aber das Fieber dieser Person hierdurch bedingt ist, mag zwar plausibel sein, jedoch ist dieser Zusammenhang nicht notwendig.

  12. Hier ‚versteckt‘ sich eine weitere Möglichkeit der Hypothesenprüfung: Denn ebenso wie die Darstellung seiner Abduktion einem Schüler zur Plausibilisierung seiner Entdeckung dient, dienen die vom Unterrichtsforscher dargestellten Interpretationen (z. B. die rekonstruierten Abduktionsschemata in Abschnitt 4) zur Rechtfertigung der Abduktionen des Wissenschaftlers (Abduktionen zweiten Grades). Wenn ein anderer Forscher mit einem anderen Hintergrund bzw. Kontextwissen zu vergleichbaren Rekonstruktionen kommt, dann wird die Hypothese plausibler.

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Meyer, M. Abduktion, Induktion – Konfusion. Z Erziehungswiss 12, 302–320 (2009). https://doi.org/10.1007/s11618-009-0067-1

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