1 Die Vielgestaltigkeit des Disruptiven

Dieser Text hat sehr von den Anmerkungen der Gutachter/innen und der Herausgeber sowie den Kommentaren von Hilmar Schäfer und Nike Thurn profitiert. Ihnen gilt mein herzlicher Dank!

Seit ihrer Entstehung ist die Ethnomethodologie (im Folgenden auch EM) an disruptiven Situationen interessiert (Maynard und Clayman 2003, S. 177 ff.). Ethnomethodologische Forschung legt einen deutlichen Fokus auf abweichendes Verhalten, improvisatorisches Handeln und die Erschütterungen vermeintlich konventioneller Ordnungen (Lynch 2011, S. 932). In diesem Zusammenhang sind es in erster Linie die sogenannten breaching experiments bzw. „Krisenexperimente“, wie sie häufig ins Deutsche übersetzt werden (z. B. Abels 2009, S. 91), welche der EM über den soziologischen Diskurs hinaus zu Bekanntheit verholfen haben. Diese ursprünglich von Harold Garfinkel entwickelten Verfahren haben der Ethnomethodologie den Ruf einer originellen Forschungs- und Lehrposition eingebracht (Rafalovich 2006; Lynch 2011), die Experimentalanordnung als wissenschaftliche Methode deutlich popularisiert (Gregory 1982, S. 49; Patzelt 1987, S. 112), zugleich aber auch negative Reaktionen hervorgerufen: etwa den Vorwurf des „Sadismus“ oder des Soziologietreibens als pures „Happening“ (für beide Kritiken Gouldner 1970, S. 390 ff.). Derartige affirmative sowie pejorative Bezugnahmen führten sogar zu dem Ergebnis, die gesamte Forschungsrichtung der EM, wohlgemerkt fälschlicherweise, auf diese vermeintlichen „Experimente“ als Methode engzuführen (Rawls 2002, S. 8).

Diesen engen Fokus auf die frühen breaching experiments möchte der vorliegende Artikel erweitern. Denn ein systematischer Blick auf das Thema der Disruption in der Ethnomethodologie macht deutlich, dass sich das Interesse an „trouble“ (Garfinkel 1963, S. 187) in der EM durchaus vielgestaltiger darstellt, sich weder auf die Verfahren der breaching experiments noch auf die frühen Untersuchungen aus der Gründungszeit reduzieren lässt. Vielmehr kann das Disruptive als eine thematische sowie methodologische Kontinuität sowohl in den Schriften des Gründervaters Harold Garfinkel als auch seiner Kollegen und Schüler angesehen werden.Footnote 2 Der konzeptionelle und forschungspraktische Zuschnitt dieser Disruptionen unterliegt dabei allerdings Wandlungen. Diesen Veränderungen des Disruptiven im Laufe der (Theorie-)Entwicklung der EM soll im Folgenden nachgespürt werden. Das Ziel des Artikels ist es, die verschiedenen Konfigurationen des Disruptiven zu identifizieren und so erstens die jeweiligen konzeptionellen Verschiebungen nachzuzeichnen, um daran anschließend, zweitens, nach etwaigen methodologischen Implikationen dieser verschiedenen „Brüche“ zu fragen.

Überraschenderweise kann dabei, trotz der soziologischen Bekanntheit der breaching experiments, kaum auf systematische Vorarbeiten zum Thema zurückgegriffen werden. Zwar wurden verschiedentlich Veränderungen hinsichtlich Garfinkels Interesse an sozialen Bruchstellen bemerkt (etwa bei Pollner 2012), aber systematisch meist nicht weiter verfolgt.Footnote 3 Demgegenüber wird im vorliegenden Beitrag anhand der Auseinandersetzung mit Garfinkels Schriften gezeigt, dass sich in seinem Werk mindestens zwei Formen des Disruptiven finden lassen, die als „beobachtete Fremdkrisen“ und „erlebte Selbstkrisen“ beschrieben werden können.Footnote 4 Während die erste Form auf die zunächst experimentell-induzierte, später natürliche Erschütterung der Alltagserwartungen von Untersuchungspersonen abzielt, lassen sich die Disruptionen im späteren Werk Garfinkels vornehmlich als Erschütterungen eigener, die Forscherperson betreffende, Fertigkeiten beschreiben. Vor allem diese zweite Form findet in der Rekonstruktion der EM bislang nur wenig Beachtung. Nimmt man aber beide Formen des Disruptiven in den Blick, wird deutlich, dass die alleinige Fokussierung auf die frühen breaching experiments den originellen Kern der ethnomethodologischen Überlegungen verdeckt: die Bemühung um eine kontinuierliche Weiterentwicklung eines methodischen und methodologischen Instrumentariums, mithilfe dessen die alltäglichen Praktiken des Nicht-Disruptiven und der Krisenvermeidung erhellt werden können.

Um diese verschiedenen Formen des Disruptiven in den Blick zu bekommen, schlage ich vor, sie als Handlungs- und Interaktionskrisen zu begreifen. Derartige Krisen bezeichnen Situationen, in denen eine maßgebliche, gleichwohl temporär begrenzte, Erschütterung gewohnter, selbstverständlicher Handlungsroutinen auftritt, die eine deutliche, das heißt bedeutende, intensive und umfangreiche Auseinandersetzung mit den neuen Gegebenheiten nach sich zieht.Footnote 5 Krisen sind damit mehr als bloße minimale Störungen innerhalb des Handlungsverlaufs oder leichte Erschütterungen der Interaktionsgewohnheiten. Diejenigen Momente, die Garfinkel und seine Kollegen im Blick haben, wenn sie soziale Brüche fokussieren, sind meist umfassender und diesseits einer impliziten Dimension „pragmatischer Reflexivität“ (Endreß 2002, S. 70) zu verorten. Dies bedeutet, dass die Handlungskrisen auf einer individuellen Ebene nicht selten starke Emotionen evozieren (etwa Verwirrung, Angst, Anomie) und regelmäßig zur Ausbildung neuer Handlungspraxen führen. Die Handlungs- und Interaktionskrisen sind damit auch nicht als unbewusste, kognitiv-präreflexive Handlungsunterbrechungen zu begreifen. Es geht Garfinkel um wirkmächtige Erschütterungen des Alltags, welche sich allgemein durchaus als bewusste „Orientierungskrisen“ (Eberle 1984, S. 136) innerhalb der Handlungspraxis begreifen lassen.Footnote 6

Bei diesem Verständnis des Disruptiven als Handlungskrise ist zu beachten, dass mit dem Begriff der Krise kein Terminus der EM gewählt ist.Footnote 7 Zwar erhalten diese Krisensituationen als empirischer Gegenstand sowie im Zusammenhang mit dem methodischen Vorgehen eine große Aufmerksamkeit durch Ethnomethodolog/innen, als Begriff allerdings kommt „Krise“ in der EM kaum vor. Auch die bekannte Bezeichnung des „Krisenexperiments“ ist kein ethnomethodologischer Fachbegriff, sondern Ergebnis der Übersetzung (von breaching experiments) und der offensichtlichen Popularisierung dieser Bezeichnung. Aber gerade die begriffliche Außenperspektive ist hier geeignet, um verschiedene Disruptionen zu erfassen und so die analytische Sensibilität für jegliche Handlungskrisen zu erhöhen und nicht nur die frühen „breachings“ in den Blick zu nehmen (so etwa Pollner 2012).

Der Artikel ist wie folgt aufgebaut: Den Ausgangspunkt bildet die frühe Konzeption der breaching experiments in Garfinkels Trust-Paper (1963) sowie in den Studies in Ethnomethodology (Garfinkel 1967) (Abschnitt 2 und 3). Dem folgt ein Blick auf neuere Handlungs- und Interaktionskrisen, wie sie in Garfinkels späteren Studien aus Ethnomethodology’s Program (2002) angelegt sind (4). Abschließend werden die so identifizierten Konzeptionen auf ihre analytischen und methodologischen Konsequenzen befragt (5), um zusammenfassend einen Ausblick auf das methodologische Potenzial der Garfinkel’schen Überlegungen zu geben (6).

2 Vertrauen und Spielkrisen: die breaching experiments

Der wohl bekannteste Bezug zu Handlungs- oder Interaktionskrisen in der Ethnomethodologie offenbart sich in den breaching experiments Garfinkels. Diese wurden vor allem durch sein Trust-Paper (Garfinkel 1963) und den Aufsatz zu den „Routine Grounds“ (Garfinkel 1967, S. 35 ff.) einem breiteren Publikum bekannt und in der Folge wiederholt aufgegriffen (etwa Mehan und Wood 1975; Crabtree 2004; Rafalovich 2006).Footnote 8 Kurz gesagt geht es in beiden Aufsätzen darum, die Stabilität und Ordnung alltäglicher Handlungssituationen zu ergründen, indem gerade die Erschütterungen der stabilen Ordnung dieser Situationen in den Blick genommen werden.

Den Ausgangspunkt von Garfinkels Überlegungen bildet die sozialtheoretische Beobachtung, dass zahlreiche Interaktionen von Personen über die Zeit hinweg eine hohe Stabilität, mithin auch eine vermeintliche Persistenz aufweisen. Wie aber ist eine solche Konstanz sozialer Ordnung möglich? Die klassische soziologische Antwort verweist auf übersituativ stabile, handlungsanleitende Merkmale wie etwa Regeln, Werte, Normen. Eine entsprechende soziologische Analyse setzt demnach den Fokus auf die Untersuchung des Zusammenhangs dieser Merkmale mit verschiedenen soziokulturellen Variablen, indem Aspekte wie Klassenlage, Status, Einkommen etc. erfragt werden. Garfinkel hingegen schlägt einen anderen Weg vor. Er möchte den Fokus auf die alltäglichen (Ethno-)Methoden der Akteurinnen und Akteure legen, die diese benutzen, um ordentliche Handlungen zu vollziehen. Um diese nachzuzeichnen, sollen Soziolog/innen ein System stabiler Interaktionsroutinen in den Blick nehmen und überprüfen, was es benötigt, um diese Stabilität zu unterlaufen und eine anomische Situation zu evozieren.Footnote 9 Denn mithilfe dieser methodischen Hervorbringung von Abweichung werden diejenigen Basisregeln („basic rules“) oder Ethnomethoden sichtbar, die nötig sind, um eine Handlung zu vollziehen:

An alternative procedure [im Vergleich zur klassischen Soziologie, H.K.] would appear to be more economical: to start with a system of stable features and ask what can be done to make for trouble. The operations that one would have to perform in order to produce and sustain anomic features of perceived environments and disorganized interaction should tell us something about how social structures are ordinarily and routinely being maintained. (Garfinkel 1963, S. 187).

Im Trust-Aufsatz nimmt sich Garfinkel zunächst den spezifischen Realitätsausschnitt des Spiels vor, da dieser relativ stabil gehalten werden kann und so einen guten analytischen Zugang zu gemeinsamen Erwartungs- und Reziprozitätskonstellationen ermöglicht. Allerdings zeigen sich dort bereits Elemente alltäglicher Handlungssituationen, die auch in der „natürlichen Einstellung“ deutlich werden; etwa die konstitutive Unvollständigkeit von Regeln. Anhand von „Tic-Tac-Toe“ sollen die zugrundeliegende Ordnung von Spielen („constitutive order of games“, Garfinkel 1963, S. 190) und die damit verknüpfte Rolle von Vertrauen analysiert werden (ebd., S. 201–206). Bei Tic-Tac-Toe, im deutschsprachigen Raum auch als „Drei Gewinnt“ bekannt, handelt es sich um ein simples, strategisches Zwei-Personen-Spiel, bei dem die Spieler durch das abwechselnde Setzen von Kreuzen oder Kreisen in eine Neun-Felder-Matrix eine Reihe oder Diagonale von drei gleichen Zeichen erreichen sollen.

Garfinkel bat seine Studierenden, die Rolle des bzw. der Experimentator/in (E) zu übernehmen und dieses Spiel mit mehreren Personen (Forschungssubjekt: S) zu spielen. Dabei sollte S der erste Zug obliegen. Nachdem S sein Zeichen gesetzt hat, sollte E dieses ausradieren, in ein anderes Feld setzen und danach sein eigenes Zeichen platzieren, ohne sich dabei anmerken zu lassen, etwas Außergewöhnliches zu vollziehen. In insgesamt 253 veränderten Tic-Tac-Toe-Partien sollte E nun die Reaktionen von S aufnehmen sowie von den eigenen Erfahrungen berichten. Die Reaktionen von S reichten von Überraschung und Fassungslosigkeit über Irritation und Lachen bis zu Argwohn (ebd., S. 206). Am wenigsten Störungen zeigten sich bei denjenigen Personen, die die befremdlichen Handlungen von E als eine Art praktischen Witz oder als Aufforderung, ein neues Spiel zu spielen, auffassten – und damit in beiden Fällen das Tic-Tac-Toe-Spiel als Interpretationsrahmen aufgaben.

Garfinkel gewann aus diesen Experimenten zwei zentrale theoretische Einsichten, die leitend für das Design späterer Versuchsanordnungen wurden: Erstens reagiert der Großteil der Versuchspersonen sofort auf die Störung des Spiels, also auf die plötzliche Abweichung von der Spielregel, indem sie Normalisierungsanstrengungen vollziehen, etwa Versuche, „to treat the observed behavior as an instance of a legally possible event“ (ebd.). Zweitens ist die „Sinnlosigkeit“ der Situation dann am größten, wenn die Normalisierungsversuche der Personen zugleich an den Basisregeln des Spiels festhalten, „without leaving the game or orienting a ‚new game‘“ (ebd.).

Nun diente Garfinkel dieses Experiment in erster Linie als Auftakt und empirische Selbstvergewisserung, dass eine regelhafte Situation überhaupt durch gezielte Intervention „krisenhaft“ werden kann und dass gerade dieser anomische Zustand Einsichten in wichtige soziologische Zusammenhänge ermöglicht. Das Interesse allerdings galt nicht dem Spiel, sondern den „echten“ Alltagssituationen, den „serious situations“ (ebd.) und damit dem Realitätsakzent der „natürlichen Einstellung“.Footnote 10

3 „Serious situations“: Alltägliche Handlungskrisen

Wie bei den Situationen des Spiels steht auch die Analyse alltäglicher, routinierter Handlungsabläufe vor einer Herausforderung. Demnach bedarf es dezidierter methodischer Anstrengungen, um die impliziten Handlungsdimensionen zu erkennen (Garfinkel 1967, S. 36). Es geht darum, die „‚seen but unnoticed‘, expected, background features of everyday scenes“ (ebd.) soziologisch analysierbar zu machen, da diese den Alltagssituationen ihren „life-as-usual“ (ebd., S. 37) Charakter verleihen.

Da sich die Basisregeln der alltäglichen Lebenswelt nicht so einfach experimentell verändern lassen wie beim Spiel, sucht Garfinkel erneut nach den Bedingungen zur Erzeugung von Konfusionen oder Handlungskrisen. Anhand der Tic-Tac-Toe-Experimente wurde deutlich, dass die Krisenhaftigkeit der Situation für diejenigen Akteur/innen am größten war, die weiterhin am Spiel als maßgeblichem Bezugspunkt festhielten. Entsprechend sollte bei einem komplexeren Versuchsaufbau die Krisensituation Bestandteil der alltäglichen Sinnprovinz bleiben und keine Fluchtversuche in andere Realitätsbereiche (Spiel, Theater, Wissenschaft) ermöglichen. Die derart in der Alltagswelt ‚gefangenen‘ Versuchspersonen dürfen nun aber auch nicht die Situationsdeutung auf andere Situationen übertragen; das heißt, sie müssen an dem sogenannten „konstitutiven Akzent“ (Garfinkel 1963, S. 191) der Situation festhalten. So soll etwa der Handschlag einer Person mit einem begleitenden „Hallo“ als Begrüßungssituation zu verstehen sein und nicht als etwas gänzlich anderes – etwa der Versuch, einen Rangelei zu beginnen.Footnote 11 Diese Überlegungen führen Garfinkel zur Formulierung der methodologischen Konzeption des breaching experiments:

If the person cannot leave the field, and if he cannot place the constitutive accent upon a new set of events because he must manage the redefinition by himself in insufficient time and without being able to assume that the new accent is a consensually supported one, then he should have no alternative except to normalize the breach of constitutive expectancies within the normative order of events of daily life. The result should be confusion. (ebd., S. 219).

Das Augenmerk der Forschungsaktivitäten richtet sich also auf die Erschütterung der Lebenswelt, auf den Bruch mit denjenigen Merkmalen, die Garfinkel, Schütz folgend, als Bestandteile der natürlichen Einstellung fixiert. Es sind vor allem diese systematischen Befremdungen alltäglicher Situationen, die als „breaching experiments“ (Heritage 1984 S. 78) bekannt geworden sind.Footnote 12

Worauf aber zielen diese Experimente? Zwei von ihnen, Garfinkel spricht an dieser Stelle von „demonstrations“ (1963, S. 220), greifen explizit die Schütz’sche „Generalthese der wechselseitigen Perspektiven“ auf (Schütz und Luckmann 2003, S. 100). Schütz weist darauf hin, dass Interaktionspartner/innen ihr Handeln an zwei Idealisierungen ausrichten – der „Kongruenz der Relevanzsysteme“, also der Unterstellung, dass Alter in Hinblick auf ein zu erreichendes Handlungsziel ähnliche Dinge für relevant hält wie Ego, und der „Vertauschbarkeit der Standpunkte“, also der Unterstellung, dass Ego, befände er sich an der Stelle des Gegenübers, die Dinge in ähnlicher Form erfahren würde (ebd.).

Diese erste Idealisierung nun nimmt Garfinkel in den Blick, indem er seinen Studierenden die Aufgabe gibt, einen Bekannten in einer Konversation wiederholt zur Präzisierung des Gesagten aufzufordern (Garfinkel 1963, S. 221 f.):Footnote 13

Case 1.

The subject was telling the experimenter, a member of the subject’s car pool, about having had a flat tire while going to work the previous day.

(S) “I had a flat tire.”

(E) “What do you mean, you had a flat tire?”

She appeared momentarily stunned. Then she answered in a hostile way: “What do you mean, ‘What do you mean?’ A flat tire is a flat tire. That is what I meant. Nothing special. What a crazy question!”

Case 6.

The victim waved his hand cheerily.

(S) “How are you?”

(E) “How am I in regard to what? My health, my finances, my school work, my peace of mind, my …?”

(S) (Red in the face and suddenly out of control.) “Look I was just trying to be polite. Frankly, I don’t give a damn how you are.”

In einer weiteren Demonstration fokussiert Garfinkel stärker die Vertauschbarkeit der Standpunkte. Er fordert die Studierenden auf, in einem Einzelhandelsgeschäft einen Kunden auszuwählen und diesen so zu behandeln, als wäre er ein Angestellter, was dazu führt, dass er wütend den Laden verlässt (ebd., S. 223 f.).

Darüber hinaus beschreibt Garfinkel im Trust-Aufsatz noch zwei weitere Demonstrationen (ebd., S. 226 ff.).Footnote 14 Eine erste zielt auf den Bruch mit der Annahme, in Interaktionen mit Bekannten verfügten die Akteur/innen über gemeinsam geteilte Interpretationsmuster und Ausdrucksrepertoires. Die zweite Demonstration soll vermeintliche Offensichtlichkeiten und Wahrheiten („What Anyone Knows“) als Grundlage von Argumentationen unterlaufen. Dies ist ein sehr interessanter Fall, da hier die aktiven Normalisierungsversuche der Akteurinnen und Akteure deutlich werden: Angehenden Medizinstudierenden wurde ein Tondokument eines fingierten Bewerbungsgespräches zum Medizinstudium vorgespielt, in denen sich der Interviewte sehr ungeschickt, rüpelhaft und ausweichend verhielt (vgl. auch Garfinkel 1952, S. 404 ff., besonders Appendix I–III). Die Medizinstudierenden, die nichts von der Manipulation wussten, schätzten das Interview als eine sehr schlechte Bewerbung ein. Den genauen Erläuterungen ihrer Einschätzung hielten die Experimentator/innen konstant widersprechende Zusatzinformationen entgegen. Bemerkten die Studierenden etwa, dass der oder die Bewerber/in aus einer niederen sozialen Schicht stamme, wurde auf die herausragende wirtschaftliche Stellung der Familie hingewiesen. Auf den Hinweis, dass die sich bewerbende Person ungebildet sei, wurde auf ihre Leistungen in Poetik- und Theaterkursen hingewiesen etc. In diesen Fällen reagierten die Studierenden, indem sie Sorge, Verwunderung oder, dramatischer, starke Anspannung zeigten, aber auch indem sie ihre Fehldeutungen aktiv zu normalisieren versuchten.Footnote 15

Für Garfinkel bestätigen diese Experimente die Richtigkeit seines Vorgehens. Sowohl die Bedeutung der alltäglichen Lebenswelt wie auch zentrale Merkmale der korrespondierenden natürlichen Einstellung werden deutlich. Die Krisen sind maßgeblich durch die Forschenden induziert, punktuell auf einen konkreten Sachverhalt bezogen und betreffen, vom Beobachtungsstandpunkt aus, immer andere Personen. Trotz der vielfältigen Erkenntnisse, die Garfinkel mit diesem kriseninduzierenden Verfahren gewinnt, wertet er dieses sowie spätere Strategien zur Herstellung von Disruptionen (etwa 1967, S. 66 ff., 79 ff.) nicht als wissenschaftliche Methoden im herkömmlichen Sinne, sondern als Demonstrationen, die der Darstellung soziologisch relevanter Sachverhalte dienen. Die breaching experiments können damit laut Rawls (2003, S. 124) als Übungen gelten, anhand derer vor allem die Studierenden etwas lernen können.

Ob nun als didaktisches oder methodologisches Instrument, die Handlungskrise stellt einen kontinuierlichen Bezugspunkt ethnomethodologischer Forschung dar. Allerdings lassen sich im weiteren Werk Garfinkels folgenreiche konzeptionelle Verschiebungen beobachten. Eine erste Veränderung besteht darin, weniger experimentelle Situationen, sondern „natürliche“ und spontane Disruptionen zu untersuchen.Footnote 16 Der bekannte Fall der Transsexuellen Agnes (Garfinkel 1967, S. 116 ff.) kann hier als ein Beispiel dienen und zwar insofern, als dort die Hintergrunderwartungen an „Männlichkeit“ unterlaufen werden, indem Agnes versucht, trotz ihrer männlichen Anatomie und frühen Biografie eines Jungen, eine Frau zu sein. Dieses Frau-Sein ist allerdings konstant vom Scheitern bedroht (durch die Öffentlichkeit, die Familie, den Freund) und offenbart eine permanente Krisenpotentialität, gegen die Agnes mit zahlreichen Mikropraktiken, welche die Normalität ihrer Weiblichkeit unterstreichen sollen, angeht. Mit diesem Interesse an natürlichen Widerständen betritt eine weitere Perspektivenverschiebung die ethnomethodologische Bühne, die es im Folgenden genauer zu betrachten gilt: der Fokus auf die Analyse eigener körperlicher Fertigkeiten.

4 Die (körperlichen) Krisen eigener Fertigkeiten

Nach den Studies verlagert sich Garfinkels Interesse von alltäglichen auf professionelle Handlungssituationen wie etwa spezifische Arbeits- oder Wissenschaftssettings (Garfinkel et al. 1981; Garfinkel 1986).Footnote 17 In den Fokus rücken die hochspezialisierten Praktiken, mit denen Personen wissenschaftliche Erkenntnisse oder wirtschaftliche Produkte hervorbringen. Dabei erfährt das Gütekriterium ethnomethodologischer Analysen, nämlich eine mikrologische, kontexteingebundene und phänomennahe Forschungsperspektive einzunehmen, eine weitere Präzisierung: die Kompetenz nämlich, Feldpraktiken selbst ausführen zu können und damit dem empirischen Geschehen noch näher zu kommen. Der radikale Anspruch größtmöglicher Nähe zum Vollzug der Praxis wird von Garfinkel mit dem Kriterium der einzigartigen Adäquanz gefasst („unique adequacy requirement“). Demnach gilt:

to recognize, or identify, or follow the development of, or describe phenomena of order* in local production of coherent detail the analyst must be vulgarly competent in the local production and reflexively natural accountability of the phenomenon of order* he is ‘studying.’ (Garfinkel 2002, S. 175 f.).Footnote 18

Dieses „schwache“ Adäquanzkriterium der Kompetenz wird durch ein „starkes“ Kriterium ergänzt (ebd., S. 176), nach dem die Wissenschaftler diejenigen Methoden für die Analyse und Darstellung anwenden sollen, die auch im Feld selbst Verwendung finden (vom Lehn 2012, S. 78).

Folgt man dem starken oder ‚nur‘ dem schwachen Kriterium, in beiden Fällen wird von der Forscherperson eine hochgradig intensive Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsfeld gefordert, um zentrale Kompetenzen erkennen zu können.Footnote 19 Im Ideal- oder Radikalfall verfahren die Wissenschaftler/innen so, dass sie diese Kompetenzen erlernen (müssen), indem sie selbst zum Jazzpianisten werden (Sudnow 2001 [1978]), eine Ausbildung zum Mathematiker oder zur Mathematikerin durchlaufen (Livingston 1986) oder gar von der eigenen Behinderung berichten (Robillard 1999). Hier verschieben sich die Gütekriterien ethnomethodologischer Studien. Eine gute Analyse sollte derart beschaffen sein, dass sie als Instruktion gelesen werden kann (Garfinkel 2002, S. 185 f.), da so wichtige Details des Untersuchungsgegenstands nachvollziehbar werden. Melvin Pollner deutet dies als eine radikale Neujustierung („from troublemaker to adept practitioner“, 2012, S. 11), die die ursprüngliche Originalität und wissenschaftspolitische Dimension ethnomethodologischen Denkens aufgebe. Meines Erachtens ist diese Kritik übertrieben: Auch wenn hier unbestritten eine deutliche Veränderung zu verzeichnen ist, so lassen sich durchaus Kontinuitäten erkennen (ebenso: Rawls 2002; S. 17 ff.; vom Lehn 2012, S. 84 f.). Eine derartige Kontinuität findet sich im Interesse an krisenhaften bzw. abweichenden Handlungssituationen. Dieses allerdings verschiebt sich nun vom extern induzierten oder spontanen Krisenereignis bei beobachteten Personen auf die Forscherperson selbst und deren körperlichen Fähigkeiten.Footnote 20 Um dies besser nachzuvollziehen, seien zwei Beispiele nachgezeichnet: Garfinkels tutorial problems und die Imitation eines physikalischen Experiments.

Harold Garfinkels „tutorial problems“ (2002, S. 145 f.) sollen aufgrund ihrer Krisenhaftigkeit für vernachlässigte Dimensionen eines Untersuchungsphänomens sensibilisieren. Wie auch beim frühen ethnomethodologischen Interesse an Handlungs- und Interaktionskrisen geht es um das gezielte Aufbrechen von Prozessen sozialer Wirklichkeitskonstruktion. Allerdings lassen sich zu den Experimenten der Studies mindestens zwei Differenzen markieren. Der erste Unterschied besteht im dezidierten Fokus auf die körperliche Dimension der Handlung: Die tutorial problems verdeutlichen das unmittelbare sensorische Erleben spezifischer Handlungssituationen und dienen nicht in erster Linie sozialtheoretischen Argumentationen, auch wenn, wie nahezu immer bei Garfinkel, die Fälle ebenso für größere sozialtheoretische Erklärungen genutzt werden (vgl. Rawls 2002, S. 34 ff.). Zweitens wird großer Wert auf den intensiven Nachvollzug der tutorial problems gelegt und das nicht nur im grundsätzlichen nachvollziehenden Lesen von Texten, sondern, im besten Fall, in einem praktischen Mit-Vollzug der Schilderungen (Garfinkel 2002, S. 147).Footnote 21 Damit verschiebt sich der Fokus auf das Phänomen der Krisen vom Akt der reinen Beobachtung auf den Akt des übenden Erfahrens, und damit auch von einer extern beobachtenden auf eine körperliche, miterlebende Dimension.

Diese Übungen richten sich zwar als didaktisches Mittel an die Studierenden, sind aber ebenso als Forschungsverfahren für gestandene Wissenschaftler gedacht. In allen Fällen lassen die Übungen gewohnte Erfahrungen krisenhaft werden. Ein Beispiel: Eine Aufgabe lautet, Audioaufnahmen von Telefonrufen anzufertigen, die hörbar mich und nur mich rufen, bei denen ich also bereits am Klingeln höre, dass ich gemeint bin („a phone that is hearably summoning you, hearably just you, nobody else“, ebd., S. 154). Außerdem sollten noch Audioaufnahmen von Anrufen angefertigt werden, die hörbar nur klingeln, aber niemanden rufen, die also ‚einfach nur so‘ läuten („Just ringing. […] hearably not summoning, at all“, ebd.). Beides sind Aufgaben, die ohne intensive vorherige Überlegungen oder Zusatzinformationen nahezu unlösbar sind. Anhand ethnografischer Notizen wurde deutlich, dass allein schon die Identifikation des Moments des Telefonläutens eine maßgebliche Schwierigkeit darstellt. Wann sollte das Aufnahmegerät eingeschaltet werden? Vielleicht wird man ja im Zeitraum der Aufnahme gar nicht angerufen. Ebenso: Woher sollten die Übenden wissen, wann das Telefon ‚sie meint‘ und wann es ‚einfach nur so‘ klingelt?Footnote 22 Die Studierenden berichten von deutlichen Handlungskrisen (Ärger, Verwirrung, Unverständnis) bei der Durchführung des Experiments (ebd., S. 156 f.). Die Auflösung dieses Problems besteht nun unter anderem in der Möglichkeit, sich verabredet anrufen zu lassen und somit auch andere Details des Anrufes sensorisch zu erfahren: So wird dann etwa die Zeit vor dem Anruf als antizipatorische Wartezeit qualifiziert, die beispielsweise im Fall von Liebesbeziehungen unendlich gedehnt erscheinen mag. In einem anderen Fall stellt das Klingeln eine plötzliche akustische Überraschung dar, die den vorherigen Geräuschhintergrund auf „silence“ reduziert (ebd., S. 158; vgl. Maynard und Clayman 2003, S. 194). Diese körperlich-sensorischen Details, die erst im Moment ihrer Krisenhaftigkeit sichtbar werden, bilden für Garfinkel einen maßgeblichen Bestandteil des Vollzugs einer Praxis.

Ein zweites Beispiel bildet die Imitation des Galileo-Experiments der schiefen Ebene (Garfinkel 2002, S. 263; zum Originalexperiment: Graßhoff 2005). In dieser Studie schildert Garfinkel, wie er und Kolleg/innen versuchen, Galileos Versuchsanordnung zu imitieren. Die Kritik an den bisherigen Rekonstruktionen der Studie des italienischen Gelehrten besteht darin, dass diese die konkrete Tätigkeit des Wissenschaftlers nicht berücksichtigt hätten und den Ausgangspunkt ihrer Analyse in der wissenschaftlichen Literatur, nicht aber in der wissenschaftlichen Praxis gesucht hätten. Um wissenschaftliche Tätigkeiten nachzuvollziehen, reichen laut Garfinkel aber reine Beschreibungen der Praxis nicht aus, da diese einen wichtigen Aspekt vernachlässigen würden, nämlich das „Verlieren des Untersuchungsobjekts“ („losing the phenomenon“, ebd., S. 264) als eine körperliche und aktive In-situ-Praxis. Dieses Verlieren stellt laut Garfinkel eine zentrale Eigenschaft wissenschaftlicher Labortätigkeit dar, denn damit ist sowohl das akzidentielle Entdecken von Zusammenhängen durch nicht-systematische Zufälle beschrieben als auch das Scheitern durch unerwartete Ereignisse. Wissenschaft zu betreiben (und diese nicht nur zu erzählen), bedeutet, sich den Überraschungen des Untersuchungsgegenstandes auszusetzen.

Für Garfinkel und seine Kolleg/innen ist entsprechend auch nicht der reibungslose Ablauf des Experiments von Interesse, sondern ganz im Gegenteil die Krisen des Versuchs(aufbaus), weshalb sie sich auch nicht bemühen, das Experiment originalgetreu zu rekonstruieren: „he [Garfinkel, H.K.] tries other ways of designing an inclined plane experiment in order to discover the problems that Galileo would have faced. Garfinkel asks what are the problems that Galileo encountered that the demonstration he did design was designed to avoid?“ (Rawls FN 15 in Garfinkel 2002, S. 273 f.; eig. Hervorh.). So wurde etwa das Kantholz, welches die schiefe Ebene bildet, nicht, wie bei Galilei, durch Pergament abgedeckt. Das Fehlen des Pergaments bewirkte nach einem kräftigen Regenguss, dass das Holz Feuchtigkeit aufsog und nicht mehr in der gleichen Form benutzbar war wie zuvor. Diesen Umstand bezeichnet Garfinkel als eine glückliche Fügung („a gift we could not have asked for“, ebd., S. 276), da er so herausfand, warum Pergament verwendet wurde – um vor Feuchtigkeit zu schützen. Hier wird wieder die quasi-negative Erkenntnislogik von Garfinkels Interesse an Disruptionen deutlich: Über den systematischen Einbezug von Krisen lässt sich darauf schließen, warum das Experiment in dieser Form durchgeführt wurde. Dabei geht es Garfinkel nicht um die physikalische Dimension des Experiments (die „classical accountability“, ebd., S. 173), sondern um die konkrete Durchführung, wozu es auch gehört, das materielle und körperlich-sensorische „Verlieren“ des Phänomens („losing the phenomenon“, ebd., S. 265) miteinzubeziehen. Damit zielt Garfinkel wieder auf das wissenschaftssoziologische Argument, dass die rein theoretische Rekonstruktion der wissenschaftlichen Arbeit die materiellen und körperlichen Entdeckungszusammenhänge verschleiere (Rawls 2002, S. 48).Footnote 23

Garfinkel verdeutlicht mit den tutorial problems sowie den wissenschaftlichen Experimenten weiterhin die große Bedeutung des Disruptiven für seine Überlegungen. Im Gegensatz zu den klassischen breaching experiments allerdings werden stärker die Körperlichkeit, insbesondere die sensorische Erfahrung, sowie die Selbstbezogenheit der krisenhaften Situationen betont. Handlungs- und Interaktionskrisen geraten demnach nicht mehr als reine Beobachtungsaggregate in den Blick, sondern erhalten als körperliche, situierte und selbst erlebte Situationen ihre empirische Präsenz.Footnote 24

Hierbei sind es vor allem das sensorische Erleben und der Grad der Involviertheit eigener Erfahrung, welche im Fokus stehen. Umfassender wird die Dimension des Körperlichen bei Garfinkels Kollegen und Schülern behandelt, beispielsweise bei David Sudnow und Albert Robillard: In Ways of the Hand (Sudnow 2001 [1978]) beschreibt Sudnow seine langwierigen Versuche, Jazzimprovisationen auf dem Klavier zu spielen. Das zentrale Ergebnis dieser Beschreibung ist die Entdeckung der Leiblichkeit als maßgebliche Instanz des improvisierenden Handlungsvollzugs. Demnach sind es gerade die selbstständigen Wege des Körpers, in Sudnows Fall der Hände, welche den Erfolg der Praxis ausmachen – sie ermöglichen im Fall des Jazz ein Spiel fast von selbst (ebd., S. 2). Das Besondere an Sudnows Beschreibung für die Frage nach der Konzeption von Handlungskrisen liegt im Scheitern der Lernbemühungen. So beschreibt Sudnow beispielsweise die Situation einer Jam Session, für die er monatelang geprobt hatte, welche aber in einem Desaster endet: „The music was literally out of hand“ (ebd., S. 35). Dieses Krisenerlebnis führt zu einer Fehlersuche, die in der Entdeckung des Körpers mündet und eine Verschiebung vom „knowing that“ zum „knowing how“ (Ryle 2002 [1949]: S. 26 ff.) andeutet: Erst durch die Krise des rein kognitiven Zugriffs auf das Jazzpianospiel wird die Dimension des impliziten und verkörperten Wissens deutlich. Laut Sudnow geht es darum, den Händen einen Weg durch das Spiel und damit zum Jazz zu ermöglichen. Jazz bestehe in einer Art intuitivem, körperlichem ‚Gesang‘ mit den Händen: „I sing with my fingers, so to speak […] for there’s a new being, my body, and it is this being […] that sings“ (Sudnow 2001, S. 130; Hervorh. getilgt).

Noch deutlicher wird die körperliche Dimension von Handlungs- und Interaktionskrisen bei Albert B. Robillard. Dieser schildert in seinem Buch (Robillard 1999) eindrücklich die eigenen Erfahrungen mit der Nervenkrankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), die unter anderem zu einem massiven Muskelschwund und dem Verlust des Sprechvermögens führte. Neben den emotionalen Herausforderungen beschreibt Robillard, Garfinkel folgend (vgl. z. B. ebd., S. 31), detailliert seine Bemühungen, am Arbeits- und Interaktionsalltag teilzunehmen, welche allerdings regelmäßig in massiven Handlungs- und Interaktionskrisen gipfeln. Maßgeblich offenbaren sich diese Krisen auf einer körperlichen Ebene, da vor allem diese durch die Krankheit verändert ist. Beispielsweise ergeben sich massive Schwierigkeiten beim Kommunizieren („communication trouble“; ebd., S. 56), das in seinem Fall unter anderem über Lippenlesen vollzogen wird. Am Beispiel einer Party verdeutlicht Robillard, wie schwer die veränderten körperlichen Anforderungen die Teilnahme an Interaktionen machen – so steht sein Rollstuhl (den er nicht selbst bewegen kann) zu lange außerhalb des Kreises der Kommunizierenden, welche ihn, als er schließlich näher herangeschoben wird, in ihre Gesprächen auch nicht aktiv einbeziehen, sondern geflissentlich übersehen (ebd., S. 72 ff.). Die Möglichkeit zu eigenen Äußerungen besteht nur dann, wenn Robillard Sichtkontakt mit den Interaktionspartnern aufnehmen kann. Das wiederum bedeutet allerdings, zusätzliche, nicht-alltägliche Gelingensbedingungen einzubeziehen, sich etwa als Gesprächspartner auf der zugewandten Seite des Kopfes zu befinden, um die mit den Lippen geformten Worte erkennen zu können.Footnote 25 Anhand dieser ständigen Disruptionen vermeintlich selbstverständlicher Grundlagen von Interaktionen verweist Robillard auf die spezifischen körperlichen Anforderungen in Kommunikationssituationen speziell bei Menschen mit ALS, darüber hinaus aber auch allgemeiner bei jeglichem Interaktionsverhalten.

5 Beobachtete Fremdkrisen vs. erlebte Selbstkrisen

Bislang wurden mindestens zwei unterschiedliche Formen von Handlungskrisen deutlich: die „beobachtete Fremdkrise“ und die „erlebte Selbstkrise“. Die beiden Formen weisen Ähnlichkeiten auf, lassen sich aber hinsichtlich wichtiger Aspekte voneinander unterscheiden.Footnote 26 Sie geben damit zum einen Aufschluss über die phänomenale Breite des Krisenphänomens und begründen zum anderen eine folgenreiche methodologische Differenz und präzisieren so die ethnomethodologische Methodologie des Disruptiven. Im Folgenden werden daher diese beiden Krisenformen einander gegenüber gestellt.

5.1 Konzeptionelle Differenzen

Die frühen breaching experiments lassen sich in erster Linie als Untersuchungen beobachteter Fremdkrisen begreifen: Indem die Forscherperson Handlungskrisen entweder experimentell herbeiführt oder natürliche Krisen in den Blick nimmt, beobachtet sie die Krisensituation von außen. Krisenhaft werden im Falle dieser experimentellen Situation die impliziten Hintergrunderwartungen der Akteur/innen sowie die situative Passung der jeweiligen Ethnomethoden. Erst durch den Bruch mit ihrer Selbstverständlichkeit werden die Ethnomethoden sowie die Hintergrunderwartungen sichtbar und ihre Relevanz für den Aufbau sozialer Ordnung deutlich.

Werkgeschichtlich lässt sich hier ein großes Interesse Garfinkels an den (proto-)soziologischen Grundlagen von Interaktionssituationen verzeichnen, weshalb diese Störungen vornehmlich als Interaktionskrisen auftreten, in denen die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Beziehungen fragwürdig werdenFootnote 27: Weil die Interaktionspartner/innen (idealisiert) davon ausgehen, dass die gewohnten Situationen so weiterlaufen wie bisher, und sie als kompetente Akteurinnen und Akteure in der Lage sind, die dazugehörigen Handlungen immer wieder auszuführen, und das ebenso von ihrem Gegenüber erwarten (sowie dass dieser das von ihnen erwartet), kommt es bei Nichterfüllung dieser Erwartungen zu einer Krise. Da die Handlungen als soziale Handlungen immer auf ein Gegenüber bezogen sind, werden die Krisenintensitäten oder die Krisenhaftigkeit der Situation selbst zu Fragen interaktiver Aushandlungen. Es lassen sich unterschiedliche Reaktionen auf die „Experimente“ verdeutlichen, die vom Witz über bloße Verwunderung bis hin zu deutlicher Irritation und Unsicherheit reichen. Es kommt dabei auf den Interaktionsverlauf an, ob und wie sich die Intensität des Krisenhaften manifestiert (etwa: Garfinkel 1963, S. 222 f.). Interessant sind daher für die EM auch die Reaktionen auf diese Krisensituationen, die beispielsweise darin bestehen, den Realitätsakzent von ernsthaften Alltagssituationen auf die Sinnprovinz des Spiels zu verschieben, durch Post-hoc-Erklärungen Ungereimtheiten zu normalisieren oder dem Gegenüber seine mentale Gesundheit abzusprechen.

Im zweiten Fall, den erlebten Selbstkrisen, geht es ebenso um die Selbstverständlichkeit von Handlungen. Allerdings beziehen sich diese weniger auf protosoziologische Grundannahmen als eher auf die detaillierten Praktiken in professionellen Settings. Auch werden sie nicht über extern induzierte Krisensituationen beobachtet, sondern von den Forschenden am eigenen Leib erfahren. In allen Fällen bilden die eigenen Handlungen die Grundlage für weitere Erkenntnisse. Gemeinsam ist diesen Situationen außerdem die Betonung der körperlichen sowie materiellen Dimension des Krisenhaften. Es ist das Misslingen akustisch-sensueller Wahrnehmung, die Zerstörung der experimentellen Versuchsanordnung oder das Scheitern körperlicher Handlungsvollzüge, welche die Grundlage für das Auftreten von Krisen darstellen. Dabei steht – nicht so eindeutig im Fall von Robillard – weniger die interaktive Aushandlung der Krisenmomente im Vordergrund, sondern die körperlich-egologische Erfahrung ebendieser. Erlebte Selbstkrisen lassen sich daher in erster Linie als Handlungs- und weniger als Interaktionskrisen begreifen.

5.2 Methodologische Differenzen

Die hier unterstellte Krisendifferenz lässt sich auch nach der methodologischen Dimension befragen. Indem die Leitunterscheidung zwischen fremd und selbst gezogen wird, sind maßgebliche Bezüge qualitativer Forschung, allen voran der Ethnografie, berührt. Trotz dieser Nähe zu ethnografischen Verfahren ist die Ethnomethodologie keineswegs als Methodologie der Ethnografie misszuverstehen (vgl. Pollner und Emerson 2001, S. 118). Sie tritt an als Wissenschaft der Erforschung der Ethnomethoden praktisch handelnder Akteur/innen, und nicht als Analyse fremder Kulturen, und ist somit an der aktiven, (re-)konstituierenden Hervorbringung kultureller Formate interessiert und weniger an der prä-situativen Prägung durch geteilte kulturelle Muster (vgl. Francis und Hester 2004, S. 22 ff.).

In den beschriebenen Krisensituationen liefert Garfinkel mehrere Anhaltspunkte, wie man Krisenphänomene soziologisch in den Blick nehmen kann: Im ersten Fall stehen die vornehmlich kognitiven Beobachtungskompetenzen der bzw. des Forschenden im Vordergrund. Methodisch setzt eine derartige Perspektive auf Experimente, Interviews und beobachtende Feldteilnahmen. Im zweiten Fall wird diese klassische soziologische Herangehensweise erweitert um den systematischen Einbezug der leiblich-sensorischen Fähigkeiten der erlebenden Ethnografin und damit eine (auto-)ethnografische teilnehmende Beobachtung präferiert.

Krisen des ersten Falles, so lässt sich aus Garfinkels Texten schließen, können über Experimente, Interviews und (gering involvierte) Beobachtungen nachvollzogen werden. Wenn diese Krisen im Kontext von Alltagsphänomenen auftreten und damit prinzipiell jedem zugänglich und in ihrer Grundstruktur vertraut sind („known in common with others“, Garfinkel 1967, S. 35), ist es möglich, dass die Forscherperson in den Krisenmomenten gar nicht anwesend ist, sondern sich von diesen bloß berichten lässt („[to report] their results in anecdotal fashion“, Garfinkel 1963, S. 220). Da es Garfinkel hier um den Nachweis gemeinsamer, selbstverständlicher Grundlagen sozialen Handelns geht, reichen die Schilderungen der Reaktionen aus. Diese Distanz zur Krisensituation positioniert die Forschenden tendenziell außerhalb des Krisengeschehens, da dieses entweder über reine Erzählungen oder über distanzierte Beobachtungen angegangen wird. Mit anderen Worten geht es hier um einen Blick auf „trouble“, nicht um das Empfinden desselben.

Im Fall der Selbsterfahrungen von Krisen hingegen wird eine methodisch anders gelagerte Form augenfällig. Hier tritt an die Stelle von Distanz der Versuch einer größtmöglichen Nähe: Das Interesse liegt auf den körperlichen, auch sensuellen, Kompetenzen der Akteur/innen und dem Fragwürdig-werden ebendieser. Methodisch setzt diese Krisenkonzeption damit verstärkt auf den Aspekt der Teilnahme. Es geht darum, Praktiken in ihrem konkreten Detailreichtum zu erleben, um sie beschreiben zu können. Es sind in diesem Zusammenhang vor allem zwei, eng miteinander zusammenhängende, methodologische Differenzen zur Fremdkrise hervorzuheben: Erstens erlebt die bzw. der Forschende als Forschungsinstanz die Krise unmittelbar, und zweitens wird so eine körperliche Dimension in die Analyse miteinbezogen.

Im Gegensatz zu den Fremdkrisen wird die unmittelbare Teilnahme der bzw. des Forschenden bedeutsam. Besonders das Interesse an professionellen Settings – in denen, anders als in der allen Akteur/innen zugänglichen Alltagswelt, keine vorherige Mitgliedschaft („membership“) vorliegt – verlangt eine „deep immersion in the profession or activity under consideration“ (Pollner und Emerson 2001, S. 118). Diese unmittelbare Nähe zum Geschehen weist die Untersuchung als (auto-)ethnografische Unternehmung aus, auch wenn die Methodologie der späten EM Unterschiede zu ‚klassischen‘ ethnografischen Verfahren aufweist (vgl. Anderson 2006).Footnote 28 Die epistemologische Grundierung gewichtet den situativen Detailreichtum und die Aktivitäten der Akteurinnen und Akteure derart hoch, dass erst eine nahe Fokussierung der bzw. des Forschenden zum analytischen Erfolg führt (vgl. Pollner und Emerson 2001, S. 123). Dies bedeutet für die Analyse, das Krisenhafte maßgeblich im detaillierten Nachvollzug der Praxis zu fixieren. Beispielsweise wird dann nicht das Telefonieren an sich, sondern das Erleben der Probleme beim Identifizieren verschiedener Klingeltöne zentral.

Diese unmittelbare Einbezogenheit der Forscherinnen und Forscher geht mit der Aufwertung des Körpers als Analysedimension einher. Während der Körper im Falle der Fremdkrisen bestenfalls rudimentär als Beobachtungsgegenstand adressiert wurde, wird im Falle der Selbstkrisen gerade der Körper auch als Beobachtungsinstrument interessant, indem der Bruch mit den körperlichen und leiblichen Erfahrungen gesucht und ermöglicht wird. Diese Betonung der körperlichen Qualitäten teilt die EM mit aktuellen Ansätzen ethnografischer Forschung (Pink 2009; Crossley 2014; Wacquant 2014). Spezifisch wird bei der EM allerdings, neben anderem, der explizite Einbezug des Disruptiven. Es geht darum, sensibel zu sein für die somatische Ebene der Erschütterungen gewohnter Handlungssituationen, um somit empirisch auch die nicht-krisenhaften Praktiken zu untersuchen.

Aus methodologischer Sicht gerät die Krise in beiden Fällen als erlebte Selbstkrise in den Blick. Dabei verweist diese Erfahrung aber nicht auf einen individuellen, sondern auf einen sozialen, das heißt mit anderen Personen geteilten, Kern. Die körperlichen Praktiken des Handlungsvollzugs, Garfinkel spricht von „Kompetenzen“ (z. B. Garfinkel 1967, S. 57, FN 8), ‚zeigen‘ sich prinzipiell nicht nur den Forschenden, sondern allen kompetenten Mitgliedern des spezifischen Settings. Eine derartige praxeologische Fassung von Krisen bedeutet nicht, einer psychologischen, akteurszentrierten Identifikation des Disruptiven zu folgen, sondern das relationale Gefüge verschiedener Subjekte, Objekte und Praktiken zu fixieren, welches die Krisensituation bzw. die Normalität als konkretes Ereignis hervorbringt. So sind etwa der telefonierende Leib ohne das Klingeln, die Experimentalsituation ohne das nicht-patinierte Holzbrett, das improvisierende Klavierspiel ohne intuitive Handbewegungen oder Gespräche ohne körperlichen Mitvollzug kaum vorstellbar.

6 Schluss: Garfinkels Krisenkonzeption

Ziel des vorliegenden Beitrages war es, die Entwicklung des Garfinkel’schen Interesses am Disruptiven vor dem Hintergrund seiner konzeptionellen sowie methodologischen Verschiebungen zu verfolgen. Die verschiedenen Formen von Störung wurden dabei als Handlungs- und Interaktionskrisen gefasst. Zwar lässt sich bei Garfinkel weder ein expliziter Krisenbegriff noch ein mustergültiges Verfahren zur Krisenuntersuchung finden, auch entwickelt er keine dezidierte Soziologie der Krise, aber er identifiziert mit seinen Analysen den Moment von Handlungs- und Interaktionskrisen als zentralen Moment der Erkenntnisproduktion. Mit der identifizierten Pluralität von Fremd- und Selbstkrisen wurde deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema ein durchgängiges Interesse im Werk Garfinkels darstellt. Dabei liefert er – häufig implizit – wichtige methodologische Einsichten in die soziologische Auseinandersetzung mit dem Thema, die ich abschließend in vier Punkten bündeln will:

  1. 1.

    Zunächst können die ethnomethodologischen Analysen als Plädoyer für das erkenntnisleitende Potenzial von sozialen Störungen für die soziologische Theoriebildung und Forschung gelesen werden. Garfinkel entwickelt seine Argumentation immer wieder an krisenhaften Fällen, da durch diese Brüche mit dem unhinterfragten Vollzug von Handlungsroutinen die Arbeit an ihrer Produktion sichtbar wird. Damit werden die notwendigen sowie hinreichenden Bedingungen spezifischer Praxisformen erkennbar, welche zuvor unter einem Schleier der Alltäglichkeit verborgen waren. Krisen, seien sie experimentell herbeigeführt, „natürlich“ entstanden oder ein gedankliches Konstrukt, erlauben einen produktiven Einblick sowohl in die Ordnung des Sozialen als auch in die Arbeit an ihrer Hervorbringung. Wie eingangs angedeutet ist diese Perspektive keine exklusive Position Garfinkels, allerdings ist sie in ihrer methodologischen Konsequenz und werkumspannenden Präsenz in seinen Schriften besonders ausgeprägt und erhält so Vorbildcharakter für weitere Untersuchungen (vgl. z. B. Maynard und Clayman 2003, S. 180).

  2. 2.

    Zweitens wird am Garfinkel’schen Konzept deutlich, dass Handlungskrisen und Störungen nicht auf spezifische Settings wie beispielsweise Prüfungen oder Streitsituationen beschränkt sind, sondern in jeder Situation auftreten können. Das häufig bemühte Beispiel von der Krisenhaftigkeit in Interaktionen aufgrund des Unterlaufens verbaler Reziprozitätsregeln etwa ist in zahlreichen sozialen Feldern zu finden, in alltäglichen Konversationen mit Bekannten ebenso wie in Serviceinteraktionen im Dienstleitungsbereich (Garfinkel 1963, S. 221 ff.). Wie Garfinkel zeigt, sind Krisen demnach auch nicht auf Alltagssituationen beschränkt, sondern ebenso Bestandteil professioneller Konstellationen wie etwa der wissenschaftlichen Praxis. Zugleich sind Krisen mehr als bloße Interaktionskrisen unmittelbar Anwesender. Soziologisch aufschlussreich sind auch disruptive Handlungssituationen jenseits der Unmittelbarkeit einer dyadischen Beziehung: Beispielsweise verweisen die wissenschaftssoziologischen Untersuchungen Garfinkels auf die unabdingbare Objektualität gewisser Praktiken und sensibilisieren so für die Multidimensionalität sozialer Phänomene (und ihrer Störungen).

  3. 3.

    Drittens und unmittelbar anschließend treten Disruptionen bei Garfinkel nicht ausschließlich als kognitive Verständigungskrisen auf, sondern manifestieren sich ebenso auf einer leiblichen Ebene. Dies stellt eine Erweiterung der ursprünglichen Vorstellung von „trouble“ bei Garfinkel dar und zeitigt die method(olog)ische Konsequenz, nicht bloße Beobachtungen von außen, sondern gleichermaßen beobachtende und spürende Nachvollzüge aus der Mitte des Geschehens zu vollziehen. Eine derartige „carnal sociology“ (Crossley 1995) betont den Leib des Forschenden nicht als bloßes Objekt, sondern gleichermaßen als sensorisches Subjekt einer gelingenden Forschung. Krisen geraten dann eben nicht nur als beobachtete Fremdkrisen, sondern auch als erlebte Selbstkrisen in den Blick.

  4. 4.

    Schließlich weisen Garfinkels Untersuchungen auch inhaltlich auf wichtige Aspekte sozialer Disruptionen hin, die wiederum analytisch leitend sein können. So hebt Garfinkel die zentrale Bedeutung von konkreten Reaktionen auf Störungen für ein Verständnis der Krise selbst hervor. Das Interesse Garfinkels am „accomplishment“ sozialer Sachverhalte fokussiert ganz maßgeblich die interaktive Dynamik von Krisensituationen. Daher verweisen die ethnomethodologischen Analysen sowohl auf die spezifischen Normalisierungsanstrengungen der Akteur/innen (inklusive ihres Scheiterns) als auch auf die Routinehaftigkeit des Krisenhaften. Im ersten Fall liegt der Fokus auf den Aushandlungssituationen, welche die Bedeutung eines sozialen Bruchs erst interaktiv hervorbringen und stabilisieren. Es sind demnach gerade die Reaktionen der Akteur/innen, die maßgeblich die Krisenhaftigkeit von Situationen unterstreichen und deren Praktiken untersucht werden sollten. Dabei sind auch gerade die misslingenden Praktiken zu berücksichtigen, da Krisen ihre Wirkmächtigkeit auch vor dem Hintergrund des Scheiterns einzelner Routinen erhalten (vgl. auch Oevermann 2008, S. 19 f.). Im zweiten Fall werden die Krisenreaktionen stärker auf ihr Gelingen und ihre Routinehaftigkeit hin befragt. In den Blick geraten damit die geronnenen Verfahren des Krisenumgangs, wie sie beispielsweise im Bereich professionellen Handelns zahlreich ausgebildet werden, etwa die krisenvermeidenden Praktiken bei der Überbringung von Todesnachrichten (Sudnow 1973). Krisen verschieben sich demnach von ihrem Status als Ressource (für die Analyse) hin zum Status als Thema, und es eröffnet sich damit ein Blick auf ihr „un-doing“.

Zusammenfassend wird deutlich, dass Garfinkels Interesse am Disruptiven zahlreiche methodologische Einsichten und produktive Anschlüsse an eine Theorie der Handlungs- oder Interaktionskrise bietet. Derartige soziale Brüche bei Garfinkel sind ein doppeltes Phänomen – sie treten als Forschungsgegenstand sowie als Forschungsmodus auf. Folgt man der methodologischen Differenz von Selbst- und Fremdkrisen, wie sie hier vorgeschlagen wurde, werden zwei Krisenmethodologien deutlich, die in beiden Fällen Handlungs- und Interaktionskrisen nicht bloß als Produkt kognitiver Auseinandersetzungen, sondern als eine konkrete Praxis markieren, die, mindestens im späteren Werk Garfinkels, auch über eine materielle und körperliche Dimension verfügt. Forschungsheuristisch ist eine derartige Sensibilität für die Multidimensionalität des Disruptiven aufschlussreich, da darüber die Gemachtheit und soziale Wirkmächtigkeit von Krisen analysiert werden kann und Disruptionen somit als soziologisches Phänomen deutlich werden.