Jeder, der das Privileg hatte, ihn persönlich kennenzulernen, durfte sich glücklich preisen: Peter Atteslander war von ausgesuchter Freundlichkeit und Höflichkeit, sein Humor und seine Großzügigkeit waren legendär. Er war ein leidenschaftlicher Soziologe, der seine umfassende Allgemeinbildung und seinen kritischen Sachverstand methodisch und empirisch, aber niemals gänzlich untheoretisch, auf alle möglichen aktuellen Fragen und Probleme unserer Gesellschaft anzuwenden wusste.

1926 im deutsch-schweizerischen Kanton Glaris in Ennenda geboren, studierte „PA“, wie er stets genannt wurde, an der Universität Zürich von 1947–1952 Philosophie bei Hans Barth, Soziologie bei René König und Volkskunde bei Richard Weiß. Während seiner Studienzeit war er auch ein aktiver Studentenvertreter, der Vorträge von Schriftstellern organisierte und einführte – so etwa an der ETH Zürich von Carl Zuckmayer oder von Thomas Mann, der ihn eigens im Hotel „Baur au Lac“ zum Tee empfing, um die geplanten Vorträge zu besprechen. Katia Mann drückte ihm beim Abschied einen dicken Packen Überseebriefe in die Hand, mit der Bitte, sie auf der Post rasch aufzugeben. Als Atteslander indes die Höhe des Portos erfuhr, die sein Monatssalär als Student überschritten hätte, kehrte er rasch ins Hotel zurück und drückte dem verdutzten Portier den Stapel Briefe in die Hand. Es war die geistige Schweiz von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die er mochte, und nicht die engstirnige merkantile Schweiz. Peter Atteslander zitierte in seinem Festvortrag zum 85. Geburtstag von René König zustimmend ein Bonmot von Friedrich Dürrenmatt, der bei seinem letzten öffentlichen Auftritt „im ‚Park im Grünen‘, bei Zürich, [...] zu Ehren von Václav Havel von der Schweiz als einem Gefängnis sprach, in dem die Gefangenen zugleich ihre Wärter seien.“ (Atteslander 1992, S. 175).

Die entscheidende Wende zur Soziologie verdankte er dem deutschen Emigranten René König. Dessen Aufsatz zur Familie hatte der ratlose junge Atteslander bei der Berufsberatung erhalten, und nach dem ersten Erlebnis im Hörsaal sollte ihn René König nicht mehr loslassen. „Jimmy“, wie ihn König kurzerhand und unerklärlicherweise nannte, wurde Babysitter, Familiendauergast und später der „Verbindungsmann nach Amerika“ (König). Nach der Promotion ging Atteslander 1952 mit einem Stipendium an die Cornell University, um die Methoden der empirischen Sozialforschung zu erlernen. Er arbeitete eng mit William F. Whyte zusammen, dessen Klassiker Street corner society er 1996 von Reinhard Blomert und Joachim Kalka übersetzen ließ und herausgab. Er lernte auch Robert King Merton kennen und schätzen, dessen Konzept der Anomie in der Tradition von Émile Durkheim er für die angewandte empirische Erforschung des sozialen Wandels zurückgewann (Atteslander et al. 1999). Als Irmgard und René König ihn über Weihnachten 1953 in den USA besuchten, konnte er sich nicht nur als Amerikaspezialist und Chauffeur bewähren, sondern er und König wurden von George Caspar Homans an der Harvard University auch in die neuesten Theorien der Gruppendynamik eingeführt.

Im Jahre 1954 kehrte er zurück nach Europa, um eine Projektstelle bei König an der Universität Köln anzutreten. Dort traf er auf den jungen Hans Albert, aber auch auf Ralf Dahrendorf und M. Rainer Lepsius. Auch Erwin K. Scheuch war in jener Zeit als Hilfskraft bei König tätig. Nach der Habilitation an der Universität Bern im Jahre 1960 folgten Tätigkeiten als Professor an der Universität Genf (1963–1965) und als außerordentlicher Professor an der Universität Bern (1964–1972). Im Jahre 1972 folgte er einem Ruf auf die neugegründete Reformuniversität Augsburg, wo er zusammen mit Horst Reimann die Soziologie im Rahmen des innovativen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Studiengangs aufbauen durfte. Während Reimann eine Riege junger Nachwuchswissenschaftler aus Heidelberg mitbrachte, die allesamt Professoren wurden, wie Bernhard Giesen, Claus Mühlfeld, Richard Münch und Michael Schmid, brachte Atteslander eine Reihe von Schweizer Wissenschaftlern mit, die allesamt in eher angewandten Bereichen wie z. B. der Siedlungs- und Raumplanung tätig waren. Wer also die Grundlagen des Faches und „Theorie“ suchte, wie der Autor selbst als junger WISO-Student, studierte bei den Reimann-Leuten. Ich kam mit Peter Atteslander erst spät in meinem Studium in Berührung, als mein Interesse für die Gesellschaftsplanung wuchs und einige Kommilitonen bei dem aus München hinzugestoßenen Klaus Schmals Planungs- und Steuerungstheorien kennenlernen konnten. Was indes von Beginn an auffiel, war die Offenheit und Neugierde für wissenschaftliche Entwicklungen, die Atteslander auszeichnete. Das führte mich in der Folge zu einer Stelle an seinem Lehrstuhl, denn er hatte gerade mit Hans-Ulrich Kneubühler eine Studie über Verzerrungen im Interview publiziert, die Manfred Kopp und mir spannend, aber zu wenig theoretisch unterbaut erschien. So hatten wir den Projektauftrag, eine Theorie über Verzerrungen im Interview zu entwickeln, um die Befragungstechnik zu verbessern. Über einen ersten Projektbericht kam dieser wohl allzu kühne Versuch jedoch nicht hinaus, und ich wechselte an die Universität Heidelberg, um bei Wolfgang Schluchter zu promovieren. Wenn auch die wissenschaftliche Zusammenarbeit nach kurzer Zeit endete, da es mich stärker zur Theorie zog, blieb das freundschaftliche Band bis zu seinem Tod erhalten.

Peter Atteslander war in unzähligen Foren und wissenschaftlichen Vereinigungen auf europäischer Ebene aktiv. So war er schon frühzeitig mit seinem Kollegen aus Kölner Tagen, Hans Albert, sehr engagiert beim „Europäischen Forum Alpbach“. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern des „Premio Europeo Amalfi“, bei dem alljährlich der Preis für das beste europäische Buch unter der kundigen Leitung von Carlo Mongardini (Università La Sapienza, Roma) verliehen wurde. Mir war es eine Freude und Ehre zugleich, mit Horst Reimann eine Festschrift für Peter Atteslander zu seinem 65. Geburtstag herauszugeben (Reimann und Müller 1994).

Seine extrem breit gestreuten Forschungsinteressen richteten sich zunächst auf die Industrie- und Betriebssoziologie, sodann auf die Siedlungssoziologie und Raumplanung, um sich schließlich mehr und mehr der Medizinsoziologie und der „Public Health“ zuzuwenden. Am bekanntesten geworden ist Atteslander mit seinem Bestseller Methoden der empirischen Sozialforschung. Was einst als Göschen-Bändchen im Jahre 1969 begonnen hatte, erlebte im Jahr 2010 seine 13. Auflage und verkaufte sich mehr als 120.000-mal. Wer vermag schon mit einem Methodenbuch einen Kassenschlager zu erzielen?

Peter Atteslander hatte eine überschießende Intellektualität und einen heiteren Humor, die zusammengenommen die engen Grenzen einer empirisch-angewandten Soziologie jederzeit zu sprengen vermochten. Er war eher ein oraler, denn ein skriptoraler Wissenschaftler. Im geistigen Gespräch konnte er seinem Gegenüber geschickt auf den Zahn fühlen und mit vermeintlich harmlosen Fragen in arge, wenn auch meist produktive Verlegenheit stürzen. Er erzog zur Nachdenklichkeit und zur kritischen Nachfrage. Als „Methodenmensch“ war er der schärfster Kritiker der empirischen Sozialforschung, der stets darauf hinwies, dass man Daten nachdrücklich misstrauen sollte, deren Genese man nicht kennt und die in theorieloser Absicht unters Volk gestreut werden. In diesem kritischen Reflexionsvermögen schien fast so etwas wie ein sokratischer Habitus durch, der die Inspirationskraft der akademischen „Geselligkeit“ als einer Spielform der Gesellschaft (Georg Simmel) zu nutzen wusste. Seine eher an eine breite Öffentlichkeit gerichteten zeitdiagnostischen Versuche sind dagegen weniger bekannt geworden, obwohl sie die geistige Situation der heutigen Zeit recht gut treffen. So sei etwa seine Studie über Die Grenzen des Wohlstandes. An der Schwelle zum Zuteilungsstaat aus dem Jahre 1981 erwähnt, in der er die Frage aufwirft, wohin ein rein quantitativ verstandenes Wachstum wohl hinführen würde, wenn man nicht die qualitative Frage nach der Art und Weise der gewollten Lebensführung stellt. Eine Spur bitterer, wenn auch im Ton heiter und gelassen, fällt seine Studie Anatomie der Ratlosigkeit aus, die 2007 beim Verlag der NZZ in Zürich erschien. Peter Atteslander diskutiert in dem Band die Folgen der Globalisierung, den beschleunigten und unsteuerbar gewordenen sozialen Wandel, die Kulturkonflikte und die Anomie, die daraus entstehen. Die verbreitete Ratlosigkeit äußert sich in der Diskrepanz zwischen den erweiterten Wissensmöglichkeiten und dem praktischen Nicht-Wissen, denn der zeitgenössische Mensch erscheint überinformiert und unterorientiert zugleich.

Mit Peter Atteslander, der kurz vor seinem neunzigsten Geburtstag am 15. Januar 2016 in Port bei Biel verstorben ist, verliert die Soziologie einen international und über die Fachgrenzen hinweg agierenden Wissenschaftler und kosmopolitischen Bürger, der die Anfänge der bundesrepublikanischen Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt und gestaltet hat. In den Feldern, in denen er tätig war, hat er als professioneller Soziologe und kritisch Fragender seine Spuren hinterlassen. Und so lange sich die Methoden der empirischen Sozialforschung weiter so gut verkaufen, wird auch Peter Atteslander nicht vergessen werden.