Das letzte Heft des 24. Jahrgangs des „Berliner Journals für Soziologie“ enthält zwei Schwerpunkte, die inhaltlich eng zusammengehören und, ungewöhnlich genug, zwei Personen gewidmet sind: Max Weber und M. Rainer Lepsius. Sie verbinden einen runden Geburtstag und einen Todestag. Am 21. April 2014 durften wir den 150-jährigen Geburtstag von Max Weber feiern. Am 2. Oktober des Jahres mussten wir den Todestag von M. Rainer Lepsius beklagen, dem Doyen der Weber-Forschung und der Max Weber-Gesamtausgabe. Welchen Verlust das bedeutet, wollen wir in einer eigens eingerichteten Rubrik in memoriam würdigen.

Webers runder Geburtstag ging in der medialen Aufmerksamkeit zum hundertjährigen Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges so gut wie unter. Sicher, es fanden eine Reihe von Fachkonferenzen zu Weber auf der ganzen Welt statt. Die Max Weber-Gesamtausgabe wartete mit der Edition von Wirtschaft und Gesellschaft sowie den religionssoziologischen Schriften um die Protestantische Ethik auf. Hinzu kam ein Max Weber-Handbuch (Müller und Sigmund 2014), das den Zugang zu Weber für Studierende wie Fachleute erleichtern soll. Höhepunkt des Jahres waren aber zwei neue Biografien von Jürgen Kaube (2014) und Dirk Kaesler (2014), die im nächsten Heft des Journals von Frank Ettrich besprochen werden. 2014 lässt sich dennoch nicht mit dem 15. Deutschen Soziologentag von 1964 in Heidelberg (vgl. Stammer 1965) vergleichen, zu dem Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eingeladen hatten. „Max Weber und die Soziologie heute“ sollte den Startschuss zu einer beispiellosen Weber-Rezeption in Deutschland und der Welt geben, die Weber zu einem der am meisten zitierten soziologischen Klassiker werden ließ.

An diese Rezeption wollen wir anknüpfen, indem wir erstmalig Talcott Parsons’ Text „‚Capitalism‘ in Recent German Literature: Sombart and Weber“ auf Deutsch präsentieren. Dieser Text passt nicht nur kongenial zur gegenwärtigen Renaissance der Kapitalismus-Diskussion, sondern präsentiert auch ein kurioses Stück Soziologiegeschichte. Talcott Parsons hatte zunächst an der „London School of Economics“ 1924 und 1925 bei Leonard T. Hobhouse, Edvard Westermarck, Harold Laski, Bronislaw Malinowski, Morris Ginsberg und Richard H. Tawney studiert, ohne dass der Name Max Weber auch nur einmal gefallen wäre. Im Wintersemester 1925/26 kam Parsons als Austauschstudent nach Heidelberg, wo er bei Edgar Salin eine Dissertation mit dem Titel „Der Geist des Kapitalismus bei Sombart und Max Weber“ begann. Parsons stellte die ersten beiden Kapitel fertig und ließ das handschriftliche Manuskript gleich in Heidelberg, als er im Herbst 1926 in die USA zurückkehrte, um als „instructor in economics“ an der University of Massachusetts in Amherst anzufangen. Der Assistent von Edgar Salin, Arnold Bergstraesser, hatte das Manuskript in Gewahrsam genommen, da er sich ebenfalls für das Thema interessierte. Parsons kehrte im Sommersemester 1927 mit dem dritten Kapitel über Sombart und Weber nach Heidelberg zurück. Als er seine Dissertation einreichen wollte, kam heraus, dass die ersten beiden Kapitel nicht mehr aufzufinden waren. Salin hatte sie nicht, und Bergstraesser wollte sie auch nicht mehr gehabt haben. Dennoch wurde Parsons zur Promotion zugelassen, zumal nach Ansicht von Salin allein das dritte Kapitel für sich genommen dissertationswürdig war. Am 29. Juli 1927 absolvierte Parsons das Rigorosum in theoretischer Nationalökonomie (Edgar Salin), Soziologie (Alfred Weber), Philosophie (Karl Jaspers) und Neuerer Geschichte (Willy Andreas) erfolgreich mit der Auflage, die verloren gegangenen ersten beiden Kapitel wieder auszuarbeiten. Anfang 1929 reichte Parsons dann der Fakultät seine Abhandlung über „‚Capitalism‘ in Recent German Literature: Sombart and Weber“ ein, die 1928 und 1929 im „Journal for Political Economy“ in zwei Folgen erschienen war. Sie wurde als definitive Dissertation akzeptiert, obgleich sie weitgehend mit dem dritten Kapitel identisch war. Der Doktorurkunde ist zu entnehmen: „Die Fakultät hat das Gesamtergebnis beider Leistungen als sehr gut (1. Grad) anerkannt. Fachvertreter war Professor Dr. Edgar Salin. Gegenwärtige Urkunde ist zu Heidelberg im 544. Jahr seit Gründung der Universität am 12. April 1929 vollzogen worden.“ (zitiert nach Schluchter 1980, S. 14).

Mit Werner Sombart und Max Weber konnte Parsons zwei wichtige Vertreter einer institutionellen Ökonomie dem amerikanischen Publikum präsentieren im Kontrast zur individualistischen neoklassischen Schule, die im anglo-amerikanischen Bereich seit Alfred Marshalls Kodifikation vorherrschte. Parsons betonte die geistigen Grundlinien von Hegel und Marx und ließ auch die romantische Bewegung nicht unerwähnt. So zumindest hoffte er, ein Konzept wie den „Geist“ des Kapitalismus verständlich machen zu können. Parsons liefert eine systematische Rekonstruktion der Grundgedanken der beiden großen Denker, wobei Parsons’ Faszination für Max Weber bereits zum Ausdruck kommt. Zehn Jahre später sollte er dann in seiner berühmten The Structure of Social Action (Parsons 1937/1968) den gesamten zweiten Band ausschließlich Max Weber widmen. Und Weber blieb für Parsons zeitlebens das Maß aller Dinge.

Bildet Parsons’ Dissertation neben Frank H. Knights Übersetzung von Max Webers Wirtschaftsgeschichte ins Englische (Weber 1927) gleichsam den Auftakt zur anglo-amerikanischen Rezeption von Weber, so resümieren Lawrence A. Scaff und Edith Hanke seinen rasanten Aufstieg zu einem globalen Klassiker. Scaff, der ein fulminantes Buch über Max Weber in America (Scaff 2011/2013) verfasst hat, das auch jüngst auf Deutsch erschienen ist, gilt nicht nur als ein Kenner der Weber-Materie, sondern skizziert auch kongenial die Fragestellung und die Perspektiven eines weberianischen Denkens, die heute wie seinerzeit fruchtbar sind. Scaff bündelt sie in vier Dimensionen: der Struktur-, der Kultur-, der Institutionen- und der rationalen Akteursanalyse.

Edith Hanke versucht, ein Bild der beeindruckenden globalen Verbreitung von Webers Werk anhand der jeweiligen Konjunkturen der Übersetzungen zu zeichnen. Ausgangspunkt ist das Narrativ der Protestantischen Ethik, die offenkundig als „Handbuch zum wirtschaftlichen Erfolg“ weltweit rezipiert wird, sodass heute sogar von einer IWE, einer „Islamic Work Ethic“ die Rede ist. Aber auch politische Auseinandersetzungen, wie der Kalte Krieg, haben die Topografie der Übersetzungen geprägt, wobei Weber als bourgeoiser Gegenspieler zu Marx in Stellung gebracht wurde. Schlussendlich dominiert inzwischen auch bei den global verbreiteten Weber-Editionen Englisch als Weltsprache, weil englische Ausgaben häufig genug die Grundlage für Zweitübersetzungen in andere Sprachen bilden. Die Ironie der Geschichte: Gerade in den USA geht kein Verlag das finanzielle Risiko von werkgeschichtlich treuen Neuübersetzungen ein, obwohl Max Weber, wie Hanke meint, seit dem Zweiten Weltkrieg als amerikanischer Autor wahrgenommen wird, der als Vorkämpfer einer modernen Gesellschaft auf der Basis der heiligen Triade von Kapitalismus, Demokratie und Individualismus gilt.

Was soziologisches Denken im Anschluss an Max Weber heißen könnte, dokumentiert der Erinnerungsteil für M. Rainer Lepsius. In einem Interview im Dezember 2013, das sich als sein Vermächtnis erweisen sollte, erläutert Lepsius die ungeahnte Ausstrahlungskraft von Weber als Klassiker, der eben auch ein Vordenker für die Bundesrepublik Deutschland werden konnte. Wolfgang Schluchters Rede auf der Trauerfeier in Heidelberg und Hans-Peter Müllers Nekrolog erinnern an die ungemein wichtige Rolle, die Lepsius für die deutsche Soziologie gespielt hat. Friedhelm Neidhardt schildert in sehr persönlicher und einfühlsamer Weise die enge Zusammenarbeit in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“. Jürgen Kocka rekonstruiert die wichtige Rolle von Lepsius im „Arbeitskreis für Sozialgeschichte“. Karl-Siegbert Rehberg interpretiert Lepsius’ Beitrag zur Kultursoziologie. Maurizio Bach hebt seine Rolle für die Entstehung einer Soziologie der europäischen Integration hervor, während Georg Vobruba an Lepsius’ Beitrag zu einer Soziologie der Intellektuellen erinnert.

In seinem Beitrag zu den fünf führenden Internetkonzernen Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft zeigt Ulrich Dolata überzeugend auf, dass die Entwicklungstendenzen des kommerziellen Internets vor allem durch Prozesse der Konzentration, Kontrolle und Macht getrieben sind. Das widerspricht diametral dem Selbstbild der „New Economy“, die sich gern als dezentral, kooperativ und demokratisch geriert, nur weil es immer wieder einzelne Unternehmer und Unternehmen schaffen, eine neue soziale Plattform oder „App“ zu entwickeln, deren Zweck aber letztlich darin besteht, Nutzer-Daten und Datenströme zu generieren, die sich vermarkten lassen. Tatsächlich, so Dolata, schafft es die globale Marktmacht der Internet-Großkonzerne, das Geschehen in der Internet-Ökonomie zu dominieren und in ihrem Sinne zu steuern.

Thomas Laux untersucht in seinem Beitrag die Mechanismen zur Gleichstellung von Frauen im Recht auf globaler Ebene und fragt nach der Souveränität von Staaten in diesem Egalisierungsprozess. Zwei Ansätze dominieren die Diskussion: Während die Bewegungs- und Zivilgesellschaftsforschung vor allem die Rolle des Nationalstaates in diesem Prozess unterstreichen, behauptet der Weltkulturansatz die Dominanz globaler Strukturen. Mithilfe einer vergleichenden qualitativen Analyse in 28 OECD-Staaten vermag Laux zwei Mechanismen der Gleichstellung herauszuarbeiten: Zum einen wird der Egalisierungsprozess durch die gewichtige politische Repräsentation von Frauen bzw. von starken linken Parteien, zum anderen durch die Kooperation einer starken Frauenbewegung mit der Ratifikation transnationaler Gleichstellungsabkommen durch die Staaten gestützt.

Den Schlusspunkt setzt Anja Röckes Bericht über die zahlreichen Versuchungen der Optimierung der eigenen Lebensführung und schlägt damit eine Brücke zu Max Weber, der ja selbst davon ausgegangen ist, dass die Rationalisierung der Lebensführung sich ungebremst fortsetzen wird. Wahrscheinlich wäre er aber gleichwohl von dem Ausmaß und der Leidenschaft für das „Leibmessen“ überrascht gewesen.