Die ersten wissenschaftlichen Schulen der Haut- und Geschlechtskrankheiten entstanden in Westeuropa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in Russland entstanden sie erst nach der Gründung der Lehrstühle für Haut- und Geschlechtskrankheiten an den medizinischen Fakultäten der Universitäten am Ende des 19. Jahrhunderts [1]. Der Dermatologie-Unterricht war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den russischen Universitäten sehr schlecht organisiert. Dies lag am Fehlen von unabhängigen Lehrstühlen und Kliniken und an den knappen finanziellen Zuwendungen, die die Regierung den Hochschulen machte.

Die zaristische Regierung war immer gegenüber den Hochschulen misstrauisch, besonders in der Ära von Nikolaus I. Die Hochschulen galten immer als die Brutstätte der „Freigeisterei und des Aufruhrs“. Man kann sagen, dass die Regierung die Hochschulen und die Entwicklung der Wissenschaft eher duldete, als förderte. Eine besondere Aufmerksamkeit verdienen die russischen wissenschaftlichen dermatologischen Schulen von Prof. Polotebnov und Prof. Tarnowsky (St. Petersburg) und die Schule von Prof. Pospelov (Moskau). Diese Schulen waren die Motoren der wissenschaftlichen dermatologischen Tätigkeiten. Die europäischen dermatologischen Zentren haben die Entwicklung der russischen Dermatologie wesentlich beeinflusst. Aufgrund seiner geographischen Lage spielte das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien eine bedeutende Rolle, weil da viele Gründer der russischen dermatologischen Schulen dort ihr Praktikum ableisteten: A.G. Polotebnov, W.M. Tarnowsky (Sankt-Peterburg), A.I. Pospelov (Moskau), M.I. Stukovenkov (Kiev), P.W. Nikolsky (Rostow am Don) und andere [2].

In St. Petersburg wurden die Haut- und Geschlechtskrankheiten bis zur Gründung des entsprechenden Lehrstuhls (1869) an den Lehrstühlen für Therapie und Chirurgie unterrichtet. Im Jahre 1829 hielt der Pharmakologe I.F. Kalinski Vorlesungen über die Hautkrankheiten aufgrund des ins Russische übersetzten Lehrbuches „A Practical Synopsis of Cutaneous Diseases“ von Thomas Bateman. Offenbar benutzte der Professor für Chirurgie P.P. Sablozky-Desyatowskyi auch dieses Handbuch der Hautkrankheiten für den Unterricht, den er 1842 im Kurs „Syphilitische Krankheiten“ gab. Die wichtige Rolle in der Entwicklung der Dermatologie in Russland spielte der Professor für Therapie Sergej Petrowitsch Botkin. Er sammelte die umfangreichen Erfahrungen in verschiedenen medizinischen Bereichen im Ausland: in der Klinik von Professor August Hirsch (Königsberg), am Pathologischen Institut von Rudolph Virchow, im Labor von Ernst Hoppe-Seyler, in den Kliniken von Ludwig Traube und Friedrich von Bärensprung (Berlin), in der Klinik von Johann von Oppolzer (Wien), im Labor von Claude Bernard, in der Klinik von Armand Trousseau (Paris) und an anderen Orten [3].

In einem Brief vom 2. Januar 1859 schrieb Botkin aus Wien: „…Alle Feiertage sind für mich unmerklich vergangen, weil ich in die Vorlesungen ging. Hebra ist gut, weil er unglaublich viele Materialien seinen Zuhörern vorstellt… Die Vorlesungen von Bärensprung finde ich tausendmal gescheiter und sehr wissenschaftlich. Und ich bin froh, dass ich mir den berliner Dermatologen, der der Erzfeind des wienerischen Dermatologen ist, angehört habe.“

Seinerzeit widmete Botkin eine der Vorlesungen den reflektorischen Erscheinungen in den Hautgefäßen und dem Reflexschweiß. Eine weitere seiner Vorlesungen war der Syphilis der Leber gewidmet. Zum ersten Mal führte er in Russland experimentelle Labormethoden zur Untersuchung der Kranken ein, aber er begeisterte sich nicht für die mechanische Einschätzung der erhaltenen Ergebnisse. Er stellte das Nervensystem auf den ersten Platz und entwickelte seine eigene Theorie der neurogenen Pathogenese vieler Krankheiten [4].

Sein Schüler, Alexej Gerassimovitsch Polotebnov (1838–1907) (Abb. 1) übertrug die Ansichten seines Lehrers in die Wissenschaft der Hautkrankheiten und machte den Anfang der wissenschaftlichen Dermatologie in Russland. Er wurde in der Familie eines Priesters im Dorf Alekseevskoe, im Bezirk Skopino (jetzt das Rjasaner Gebiet) geboren. Er besuchte die geistliche Schule und das Priesterseminar, im Jahre 1858 wurde er an der Petersburger Medizinisch-Chirurgischen Akademie (Abb. 2) immatrikuliert. Im 8. Semester begann er in der Klinik von S.P. Botkin zu arbeiten. 1864 – nach dem Abschluss der Akademie mit Auszeichnung – bekam A.G. Polotebnov vom wissenschaftlichen Beirat der Medizinisch-Chirurgischen Akademie das Recht auf die wissenschaftliche Weiterbildung bei der Alma Mater für 3 Jahre. Für diese „speziellen Beschäftigungen“ wählte er die Klinik von Botkin. In dieser Zeit bemerkte Botkin, dass es an der Akademie keinen Lehrer im Fach Hautkrankheiten gab und äußerte den Gedanken, dass sich Polotebnov in 2–3 Jahren zu einer guten Fachkraft auf diesem Gebiet entwickeln werde [5, 6]. Der wissenschaftliche Beirat stimmte seiner Meinung zu und empfahl Polotebnov, besondere Aufmerksamkeit der Arbeit an den dermatologischen Kliniken von Wien und Paris zu schenken. Nach der Ankunft in Wien lernte Polotebnov 2,5 Jahre fleißig an der berühmten Klinik von Ferdinand Hebra. Von Wien aus begab er sich für ein Jahr nach Paris, wo er an der Klinik von Pierre-Antoine-Ernest Bazen arbeitete und bei Alfred Fournier lernte; und im Jahre 1870 kehrte er nach Russland zurück [7].

Abb. 1
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A.G. Polotebnov

Abb. 2
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Die Petersburger Medizinisch-Chirurgische Akademie

Nach dem Tod des Professors F.W. Podkopaev, der auf einer Dienstreise in der Klinik von Hebra war und der von 1869 bis 1870 als Lehrstuhlleiter tätig war, leiteten den Lehrstuhl für Hautkrankheiten der Assistent M.I. Stukovenkov (von 1871 bis 1873) und Prof. W.M. Tarnowsky (von 1873 bis 1876). Wie die meisten der prominenten russischen Dermatologen, verbrachten Stukovenkov und Tarnowsky mehr als ein Jahr an den Kliniken von Hebra und Karl Ludwig Sigmund, um ihr Wissen zu verbessern.

Die weitere Entwicklung des Lehrstuhles ist mit A.G. Polotebnov verbunden. Anfang 1871 wurde Polotebnov Privatdozent für das Fach Hautkrankheiten, 1876 ein außerordentlicher Professor und Lehrstuhlleiter, 1893 ordentlicher Professor; 1894 ging er nach 30jähriger Dienstzeit in den Ruhestand [8, 9].

Das wissenschaftliche Leben von Polotebnov fing noch in seiner Studentenzeit an und war bedeutend. In der Folge werden seine wichtigsten wissenschaftlichen Werke in der westlichen Literatur angeführt. Nach dem 8. Studiensemester schrieb er unter Botkins Leitung sein erstes Werk „Beiträge zu Untersuchungen über die Wirkung der Quicksilberpräparate“, das 1864 in Deutschland veröffentlicht wurde. Nach der dreijährigen Assistenzzeit bei Botkin promovierte er aufgrund seiner Arbeit „Über die Sklerose der Arterien als Ursache der konsekutiven Herzerkrankungen“, die im englischen Fachschrifttum zitiert wurde.

Seine wichtigsten Arbeiten zur Dermatologie wurden in den „Dermatologischen Untersuchungen aus der Klinik von Professor Polotebnow“ (1886) gesammelt. Einige von ihnen wurden in Deutschland veröffentlicht: „Zur Lehre von den Erythemen“ (1887), „Über Erysipel“ (1888), „Zur Pathogenese des Lichen ruber“ (1888), „Über die Beziehungen des Ekzems zu Störungen des Nervensystems“ (1891), „Einleitung in den Cursus der Dermatologie“ (1896) u. a.

Prof. Polotebnov führte zum ersten Mal genaue Untersuchungen der infektiösen Formen von Erythemen durch. Irrtümlich vereinigte er aber eine Gruppe von Krankheiten, die sich äußerlich und grundsätzlich voneinander unterscheiden (Psoriasis, Pemphigus, Lichen ruber, Ichthyosis, Prurigo und Sklerodermie) zu einer nosologischen Einheit. Er war der erste in St. Petersburg, der Lichen ruber, Elephantiasis osseum und Aussatz diagnostizierte, und war einer der ersten, der die Bedeutung des Klimas, der Wasser- und Strommethoden in der Behandlung von Dermatosen untermauerte [10, 11].

Eine bedeutende Zahl von Arbeiten widmete Prof. Polotebnov der Untersuchung des Aussatzes und der Geschlechtskrankheiten. Er meinte, dass ihre Ausbreitung einen sozialen Charakter hat.

Prof. Polotebnov publizierte viele wissenschaftliche Arbeiten nicht nur auf dem Gebiet seiner Fachrichtung, sondern auch auf Gebieten anderer wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Probleme; eine besondere Aufmerksamkeit verdienen folgende: „Über den Ursprung und die Vermehrung der Bakterien“ (1869), „Die Pflanzenorganismen als der Grund der Infektionskrankheit“ (1871), „Die pathologische Bedeutung des Schimmels“ (1873). Als er sich mit der Frage des medizinischen Wertes des grünen Schimmels beschäftigte, zeigte er seine therapeutische Wirkung auf Wunden und Geschwüre, und nahm somit die Idee der Behandlung mit Antibiotika vorweg. Eines seiner Experimente führte er 1872 in Wien im Labor von Prof. Julius von Wiesner durch. Er verwendete eine Nährlösung von Pasteur, in die er die Sporen oder das Myzel von Schimmel gab und sah, dass die Bakterien kein Wachstum zeigten. Aber, wie es oft in der Mikrobiologie geschah, geriet diese Beobachtung in Vergessenheit und wurde von einem anderen Forscher wieder entdeckt [10, 12].

Polotebnovs Werke hatten für die westliche Dermatologie kaum eine richtungsgebende Bedeutung, aber sie trugen zu wissenschaftlichen Publikationen bei, deren Zahl viel geringer als heute war. Demgegenüber dienten die Erfahrungen der europäischen Dermatologie zur Erschaffung der russischen Dermatologie in Jahren ihrer intensiven Entwicklung.

Die russische Dermatologie vermied am Anfang ihrer Entwicklung Dank Polotebnov die Extreme der englisch-wiener morphologischen Schule von Willan und Hebra und der französischen humoralen Schule von Alibert. Nach der Ausbildung in den besten ausländischen Kliniken analysierte Prof. A.G. Polotebnov die Ansichten und die Richtungen der berühmtesten ausländischen Fachkräfte und kam zu dem traurigen Schluss, dass in der Dermatologie die einseitige „mineralische oder botanische“ Methode der Forschung herrsche. Die ganze Aufmerksamkeit schenkten die Forscher dem Ausschlag und seinen morphologischen Besonderheiten, deren Untersuchung angeblich die Möglichkeit gebe, nicht nur die richtige Diagnose zu stellen, sondern auch das Wesen der Krankheit zu erschließen. Dabei wurde die Untersuchung des Organismus des Kranken als Ganzes ignoriert, untersucht werde die kranke Haut, nicht der Kranke. Prof. Polotebnov führte in der Klinik die ganzheitliche Untersuchung der Hautkranken ein und stellte die klinischen Beobachtungen auf die Höhe der modernen Forschungen. Mittels der ausführlichen Untersuchungen der Hautkrankheiten in seiner Klinik klärte er deren Verbindung mit einer ganzen Reihe von Schädigungen der inneren Organe und der Nerven auf.

Prof. Polotebnov gründete eine neue originelle Richtung, die auf zwei Prinzipen basierte:

  1. 1.

    Es ist notwendig, die Hautkrankheiten aus der Sicht des Organismus als Ganzes mit allen seinen inneren und äußerlichen Beziehungen zu betrachten.

  2. 2.

    Es ist notwendig, nicht nur morphologische, sondern auch funktionelle Veränderungen der Haut zu untersuchen, denn sie gewährleistet die Ausführung einer Reihe von Funktionen, die für den ganzen Körper lebenswichtig sind.

Entsprechend der Konzeption von Prof. Polotebnov sollten die Krankheiten der Haut (Psoriasis, Ekzem, Pemphigus) als Affektion des gesamten Organismus betrachtet werden, dabei soll man berücksichtigen, dass das Nervensystem die führende Rolle in ihrer Pathogenese spielt. 1896 sagte Prof. Polotebnov: „Bis jetzt wurden in der Dermatologie nur die Krankheiten untersucht, die an diesen Krankheiten leidenden Kranken warten noch auf die allseitige Untersuchung“ [9, 10].

Zu jener Zeit wählte die russische Dermatologie die pathophysiologische Entwicklungsrichtung. Dank den auf dem Gebiet der Bakteriologie, der Immunologie, der Endokrinologie und des vegetativen Nervensystems gemachten Entdeckungen wurde sie zu einer neuen Etappe der Entwicklung gebracht – die ätiologische Etappe.

Die russische Dermatologie entwickelte sich hauptsächlich nach den wissenschaftlichen Richtungen, die in den Werken von Prof. Polotebnov vorgegeben waren. Die wissenschaftlichen Leitsätze von Prof. Polotebnov waren der Orientierungspunkt für die weitere Entwicklung der russischen Dermatologie. Um Prof. Polotebnov bildete sich in St. Petersburg eine eigene dermatologische Schule, die Anerkennung fand und in ihren Reihen hervorragende Gelehrte und zukünftige Lehrstuhlleiter, wie T.P.Pavlov, M.I.Stukovenkov, W.M.Tarnowsky, W.W.Ivanov, O.N.Podwysozkaja hatte [11].

Das größte Verdienst von Prof. Polotebnov bestand darin, dass er beharrlich die Frage der Notwendigkeit des Unterrichtes in Hautkrankheiten für Studenten der medizinischen Hochschulen aufwarf. Als er aus dem Ausland zurückkehrte, entdeckte er, dass die Studenten im Fach Hautkrankheiten auf ganz niedrigem Niveau unterrichtet wurden. Er erklärte mit Eifer im Artikel „Über den gegenwärtigen Stand des dermatologischen Unterrichts in Russland“ (1882) die große Bedeutung dieses Faches für die russischen Ärzte. Das Ergebnis war die Einführung der Haut- und Geschlechtskrankheiten als obligatorisches Fach in das Statut der Universität im Jahre 1884. Prof. Polotebnov als Begründer der russischen dermatologischen Schule stellte große Anforderungen an diejenigen, die die Grundlagen der Wissenschaft begreifen wollten. Er meinte, dass für die erfolgreiche dermatologische Arbeit die jungen Ärzte nicht weniger als drei Jahre in den Kliniken der inneren Krankheiten und der Nervenkrankheiten arbeiten sollten. Dies ist darauf zurückzuführen, dass er seinerzeit selbst als Assistent des bekannten Gelehrten, des Gründers der russischen therapeutischen Schule und seines Lehrers S.P. Botkin, tätig war. Die in die Klinik von Prof. Polotebnov kommenden, künftigen Dermatologen kannten sich bereits gut in der klinischen Praxis aus, konnten den Patienten richtig untersuchen, Diagnosen stellen, Differentialdiagnostik betreiben und die internistischen und neurologischen Erkrankungen nach dem Regeln der Kunst behandeln. Deshalb meint man in Russland, dass eine gute dermatologische Fachkraft nur jener Arzt ist, der die Grundsätze der inneren Medizin kennt und sie richtig in der Praxis anwenden kann [5].

In den Jahren 1876 und 1883 veröffentlichte er seine Übersetzung des „Lehrbuches der Hautkrankheiten“ von Hebra und Kaposi, im Jahre 1886 übersetzte er „Practical Treatise on Diseases of the Skin“ von L.A. Duhring und schuf das Museum der „Kunststoff-Formen“ (Gipsabgüsse von verschiedenen Hautkrankheiten).

Im Laufe seiner Karriere machte er mehrere Reisen nach Wien, Berlin und Paris, um seine Kenntnisse zu verbessern, Erfahrungen mit Kollegen auszutauschen, seine Arbeiten zu veröffentlichen und an den internationalen Konferenzen teilzunehmen [7]. Die Erfolge der westlichen Medizin, die talentierte und wissbegierige russische Ärzte vermehrt haben, dienten als Anregung zur Entwicklung vieler Richtungen der russischen Medizin, der Gründung neuer Lehrstühle und vieler wissenschaftlicher Schulen. Dies ermöglichte der russischen Medizin, Erfolg und Anerkennung auf internationalem Niveau zu erreichen und in kurzer Zeit führende Positionen auf diesem Gebiet zu erreichen.

FormalPara Acknowledgments

This project would not have been possible without the kind support and help of Natalja Wastschenko (Goethe-Institut Moskau). I would like to extend my sincere thanks to her.