Liebe Leserinnen und Leser,

der Schweizer Arzt, Alchemist und Philosoph stellte in seiner dritten „Defension wegen des Schreibens der neuen Rezepte“ fest:

Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.

Quelle: http://de.wikiquote.org/wiki/Paracelsus; Zugriff am 8. Oktober 2012.

Zur Zeit von Paracelsus, im 15. Jahrhundert, stand die tödliche Wirkung im Mittelpunkt der Betrachtungen, d. h. der vermeintliche Zusammenhang zwischen Giftverabreichung und Wirkung hatte einen eindeutigen Endpunkt, den Tod. In der modernen Toxikologie stellen sich die Substanzen mit ihren möglichen Aufnahmewegen und ihrer Verfügbarkeit im menschlichen Organismus in Zusammenhang mit der Wirkung auf Organsysteme und therapeutische Interventionen zur Giftelimination bzw. dem Einsatz von Antidots dar. Typische Gifte sind weniger im Rahmen von Straftaten als vielmehr durch versehentliche Aufnahme oder im Rahmen von Unfällen notfallmedizinisch relevant.

„Obgleich die Toxikologie ein medizinisches Fach mit großer Bedeutung für die ärztliche Praxis ist, spielt sie in der Ausbildung für Mediziner – auch im internationalen Vergleich – eine untergeordnete Rolle“, schreibt die Deutsche Forschungsgemeinschaft in ihrer Denkschrift zur Toxikologie aus dem Jahre 1999. Die Zahl der Universitätsinstitute auf dem Gebiet der Toxikologie hat sich in den letzten 30 Jahren halbiert. Warum? Unter anderem, weil sie vielerorts versäumt hat, sich in die Krankenversorgung der Universitätsklinik, in gemeinsame Lehrveranstaltungen mit Klinikern, in fächerübergreifenden Forschungsvorhaben zu integrieren, so die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Von den ehemals 17 Giftinformationszentren in Deutschland existieren derzeit noch 9, 4 davon in Kinderkliniken, eine ist in Wien, eine in Zürich. Bei den deutschen Giftinformationszentren gehen jährlich rund 180.000 Anrufe ein, die Hälfte betrifft Kinder. In der Münchner Giftinformationszentrale im Klinikum rechts der Isar (Beitrag Eyer und Zilker) mit jährlich 35.000 Anrufen kommt die Hälfte aus der Bevölkerung, die andere Hälfte von Ärzten, letztere wiederum zu 75% aus Kliniken und zu 25% von niedergelassenen Ärzten.

Die Giftinformationszentren sind verpflichtet, relevante Erkenntnisse über das Vergiftungsgeschehen in Deutschland der „Dokumentations- und Bewertungsstelle für Vergiftungen“ beim Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bekannt zu geben. Bürokratismus oder aktive Präventivmedizin? Letzteres ist richtig: Genannt sei das Beispiel eines knapp 3-jährigen Mädchens, welches einen salpetersäurehaltigen Rost- und Kalklöser trank, der in Deutschland v. a. in türkischen Einzelhandelsgeschäften verkauft wurde. Hier folgte via EU-Kommission ein Verbot des Inverkehrbringens als Haushaltschemikalie. Wie auch schon im Falle der gefährlichen Lampenöle und Grillanzünder wurde durch die BfR-Dokumentation für alle europäischen Verbraucher das Risikopotenzial geregelt (BfR, Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen 2010, S. 3). Die Kasuistiken des BfR sollten Pflichtlektüre nicht nur für Medizinstudenten und für Personen an gefährdenden Arbeitsplätzen, sondern auch für Eltern und Hausfrauen/-männer sein:

  • toxisches Lungenödem nach Inhalation von sog. Magic-Nano-Imprägnierspray (welches markanterweise gar keine Nanopartikel enthielt),

  • Ösophagusverätzungen nach versehentlichem Trinken von Abflussreiniger,

  • Inhalationstrauma durch Güllegase, vorrangig Schwefelwasserstoff,

  • schwere Augenverletzungen durch dentales Ätzgel (BfR, Ärztliche Mitteilungen bei Vergiftungen 2010,S. 42–52).

Toxikologisch sind diese exemplarisch genannten Fälle und viele andere gewissermaßen vorhersehbar und laufen nach ziemlich gut bekannten Regeln ab. Die Prävention hat hier aber immer noch ein gewaltiges Umsetzungsdefizit. Jeder von uns kann hierzu etwas beitragen.

Vergiftungen im Erwachsenenalter haben sich in den letzten Jahrzehnten in ihrer Ätiologie nur wenig geändert. An erster Stelle stehen Suizidversuche/Suizide durch Ingestion von Medikamenten oder Chemikalien. An zweiter Stelle stehen Vergiftungen bei Patienten mit Alkohol-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch, die sich im Rahmen von Kontrollverslust oder Fehleinschätzung der Dosis Vergiftungen zufügen. An dritter Stelle bei Erwachsenen folgen Vergiftungsunfälle [2].

Bei Kindern standen bis in die 60er Jahre akzidentelle Vergiftungen durch beispielsweise Säuren und Laugen im Vordergrund, mit jährlich Hunderten von Toten und schwer Geschädigten. Die Zahl ist auf jährlich unter 10 zurückgegangen – durch kindergesicherte Verschlüsse von Haushaltschemikalien und durch Blisterpackungen für Medikamente.

Bei Jugendlichen geht der Alkoholkonsum im Mittel erfreulicherweise zurück, aber die Tendenz zum „Komasaufen“ ist ungebrochen: Alle 11 min kommt in Deutschland ein Jugendlicher oder junger Erwachsener im Alter zwischen 15 und 25 Jahren wegen Cannabis- oder Alkoholkonsums ins Krankenhaus. Die meisten Krankenhauseinweisungen gehen auf Alkohol zurück. In 4 von 5 Fällen liegen akute Vergiftungen vor, zum Großteil eben infolge „Komasaufen“ [1].

Liebe Leserinnen und Leser,

im vorliegenden Heft haben wir aus diesem riesengroßen Gebiet drei praxisrelevante Artikel für Sie zusammengestellt: Eyer und Zilker (München) fassen die Wirkung und notfallmedizinische Behandlung von Drogenintoxikationen zusammen – ein Problem überwiegend bei Jugendlichen. Hingegen betreffen Vergiftungen mit Herzmedikamenten (Beitrag Trappe, Bochum) überwiegend ältere Patienten, gerade mit dem Problem der Multimedikation und gegenseitigen Beeinflussung der Medikamente. Der dritte Beitrag (Berzewski und Pajonk, Berlin bzw. Göttingen) geht auf die Problematik des präklinischen und klinischen Umgangs mit suizidalen Patienten ein – mit der aufrüttelnden Feststellung, dass etwa die Hälfte von Patienten mit Suizidalität in der Notaufnahme ohne weitere psychiatrische bzw. psychotherapeutische Behandlung entlassen wurde. Dabei reduziert die psychiatrische Intervention das Risiko eines neuerlichen Suizidversuchs wiederum um die Hälfte. Dies ist ein klares Signal für die Intensivierung der Interdisziplinarität somatischer und psychiatrischer Fächer.

Ihre

D. Nowak

U. Kreimeier