Die moderne Schockraumdiagnostik handelt prioritätenorientiert. Kurzkonzepte wie ATLS (Advanced Trauma Life Support) oder ETC (European Trauma Course) lehren eine systematische Herangehensweise bei allen Schockraumpatienten. Durch diese systematische, prioritätenorientierte Untersuchung und Therapie der Mehrfachverletzten gelingt es, eine möglichst vollständige Erfassung des Verletzungsmusters zu erlangen. Standardmäßig stehen uns folgende Möglichkeiten zur Informationsgewinnung über die Verletzungsschwere des Patienten zur Verfügung:

Die Schnittstelle zur präklinischen Versorgung ist die Übergabe durch den Notarzt. Durch ein standardisiertes Übergabeprotokoll nach dem ABCDE-Schema erfährt das Schockraumteam möglichst vollständig Informationen zum Unfallhergang und über die Art der Erstversorgung des Patienten. Unabdingbar ist die klinische Untersuchung des Patienten. Sie erfolgt am komplett entkleideten Patienten. Diese Untersuchung gibt Hinweise auf mögliche Gewalteinwirkung und lässt einen Großteil der Extremitätenverletzungen bereits vermuten. Für Körperstammverletzungen, speziell Verletzungen des Abdomens, ergibt die klinische Untersuchung wertvolle indirekte Hinweise. Die Fast-Sonographie kann in kürzester Zeit das Vorliegen von freier intraabdomineller Flüssigkeit nachweisen. Bei spezieller Expertise kann durch die „extended FAST“-Untersuchung auch suffizient der Thoraxraum speziell im Hinblick auf das Vorliegen eines Pneumothorax untersucht werden. Mit dem Vorliegen von massiver freier Flüssigkeit im Abdomen und kreislaufinstabilen Verhältnissen des Patienten ist die Diagnostik zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und die Indikation zur Notfalllaparotomie gegeben. Nur im Falle eines kreislaufstabilen Patienten ist der Goldstandard der Diagnostik beim polytraumatisierten Patienten die Computertomographie (CT). Trotz der sehr hohen Sensitivität und Spezifität der CT-Untersuchung, erreicht durch den triphasischen Kontrastmitteleinsatz, gibt es immer noch schwer zu beurteilende Körperregionen. Übereinstimmend in der Literatur werden hierbei das Zwerchfell und das Mesenterium von Dünn- und Dickdarm benannt.

Trotz der uns zur Verfügung stehenden diagnostischen Mittel treten immer noch sog. „missed injuries“ (MI) v. a. bei polytraumatisierten, intubierten Patienten auf. Übrigens wird der Begriff der sog. „missed injuries“ in der Literatur sehr unterschiedlich verwendet. Vom Sinn her gleichbedeutend sind „verzögert diagnostizierte Läsionen“ oder „übersehene Verletzungen“. Ein Blick in die Literatur gibt die Häufigkeit von sog. „missed injuries“ in sehr unterschiedlicher Frequenz an. So rangieren die Prozentzahlen zwischen 2 bis hin zu 30 %. Der Grund hierfür ist zum einen die sehr unterschiedliche Begriffsbenutzung, eine unterschiedliche Methodik der Datenerhebung und ein unterschiedliches Verständnis für übersehene Verletzungen. So zeigen z. B. Pehle et al. im Jahr 2006 [3] eine Auftretensrate von ca. 5 % für sog. „missed injuries“ in einer retrospektiven Studie über fast 1200 Schockraumpatienten. Die Datenerhebung dieser Studie reicht jedoch bis in das Jahr 1980 zurück. Hierbei ist anzumerken, dass dies ein Zeitraum vor der Ära der Schockraum-CT-Diagnostik ist und somit kein vergleichbares Patientenkollektiv darstellt.

Eine Studie von Sung [4], veröffentlicht im Journal of Trauma, berichtet über eine „missed injury“-Rate beim Abdominaltrauma von 2 %. Berücksichtigt werden hierbei jedoch ausschließlich die intraoperativ übersehenen Verletzungen.

Eine neuere Studie aus Finnland von Tammelin [1] zeigt eine Quote von „missed injuries“ von 7 %. Diese Quote wird anhand eines sog. „tertial survey“ auf der Intensivstation festgestellt.

Eine groß angelegte Review-Arbeit von Pfeifer und Pape [2] berichtet über eine „missed injury“-Rate von 22 %. Diese hohe Zahl wird erreicht durch die Einbeziehung von Studien, die bis in das Jahr 1970 zurückreichen, zum anderen auch durch die Einbeziehung von sämtlichen Verletzungen, auch außerhalb des viszeralchirurgischen Bereiches.

Eine Quote von sogar 30 % „missed injuries“ berichtet Montmany aus Spanien [5]. Es handelt sich um eine Obduktionsstudie von schwerstverletzten Patienten, die im Laufe der stationären Behandlung verstorben waren. Hierbei wurden in Autopsiebefunden 30 % relevante, revisionsbedürftige Verletzungen festgestellt, die bei der primären Schockraumdiagnostik nicht erkannt wurden.

Dies zeigt bisher unterschiedliche Handhabungen des Begriffes der „missed injuries“.

Methodik

Für die vorliegende Arbeit definierten wir den Begriff der „missed injuries“ wie folgt: Verletzungen, die nach Ende der Schockraumdiagnostik noch nicht bekannt waren und die eine Intervention oder Operation zur Folge hatten, wurden bei uns als übersehene Verletzung bezeichnet.

Um die Fragestellung zu beantworten, ob es im modernen Schockraummanagement eine diagnostische Lücke geben könnte, zogen wir das eigene Patientenkollektiv heran. Wir untersuchten Patienten, die in den Jahren 2009 bis 2013 der Schockraumbehandlung unterzogen wurden, nach (Abb. 1). In diesem Behandlungszeitraum handelt es sich um 2009 Patienten. Von diesen erlitten 188 Patienten eine relevante Abdominalverletzung (relevant = AIS (Abbreviated Injury Scale) > 3). In unserem Patientenkollektiv handelte es sich überwiegend um stumpfe Abdominaltraumata, die aus Verkehrsunfällen und Stürzen aus großer Höhe herrührten. Penetrierende Verletzungen sind eine Rarität. Die Patienten zeigten eine normale Altersverteilungskurve mit dem Maximum in den Lebensdekaden zwischen 30 und 50 Lebensjahren. Der durchschnittliche ISS-Score liegt bei 24,3. Von diesen 188 Patienten mit Abdominalverletzungen, was einer Quote von 9,4 % entspricht, mussten 81 Patienten der operativen Behandlung zugeführt werden. Dies entspricht einer Prozentzahl von knapp 45 %. Diese Quote deckt sich mit dem Datenkollektiv der Polytraumadatenbank der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU). Es wurden 68 Patienten unmittelbar nach der Schockraumdiagnostik notfallmäßig operiert, 13 Patienten wurden nicht notfallmäßig operiert, sondern erst mit zeitlicher Verzögerung zwischen 5 h und 6 Tagen nach der initialen Schockraumbehandlung.

Abb. 1
figure 1

Workflow der retrospektiven Analyse der Polytraumatisierten Patienten an der BG Unfallklinik Murnau des Zeitraumes von 2009–2013

Diese Fälle untersuchten wir weiter und trafen folgende Einteilung: Die Patienten, die wegen einer bekannten Diagnose erst im weiteren stationären Verlauf operiert werden mussten, wie z. B. nach initialer konservativer Therapie bei Milzruptur oder Nierenruptur, wurden in die Gruppe sog. „sekundär geplant“ eingeteilt. Die Patienten, die sog. „sekundär ungeplant“ operiert werden mussten, wurden der erneuten retrospektiven CT-Wertung zugeführt. Retrospektiv erfolgte die erneute Wertung der Polytrauma-CT unter Beisein eines erfahrenen unfallchirurgischen Kollegen und eines radiologischen Kollegen. Von diesen 7 Fällen konnten 4 der relevanten Verletzungen in der retrospektiven CT-Wertung erkannt werden, die somit als „vermeidbar“ eingestuft wurden. Drei Verletzungen konnten auch retrospektiv nicht verifiziert werden, sodass diese als „nicht vermeidbar“ eingestuft wurden. Hierbei handelte es sich 2‑mal um einen mesenterialen Einriss mit nachfolgender Blutung sowie 1‑mal um eine sekundäre Darmgangrän, basierend auf einer Sigmadivertikulose. Interessanterweise konnten Zwerchfellrupturen, die der primären Diagnostik entgangen waren, in der retrospektiven Analyse erkannt werden.

Ein Sonderfall in unserem Patientenkollektiv war ein Patient nach Fahrradsturz mit Schädel-Hirn-Trauma und einer sog. Milzblutung im Parenchym mit Kontrastblush in der initialen Polytrauma-CT. Dieser wurde klassifiziert nach AAST-Grad 3 (Abb. 2a, b; roter Kreis). Dieser Patient wurde der konservativen Therapie zugeführt. Bei ihm kam es am dritten postoperativen Tag zur zweizeitigen Milzruptur, die dann der Splenektomie zugeführt wurde. Bei der rückblickenden Analyse wäre dies ein passendes Verletzungsmuster für Arteriographie und Angioembolisation gewesen. Möglicherweise hätte hierdurch die Splenektomie vermieden werden können.

Abb. 2
figure 2

a initiales PolytraumaCT, koronare Schicht zur Darstellung eines sog. „Kontrastmittel Blush“ im Unterpolbereich der Milz (roter Kreis). b Kontroll CT nach 3 Tagen, nach stattgehabter „zweizeitiger“ Milzruptur. Dieser Patient musste bei Kreislaufinstabilität der Splenektomie zugeführt werden. Weitere Einzelheiten im Text

Ergebnis

Zusammenfassend lassen sich die sog. „missed injuries“ im Abdominalbereich nach Polytraumatisierung nach unserer Definition anhand der CT-Diagnostik in 3 Gruppen unterteilen:

  • Die erste Gruppe ist die Gruppe mit eindeutigem CT-Befund, der nicht wahrgenommen wurde. Dies lässt sich durch entsprechende Schulungen bzw. Anwendung des sog. 4‑Augen-Prinzips reduzieren.

  • Die zweite Gruppe ist diejenige mit unklarem CT-Befund. Hierbei muss eine konsequente Anschlussdiagnostik erfolgen. Dabei handelt es sich um engmaschige Verlaufskontrollen bis hin zur Laparoskopie, ggf. explorativen Laparotomie.

  • Die letzte Gruppe ist diejenige, die auch retrospektiv kein CT-Korrelat zeigt. Diese Verletzungen werden auch in Zukunft nicht vermeidbar sein.

Schlussfolgerung

Es gibt eine diagnostische Lücke hinsichtlich der Abdominalverletzungen beim polytraumatisierten Patienten in der Schockraumdiagnostik. Bei uns in der BG-Unfallklinik Murnau handelt es sich um 3 Patienten bei einem Kollektiv von 188 Patienten, was einer Quote von ca. 1,6 % entspricht.

Wir konnten in Zusammenschau mit der vorliegenden Literatur junge Männer mit schwerem Verletzungsmuster, die bei Aufnahme bereits intubiert waren, zeigten sich uns als als Risikopatienten. Das Mesenterium des Dick- und Dünndarms sowie das Kolon selbst erkannten wir als Risikoorgane. Als Risikoverletzungen konnten wir Wirbelsäulenfrakturen im thorakolumbalen Übergangsbereich (Chance-Frakturen) sowie Beckenfrakturen identifizieren.

Fazit für die Praxis

Unsere Empfehlung geht dahin, Patienten, die in eine der oben genannten Risikogruppen fallen, einer längeren und engmaschigeren Reevaluation zuzuführen.