Die gesetzliche Unfallversicherung hat 2012 das neue Psychotherapeutenverfahren eingeführt, um eine frühzeitige professionelle Hilfe zu ermöglichen und die adäquate ambulante Versorgung von Versicherten mit psychischen Störungen sicherzustellen. Die spezifischen Zulassungsanforderungen und Verfahrensregelungen für die Netzwerk-Psychotherapeuten haben sich grundsätzlich bewährt. Allerdings sind noch weitere Anstrengungen notwendig, um die Versorgungsstrukturen und -prozesse weiter zu optimieren, Problemfälle frühzeitiger zu identifizieren und die Schnittstellen zur Einbindung der D-Ärzte sowie zu anderen teil- bzw. stationären Behandlungseinrichtungen zu schließen.

Fallbeispiel

Einer im ambulanten Pflegedienst beschäftigten Krankenschwester läuft bei der Fahrt zu einer Patientin ein Kleinkind in das Fahrzeug. Sie berichtet dem D-Arzt, dass sie trotz Vollbremsung den Zusammenstoß nicht vermeiden konnte, das Kind mit Hirnblutungen ins Krankenhaus gekommen sei und in Lebensgefahr schwebe. Der D-Arzt diagnostiziert bei der Krankenschwester eine HWS-Distorsion und stellt einen schweren Unruhezustand fest. In der Folge entwickelt die Betroffene Fahrängste, die psychotherapeutisch behandelt werden, um die Gesundheit wiederherzustellen und die erfolgreiche Wiedereingliederung in das Arbeitsleben erreichen zu können.

Für den D-Arzt und für den Unfallversicherungsträger (UV-Träger) ist inzwischen selbstverständlich, dass im vorgestellten Fallbeispiel neben der körperlichen Verletzung auch die psychischen Unfallfolgen zu berücksichtigen sind und vom Versorgungsauftrag nach § 8 SGB VII umfasst werden. In solchen Konstellationen findet regelmäßig eine Vorstellung bei einem Psychotherapeuten statt, um eine mögliche psychische Störung diagnostisch abzuklären und bei Bedarf probatorische Sitzungen einzuleiten. Versicherte, die für ihre Berufstätigkeit auf ein Fahrzeug angewiesen sind, können infolge eines solchen Unfallereignisses Fahrängste entwickeln. Dann sind neben der interdisziplinären Behandlung durch den D-Arzt und den Psychotherapeuten weitere, ergänzende Leistungen notwendig, um die volle Leistungsfähigkeit zu ermöglichen. So übernehmen die UV-Träger auch Fahrtrainings durch ausgewählte Fahrschulen, unter Umständen in Begleitung eines Psychotherapeuten.

Ein wesentlicher Baustein für die adäquate ambulante Versorgung von psychischen Störungen nach Arbeitsunfällen ist das Psychotherapeutenverfahren der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), das zum 01.07.2012 eingeführt wurde [1]. Nachdem erste Erfahrungen und statistische Daten zur Umsetzung vorliegen, ist eine Zwischenbilanz zu ziehen. Zudem wird die besondere Rolle des D-Arztes bei der Zusammenarbeit mit Netzwerk-Psychotherapeuten betrachtet.

Das „neue“ Psychotherapeutenverfahren

Das Psychotherapeutenverfahren soll die ambulante Versorgung von der Akutintervention bis zur beruflichen Reintegration sicherstellen und alle Beteiligten einbeziehen: die Versicherten, die behandelnden Psychotherapeuten, die D-Ärzte, die UV-Träger und die jeweiligen Arbeitgeber. Ziel ist, dass Versicherte mit psychischen Auffälligkeiten bzw. Störungen frühzeitig und adäquat professionelle Hilfe erhalten. In den Anforderungen zum Psychotherapeutenverfahren [2] sind die notwendigen fachlichen Qualifikationsvoraussetzungen und weitere Bestimmungen für die Zulassung von Leistungserbringern geregelt. Von besonderer Bedeutung für die Zusammenarbeit mit D-Ärzten und UV-Trägern sind die Pflichten im Rahmen des SGB VII-Versorgungsauftrags. So müssen die Psychotherapeuten beispielsweise das Reha-Management und eine schnelle berufliche Reintegration unterstützen. In der Handlungsanleitung zum Psychotherapeutenverfahren [3] wird der generelle Ablauf im Behandlungsprozess normiert. Von den Netzwerktherapeuten wird u. a. verlangt, Versicherte innerhalb einer Woche in die Behandlung zu übernehmen.

Ablauf im Behandlungsfall

Psychotherapeuten werden in das Heilverfahren eingebunden, wenn sich bei Versicherten psychische Auffälligkeiten, etwa Schlafstörungen, Ängstlichkeit bzw. Niedergeschlagenheit zeigen oder eine psychische Störung sich bereits manifestiert hat. Auch wenn Schwierigkeiten mit der Bewältigung einer persistierenden körperlichen Symptomatik (z. B. anhaltende Schmerzen, Brandnarben, Amputation, Lähmungen) auftreten, kommt das Psychotherapeutenverfahren zur Anwendung.

Sowohl der UV-Träger als auch der D-Arzt können die Konsultation eines Psychotherapeuten bzw. die Einleitung probatorischer Sitzungen initiieren (Abb. 1). Versicherte erhalten unbürokratisch bis zu 5 probatorische Sitzungen, ohne dass eine Genehmigung des UV-Trägers benötigt wird. Im Interesse der Frühintervention und Vermeidung von Chronifizierungen wird die an sich notwendige Beurteilung, ob die psychischen Störungen unfallbedingt sind, zunächst zurückgestellt. Weitere Sitzungen bedürfen dann jedoch einer Antragstellung durch den Therapeuten und einer Genehmigung durch den UV-Träger. Die Genehmigung erfolgt regelmäßig für zunächst maximal 10 Sitzungen.

Abb. 1
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Ablauf des Psychotherapeutenverfahrens

Lotsenfunktion bei der Fallidentifikation und Heilverfahrenssteuerung

Aufgabe des UV-Trägers wie auch des D-Arztes als Lotsen im Heilverfahren ist es, Betroffene mit psychischen Symptomen zeitnah zu identifizieren. Hinweise auf psychische Symptome zeigen sich für den D-Arzt oftmals bereits bei der Erstvorstellung, wenn Versicherte über das Unfallerlebnis und ihre Beschwerden berichten. In einigen Fällen werden Angaben zu einer psychischen Belastung von den Betroffenen erst bei der Wiedervorstellung gemacht oder deutlicher erkennbar. Im Zwischenbericht (F 2100) wird der D-Arzt bei besonderer Heilbehandlung ausdrücklich aufgefordert, entsprechende Hinweise auf psychische Störungen darzulegen und den UV-Träger entsprechend zu informieren. So wie andere Fachärzte zur Mitbehandlung hinzugezogen werden, kann der D-Arzt die Vorstellung bei einem Netzwerk-Psychotherapeuten selbst veranlassen. Wohnortnahe, am Psychotherapeutenverfahren beteiligten Behandler sind über den Internetauftritt der Landesverbände der DGUV mit Kontaktdaten zu recherchieren [4]. Qualifizierte Psychotherapeuten können zudem bei allen UV-Trägern oder bei den Landesverbänden der DGUV erfragt werden.

Bei der frühzeitigen Identifikation möglicher Risikopatienten, bei denen sich psychische Störungen entwickeln können, können auch klinikgestützte Screeninginstrumente zum Einsatz kommen, wie z. B. der Freiburger Screening Questionaire (Freiburger Arbeitsunfallstudien FAUST I und II [5]). Ab 2016 wird das Screening-Verfahren bei allen UV-Versicherten eingesetzt, die wegen einer Schwerstverletzung (SAV-Verletzung) in einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik behandelt werden [6]. Bei Patienten mit einem besonders hohen Risikopotenzial wird durch die psychologischen Dienste der Kliniken bereits während der stationären Akutversorgung eine diagnostische Abklärung initiiert und ggf. auch eine Behandlung eingeleitet.

Bei der Heilverfahrenssteuerung unterstützen die Psychotraumaambulanzen der Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken. Vor allem in unklaren Fällen oder bei verzögertem Heilverfahren kann der D-Arzt diese Expertise im Rahmen einer speziellen Heilverfahrenskontrolle nutzen und in Abstimmung mit dem UV-Träger eine entsprechende Vorstellung veranlassen. Für die psychologischen Dienste der Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken sind die Diagnostik und Behandlung ambulanter Patienten im Rahmen des Psychotherapeutenverfahrens zunehmend ein Schwerpunkt neben der Betreuung der stationären Patienten in Akutversorgung und Rehabilitation [7].

Kommunikation zwischen D-Arzt, Psychotherapeut und UV-Träger

Über den UV-Träger soll sichergestellt sein, dass der D-Arzt fortlaufend über die Mitbehandlung des Psychotherapeuten informiert ist. Dies ist von ganz besonderer Bedeutung, wenn ausschließlich psychische Unfallfolgen (weiterhin) die Arbeitsunfähigkeit begründen. Probleme ergeben sich durch den Datenschutz bzw. auch die Schweigepflicht der Psychotherapeuten, vor allem wenn auch psychische Vorerkrankungen zur Sprache kommen. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass für psychologische Psychotherapeuten die Auskunftspflicht nach § 201 SGB VII (Datenerhebung und Datenverarbeitung durch Ärzte) nicht greift.

Durch diese Rahmenbedingungen ist die Kommunikation und damit auch ein abgestimmter Behandlungsprozess zwischen D-Arzt, Psychotherapeut und UV-Träger erschwert. Behandler und Leistungsträger sind hier auf entsprechende datenschutzrechtliche Einwilligungserklärungen des Versicherten bzw. Patienten angewiesen, damit Befund- und Behandlungsdaten im notwendigen Umfang unkompliziert übermittelt werden können. Praxisnahe und unbürokratische Kommunikationswege zwischen D-Arzt und Psychotherapeut müssen insoweit noch gebahnt werden. Bis auf Weiteres sind die UV-Träger deshalb in der Pflicht, unter Beachtung der Datenschutzanforderungen für die wechselseitige Information über den Stand des Heilverfahrens zu sorgen. Dies gilt umso mehr, wenn ein Reha-Plan (DGUV-Formtext J 2100) aufgestellt ist und alle Mitbehandler einzubinden sind. Ungeachtet der datenschutzrechtlichen Hemmnisse ist für die Zusammenarbeit gewiss hilfreich, wenn D-Ärzte Kontakte zu den im Umkreis praktizierenden Psychotherapeuten pflegen, so selbstverständlich wie auch andere Fachärzte in Standortnähe vom D-Arzt konsiliarisch hinzugezogen werden.

Psychotherapeutenverfahren: Zahlen und Daten

Am Psychotherapeutenverfahren der DGUV waren Ende 2014 ca. 500 Netzwerkpartner beteiligt, wovon etwa 80 % psychologische Psychotherapeuten und 20 % ärztliche Psychotherapeuten sind. Von den psychologischen Therapeuten wiederum kommen ca. drei Viertel aus dem Bereich der Verhaltenstherapie und knapp ein Viertel aus dem Kreis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Jeder zehnte Netzwerkpartner verfügt zudem über die Berechtigung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen.

Im ersten statistischen Erhebungsjahr 2013 wurden von 442 zugelassenen Therapeuten (Rückläuferquote 93 %) insgesamt 5139 Behandlungsfälle (Abb. 2, mit Verteilung auf die Landesverbände der DGUV) gemeldet. Auf jeden Netzwerktherapeuten entfielen somit im Mittelwert 12 Patienten, woraus deutlich wird, dass die Versicherten der gesetzlichen Unfallversicherung nur einen untergeordneten Anteil der Patienten im Praxisbetrieb ausmachen. Diese Zahlen bilden jedoch nicht alle Behandlungsfälle mit probatorischen Sitzungen bzw. Psychotherapie ab, weil die UV-Träger zum Teil noch auf eigene Therapeutenlisten bzw. nicht beteiligte Therapeuten zurückgreifen, insbesondere in unterrepräsentierten ländlichen Gebieten.

Abb. 2
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Zugelassene Therapeuten und Fälle nach Landesverbänden der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV)

Im Verhältnis zu den ca. 1,06 Mio. meldepflichtigen Arbeits- und Wegeunfällen 2013 [8] stellt die Anzahl der Behandlungsfälle im Psychotherapeutenverfahren eine kleine Fallmenge dar. Diese Fälle können jedoch in der Heilverfahrenssteuerung häufig sehr aufwendig sein und eine besondere Steuerung im Reha-Management erforderlich machen. Die Dauer der Behandlung zeigt eine Streuung, wobei ein Behandlungsabschluss in 33 % der Fälle mit 5 probatorischen Sitzungen und kumuliert in einem Anteil von 55 % nach weiteren 10 Sitzungen der Weiterbehandlung erreicht werden konnte (Abb. 3). Etwa 44 % der Fälle bedürfen einer Behandlung von mehr als 25 Sitzungen.

Abb. 3
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Fallabschluss nach Behandlungsdauer 2013

Alle UV-Träger, die gewerblichen Berufsgenossenschaften und die UV-Träger der öffentlichen Hand, haben Versicherte im Psychotherapeutenverfahren. Erwartungsgemäß sind UV-Träger mit einer hohen Gefährdung am Arbeitsplatz durch Gewalt und Aggression durch externe Personen wie die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) und die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) besonders betroffen, vor allem auch die Unfallkassen (Abb. 4).

Abb. 4
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Verteilung der Fälle auf die Unfallversicherungs (UV)-Träger. BG RCI Berufsgenossenschaft Rohstoffe und chemische Industrie, BG HM Berufsgenossenschaft Holz und Metall, BG ETEM Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse, BGN Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gastgewerbe, BG BAU Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft, BGHW Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik, VBG Verwaltungs-Berufsgenossenschaft, BG Verkehr Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft, BGW Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege, UV-Träger öffentl. Hd. UV-Träger der öffentlichen Hand, SVLFG Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau

Das Versorgungsnetz scheint im Hinblick auf die Relation von Behandlungsfällen und Behandlern gut entwickelt unter Berücksichtigung der kurzen Zeitspanne seit der Einführung des Psychotherapeutenverfahrens Mitte 2012. In einigen Regionen der östlichen Bundesländer und in ländlichen Gebieten sind die Versorgungsstrukturen aber noch nicht ausreichend, die Versorgungslage entspricht aber den aktuellen Zulassungszahlen von Psychotherapeuten. Eine ausschließlich wohnortferne Behandlungsmöglichkeit ist bei Patienten mit psychischen Unfallfolgen besonders problematisch. Hier müssen mit allen geeigneten Mitteln Lösungen gefunden werden.

Dialog mit Netzwerk-Psychotherapeuten

Für die Beteiligung im Psychotherapeutenverfahren ist die Teilnahme an einer Einführungsveranstaltung obligatorisch. In den Jahren 2013 und 2014 haben die Landesverbände der DGUV insgesamt 9 Einführungsveranstaltungen mit über 600 Teilnehmern durchgeführt. Auf dem Programm standen insbesondere die speziellen Rahmenbedingungen der gesetzlichen Unfallversicherung, die sich in Bezug auf das Kausalitätserfordernis und die Heilverfahrenssteuerung ganz wesentlich von denen der gesetzlichen Krankenversicherung unterscheiden. Bei den Einführungsveranstaltungen haben regelmäßig auch Vertreter der Psychotraumaambulanzen der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinken und der UV-Träger mitgewirkt. Auf diese Weise war es möglich, in einen intensiven Dialog mit den Netzwerk-Psychotherapeuten einzutreten.

Fazit für die Praxis

  • Ziele des Psychotherapeutenverfahrens sind die frühzeitige und adäquate Versorgung von Versicherten mit unfallbedingten psychischen Störungen

  • Das Kooperationsnetzwerk ist interdisziplinär ausgerichtet und umfasst ambulante Psychotherapeuten. Die regelmäßig angebotenen Einführungs- und Informationsveranstaltungen für Netzwerktherapeuten und UV-Träger dienen zukünftig insbesondere auch dem gemeinsamen Austausch und der Weiterentwicklung bzw. Verbesserung der Verfahrensabläufe zwischen Psychotherapeuten, Durchgangsärzten, UV-Trägern und Psychotraumaambulanzen an den Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken

  • Weitere Anstrengungen sind notwendig, um qualifizierte Rehabilitationsprozesse von der Frühintervention bis hin zur beruflichen Wiedereingliederung auch bei psychischen Unfallfolgen flächendeckend sicherstellen zu können.

  • Das in der Versorgungslandschaft fest etablierte Psychotherapeutenverfahren soll in den Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger aufgenommen werden.

  • Die Einführung des Screeningverfahrens FAUST für alle Schwerstverletzten in den Berufsgenossenschaftlichen Unfallkliniken zum 01.01.2016 soll helfen, Risikopatienten noch frühzeitiger zu erkennen und einer adäquaten psychologischen Versorgung zuzuführen. In diesem Kontext soll auch die Wirksamkeit entsprechender Maßnahmen im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie überprüft und evaluiert werden.

Infobox: Mehr Informationen zum Thema

www.dguv.de/landesverbaende/de/med_reha/Psychotherapeutenverfahren/index.jsp (Zugriff am 07.01.2015)

http://lviweb.dguv.de/dguvLviWeb/faces/p?_afrLoop=3622417865022000&_afrWindowMode=0&_adf.ctrl-state=1b9vg5hf84_4 (Zugriff am 07.01.2015)

www.dguv.de/medien/formtexte/aerzte/F_2100/F2100.pdf (Zugriff am 07.01.2015)