Dieser Titel mag vielleicht etwas provozierend erscheinen, aber ein Blick in die Leitlinien zu häufigen von uns behandelten Krankheitsbildern lehrt, dass viele Therapieempfehlungen auf schmaler Evidenzbasis ausgesprochen werden, Klasse-1-Empfehlungen mit dem Evidenzlevel I sind alles andere als die Regel. Als Beispiele seien einige Zitate aufgeführt:

  • Die endovaskuläre Versorgung von infrarenalen abdominellen Aortenaneurysmen (AAA) bei Patienten, die ein hohes chirurgisches oder anästhesiologisches Risiko haben (definiert durch bestehende schwere kardiale, pulmonale und/oder renale Erkrankung) ist von unklarer Effektivität (Leitlinien des American College of Cardiology, American Heart Association [5], Klasse-IIb-Empfehlung, Evidenzlevel B).

  • Die Effektivität von unbeschichteten/unbedeckten Stents, Atherektomie, „cutting balloons“, thermischen Geräten und Laser bei Behandlung infrapoplitealer Läsionen (mit Ausnahme der Rettung einer suboptimalen Ballondilatation) ist nicht gut begründet (Klasse-IIb-Empfehlung, Evidenzlevel C) [2].

  • Die primäre Stentplatzierung wird in den femoralen, poplitealen oder tibialen Arterien nicht empfohlen (Klasse-III-Empfehlung, Evidenzlevel C) [2].

  • Die endovaskuläre Intervention ist bei asymptomatischen Patienten mit PAVK der unteren Extremität als prophylaktische Therapie nicht indiziert (Klasse-III-Empfehlung, Evidenzlevel C) [2].

  • Die chirurgische Revaskularisation (bei Nierenarterienstenose) kann für Patienten, die sich einem chirurgischen Eingriff an der Aorta unterziehen, Patienten mit komplexer Anatomie der Nierenarterien oder nach einem erfolglosen endovaskulären Vorgehen in Betracht gezogen werden (Klasse-IIB-Empfehlung, Evidenzlevel C) [6].

Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Sie beweist, dass auf allen Gebieten der Gefäßchirurgie ein erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich der bestmöglichen Behandlung besteht. Ursache hierfür sind zum einen die rasanten technischen Fortschritte, speziell in der endovaskulären Therapie. Aber auch die medikamentöse Behandlung hat sich weiterentwickelt, kenntlich an einem Titel wie: „Medical (nonsurgical) intervention alone is now best for prevention of stroke associated with asymptomatic severe carotid stenosis“ [1].

Klasse-1-Empfehlungen mit Evidenzlevel I sind nicht die Regel

Was können wir tun, um hier zu einer besser begründeten Entscheidungsbasis zu gelangen? Sicherlich wird von „Puristen“ sofort auf die Notwendigkeit von prospektiv randomisierten Studien (RCTs) verwiesen, eine Forderung, mit der fast jede retrospektive Studie, die etwas „auf sich hält“, die Diskussion abschließt. RCTs sind jedoch sehr aufwendig und speziell in der dringlichen Behandlungssituation nur schwer zu realisieren. Auch geben sie nicht unbedingt das Bild der realen Welt wieder, wie die IMPROVE-Studie zum rupturierten Aortenaneurysma (rAAA) belegt [4]. Obwohl diese Studie zu dem Schluss kam, dass die perioperative Letalität bei offener und endovaskulärer Versorgung des rAAA nicht unterschiedlich ist, demonstrieren doch alle Register – und auch das unsrige [6] – den eindeutigen Vorzug des endovaskulären Vorgehens in dieser Situation. Register(studien) können einen wesentlichen Beitrag zur Evaluation der verschiedenen Therapieverfahren in der täglichen Praxis leisten, wie die Auswertung der ersten Ergebnisse unserer CRITISCH-Studie zeigt. Ich möchte deshalb alle Kollegen ermuntern, sich noch mehr als bisher an den Registern der DGG und des DIGG zu beteiligen. Je mehr Kliniken Daten eingeben, desto sicherer werden die Aussagen. Diese Register weiter voranzutreiben, ist für mich auch unter dem Gesichtspunkt der Evidenz ein wesentliches Anliegen. Dabei wird es die Aufgabe in der Zukunft sein, nicht nur Daten zum perioperativen Resultat zu erheben, sondern auch das längerfristige Ergebnis zu erfassen. Denn es besteht die Möglichkeit, dass ein Eingriff zwar kurzfristig wenig belastet, jedoch zu wiederholten Interventionen oder technischem Versagen führt. In solchen Fällen ist der Eingriff nicht unbedingt empfehlenswert. In diesem Sinn sind wir auch alle sehr gespannt, wie das Ergebnis der CRITISCH-Studie sowie das der POPART-Erhebung zum endovaskulären und offenen Vorgehen bei Poplitealarterienaneurysma in einigen Jahren aussehen wird.