Lernziele

Nach Lektüre dieses Beitrags …

  • wissen Sie, welche Erkrankungen zu Lese- oder zu Orientierungsstörungen führen,

  • ist Ihnen bekannt, welche Gesichtsfeldausfälle zu welchen eingeschränkten Fähigkeiten im Alltag führen,

  • können Sie geeignete Maßnahmen bei Lesestörungen ergreifen,

  • sind Sie in der Lage, geeignete Maßnahmen bei Orientierungsstörungen durchzuführen.

Einleitung

Viele Erkrankungen der Augen und der Sehbahn führen immer noch zu bleibenden visuellen Defiziten, obwohl sich die therapeutischen Möglichkeiten in den letzten Jahren weiterentwickelt haben. Wenn medikamentöse und chirurgische Maßnahmen nicht mehr zu einer Verbesserung des Sehens führen können, sind visuelle Rehabilitationsmaßnahmen nötig. Es gibt hierfür altbewährte und neue Maßnahmen, über die Augenärzte informiert sein sollten, um sehbehinderten Patienten weiterhelfen zu können.

Für die richtige Versorgung von Sehbehinderten kann die WHO-Klassifikation der Behinderung [1] als Grundlage dienen. Diese Klassifikation basiert auf dem biopsychosozialen Modell und umfasst 3 wichtige Säulen (Abb. 1; [2, 3]). Am Anfang steht die Schädigung des Organs. Es werden Art und Ausmaß der Funktionsstörung definiert, und hier setzt die gezielte Therapie ein. Diese Organschädigung führt zu eingeschränkten Fähigkeiten, die die Patienten im Alltag beeinträchtigen können. Hier ist also die Ebene der Person betroffen. Dabei sollen 2 Hauptfunktionen beachtet werden: Das zentrale Gesichtsfeld ist wichtig für Naharbeiten, besonders das Lesen, und auch für das Gesichtererkennen. Das periphere Gesichtsfeld dient der Orientierung und Mobilität, Kommunikation sowie dem Anziehen der Aufmerksamkeit. Hier setzt die Rehabilitation ein. Ferner muss der Patient in seinem sozialen Umfeld betrachtet werden, also seine eingeschränkte Teilhabe am sozialen Leben in Schule und Beruf, dem familiären Umfeld, der Freizeitgestaltung, der selbstständigen Lebensführung und der Kommunikation. Für diesen Bereich stellt sich v. a. die Aufgabe, das Umfeld an die Bedürfnisse des Patienten anzupassen bzw. auch Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, mit denen er diese eingeschränkte Teilhabe kompensieren kann.

Abb. 1
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Klassifikation der Behinderung durch die WHO [1], basierend auf dem biopsychosozialen Modell, auf das visuelle System angewandt. (Aus [2, 3]; mit freundlicher Genehmigung des Dt. Ärzteverlags und Springer. Dieser Inhalt ist nicht Teil der Open-Access-Lizenz.)

Durch eine Sehbehinderung ist die Lebensqualität stark beeinträchtigt [4, 5, 6]. Dies kann zu sekundären depressiven Reaktionen führen [7], für deren Prävention die visuelle Rehabilitation besonders wichtig ist [7, 8].

Der Bedarf an visueller Rehabilitation wird in den nächsten Jahren stark ansteigen. Nach einer Hochrechnung von Knauer und Pfeiffer [4] wird der Anstieg etwa 30 % bei den Blinden und Sehbehinderten betragen und etwa 60 % bei den Neuerblindungen. Allerdings muss bedacht werden, dass die Definition von Blindheit in verschiedenen Ländern unterschiedlich erfolgt. In Deutschland besteht gesetzliche Blindheit ab einem Visus von 1/50 (0,02) oder weniger auf dem besseren Auge bzw. einer Gesichtsfeldeinengung auf 5° Radius auch bei normalem Visus. In den meisten anderen Ländern ist die gesetzliche Blindheit bei 0,1 festgelegt, sodass oft missverständlich von „Blindheit“ gesprochen wird, wenn es sich eigentlich um eine hochgradige Sehbehinderung handelt (Tab. 1, [1, 3]).

Tab. 1 Definition von Sehbehinderung und Blindheit nach WHO [1]

Voraussetzungen für Lese- und Orientierungsfähigkeit

Für das normale Lesen ist zunächst ein ausreichendes Auflösungsvermögen der benutzten Netzhautstelle erforderlich. Für das Erkennen von Zeitungsdruck in 25 cm wird eine Sehschärfe von ca. 0,4 benötigt. Da während einer Fixation aber stets eine ganze Gruppe von Buchstaben überblickt werden muss, ist auch eine ausreichende Größe des Lesegesichtsfeldes erforderlich, weshalb der Visus alleine kein Maß für die Lesefähigkeit ist.

Das minimal nötige Lesegesichtsfeld beträgt je 2° nach rechts und links des Fixationsortes und entspricht etwa dem Buchstabenerkennungsbereich und der Größe der Fovea (Abb. 2a, [9]). Allerdings wird während einer Fixation beim Lesen das Perzeptionsareal in Leserichtung durch parafoveale Informationsaufnahme weiter ausgedehnt. Es ist also asymmetrisch mit 1–2° nach links von der Fixation und bis 5° oder 15 Buchstaben in Leserichtung (Einzelheiten s. [9, 10]; Abb. 2b).

Abb. 2
figure 2

Sehschärfenfunktion (gelbe Kurve) und Lesegesichtsfeld (rotes Oval) auf dem Fundus (a) und auf dem Text (b). a Die Sehschärfe nimmt mit zunehmender Exzentrizität rasch ab und läuft etwa parallel zur Kurve der Zapfendichte (grüne Kurve). Das große orange Oval zeigt die Größe der Fovea, das kleine orange Oval die Größe der Foveola. Die Mindestgröße des Lesegesichtsfelds beträgt je 2° nach rechts und links des Fixationspunkts (rotes Oval). Es entspricht etwa der Größe der Fovea und stimmt mit dem Buchstabenerkennungsbereich überein. b Das gesamte Perzeptionsareal während einer Fixation (blaues Oval) ist asymmetrisch in Leserichtung bis 5° oder 15 Buchstaben. (Mod. nach [9], mit freundl. Genehmigung von Wolters Kluwer Health, Inc. Dieser Inhalt ist nicht Teil der Open-Access-Lizenz.)

Für uneingeschränkte Orientierungsfähigkeit und Mobilität sind ein intaktes peripheres Gesichtsfeld, Kontrast- und Bewegungssehen sowie eine unbeeinträchtigte visuelle Aufmerksamkeit (kein Vorliegen von Neglekt) erforderlich. Außerdem tragen das vestibuläre und akustische System zur räumlichen Orientierung bei.

Wichtigste Augen- und Sehbahnerkrankungen, ihre Alltagsrelevanz und Rehabilitation

Bei normalem Sehvermögen können sowohl Details im Zentrum des Gesichtsfeldes als auch die Umgebung bis in die Peripherie wahrgenommen werden (Abb. 3a, [2]).

Abb. 3
figure 3

Häufige Augen- und Sehbahnerkrankungen, die dadurch bedingten Gesichtsfeldausfälle und deren Auswirkung und eingeschränkte Fähigkeiten im Alltag. a Beim Gesunden sind die Orientierungs- und Lesefähigkeit nicht eingeschränkt. b Bei Medientrübung bestehen eine allgemein reduzierte Lichtunterschiedsempfindlichkeit (LUE) in der Perimetrie und ein vermindertes Kontrastsehen, das zu Orientierungs- und Lesestörungen führt. ce Zentrale Gesichtsfeldausfälle führen zu Lesestörungen und beeinträchtigen die Orientierung nicht wesentlich. fg Periphere Ausfälle beeinträchtigen primär die Orientierung. Wenn sie näher als 5° ans Zentrum heranreichen, kommt es zusätzlich zu Lesestörungen. (Mod. nach [2]. Dieser Inhalt ist nicht Teil der Open-Access-Lizenz.)

Erkrankungen, die zu vermindertem Kontrastsehen führen

Trübungen der brechenden Medien, am häufigsten die Katarakt, aber auch Netzhautdegenerationen und zerebrale Sehstörungen führen zu vermindertem Kontrastsehen. Dies führt zu einer allgemeinen Senkung der Lichtunterschiedsempfindlichkeit, die sich sowohl auf die Lesefähigkeit als auch auf die Orientierungsfähigkeit auswirkt (Abb. 3b). Beim Lesen wird der Text insgesamt unscharf gesehen. Hier ist Kontrastverstärkung angezeigt durch kontrastreiche Vorlagen sowie mithilfe von elektronischen Lesehilfen, die einen starken Kontrast anbieten. Oft ist zusätzliche Vergrößerung sinnvoll.

Bei der Orientierung ist für diese Patienten besonders beeinträchtigend, dass sie sich in einer kontrastarmen Umgebung nur schwer zurechtfinden können, insbesondere wenn Stufen oder Wege nicht kontrastreich abgegrenzt sind. Kantenfiltergläser können hier hilfreich sein.

Erkrankungen, die zu zentralen Gesichtsfeldausfällen führen

Makula- und manche Optikuserkrankungen, typischerweise die Optikusneuritis und Leber-Optikusneuropathie, führen zu einem Zentralskotom oder einem Zentrozökalskotom, ähnlich wie z. B. die toxische und dominante Optikusneuropathie. Dieses verursacht eine hochgradige Lesestörung (Abb. 3c).

Wenn bei einem Zentralskotom zentrale Fixation vorläge, wäre das Lesegesichtsfeld vollständig vom Skotom verdeckt und es bestünde keine Lesefähigkeit (Abb. 4b). Diese Patienten können jedoch einen sehr hilfreichen Anpassungsmechanismus erlernen, in dem sie eine gesunde Netzhautstelle am Rande des Skotoms benutzen. Dadurch verschiebt sich das Skotom aus dem Gesichtsfeldzentrum, und dieser Fixationsort wird nun zum Zentrum des neuen Lesegesichtsfelds (Abb. 4c). In diesem ist allerdings das Auflösungsvermögen nicht ausreichend, um Zeitungsdruck zu lesen. Wenn aber die Schrift vergrößert wird, wird Lesen wieder möglich (Abb. 4d). Dies ist die Grundlage für die Anpassung vergrößernder Sehhilfen beim Zentralskotom. Zusammen mit der Verschiebung des Zentralskotoms verschiebt sich auch der blinde Fleck. Er ist das Referenzskotom und zeigt im perimetrischen Befund Richtung und Ausmaß der Verschiebung. Fixation unterhalb des Skotoms (Abb. 4c, d) entspricht Fixation oberhalb der Läsion ([11]; Abb. 4e).

Abb. 4
figure 4

Lesen bei Zentralskotom: a Normalbefund mit Mindestlesegesichtsfeld auf dem Text. b Bei absolutem Zentralskotom und zentraler Fixation ist das Lesegesichtsfeld vom Skotom verdeckt und funktionslos. c Durch Benutzung einer gesunden Gesichtsfeldstelle am Rande des Skotoms wird der neue, exzentrische Fixationsort zum Zentrum des Gesichtsfeldes, und das Skotom wird aus dem Zentrum verschoben. d Da die exzentrische Netzhautstelle nicht das ausreichende Auflösungsvermögen zum Lesen von Zeitungsdruck hat, muss der Text vergrößert dargeboten werden. Exzentrische Fixation plus Textvergrößerung sind die Basis für die Wirksamkeit vergrößernder Sehhilfen beim Zentralskotom. e Lesen eines vergrößerten Wortes am Scanning-Laser-Ophthalmoskop mit einem exzentrischen Fixationsort oberhalb der Läsion (altersbedingte Makuladegeneration [AMD]), dieser entspricht dem unteren Rand des Skotoms. Der Text ist nur für den Untersucher umgekehrt. (Mod. nach [11]; mit freundl. Genehmigung von Taylor & Francis. Dieser Inhalt ist nicht Teil der Open-Access-Lizenz.)

Beim Zentralskotom sind vergrößernde Sehhilfen sehr erfolgreich. In eigenen Untersuchungen konnten wir bei 94 % der Patienten mit Zentralskotom damit die Lesefähigkeit verbessern oder wiederherstellen [12]. Hierfür steht eine breite Palette von vergrößernden Sehhilfen zur Verfügung (Abb. 5). Bei geringen Vergrößerungen (2- bis 3fach) reichen in der Regel Hand- und Standlupen aus. Elektronische Handlupen sind wegen der zusätzlichen Kontrastverstärkung und ihres mobilen Einsatzes vielseitig verwendbar, werden jedoch nicht generell von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen. Die Möglichkeit der Kontrastumkehr (weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund) wird von den meisten Patienten als hilfreich empfunden. Vergrößerung und gute Kontrastwiedergabe ist auch mit den neuen elektronischen Medien wie Smartphone und Tablet-PC möglich. Vor allem junge Patienten profitieren von diesen neuen Medien, die im öffentlichen Raum nicht auffallen und dadurch nicht zu einer Stigmatisierung führen. Bei einer Vergrößerung ab 6‑ bis 8fach werden heute in der Regel Bildschirmlesegeräte verordnet, deren Kosten bei ärztlich bescheinigter Indikation von den Krankenkassen übernommen werden. Ein Bildschirmlesegerät kann gelegentlich, vor allem bei Patienten mit Retinitis pigmentosa, auch ohne oder bei nur geringem Vergrößerungsbedarf indiziert sein, wenn ausschließlich Kontrastverstärkung gebraucht wird. Eine ausführliche Beschreibung neuer elektronischer Hilfsmittel findet sich bei [13].

Abb. 5
figure 5

Optische und elektronische Sehhilfen, ihre Indikation je nach Vergrößerungsbedarf und Tätigkeit

Für Textvergrößerung in der Ferne sind kleine Teleskope mit 4‑ bis 8facher Vergrößerung sinnvoll, um bei herabgesetztem Visus in der Ferne Straßenschilder und Busnummern zu erkennen.

Zusätzlich zu den Hilfsmitteln spielen in zunehmendem Maße Trainingsverfahren eine Rolle, welche die Lesefähigkeit bei Patienten mit Zentralskotom verbessern können. Bei juveniler Makulopathie (Stargardt; [14]) sowie altersbedingter Makuladegeneration [15] konnten wir zeigen, dass sich die Lesegeschwindigkeit nach Anpassung der optimalen vergrößernden Sehhilfen durch ein computergestütztes Lesetraining mit Einzelwortpräsentation weiter verbessern lässt und die am PC geübte Optimierung des Lesevorgangs auch beim Lesen von Schwarzdruck auf Papier angewendet wurde. Auch ein rein okulomotorisches Training wurde als wirksam beschrieben [16].

Erkrankungen, die zu Ringskotomen führen

Oft haben Makula- und Optikuserkrankungen in einem frühen Stadium noch kein vollständig absolutes Zentralskotom, sondern es bestehen darin Lücken, die ein Ringskotom verursachen (Abb. 3d). Bei Nervenfaserbündeldefekten wie bei der anterioren ischämischen Optikusneuropathie (AION) oder beim Glaukom, kommt es zu bogenförmigen Gesichtsausfällen (Abb. 3e), die, wenn sie sich oben und unten befinden, funktionell auch zu einem Ringskotom führen. Auch degenerative Netzhauterkrankungen können parazentral beginnen und dann mit einem Ringskotom einhergehen. Ferner können durch retinale Narben, z. B. nach Chorioretinitis oder Laserbehandlung, kleine Lücken im Skotom entstehen.

Bezüglich der Lesefähigkeit ergibt sich hier das Problem, dass die noch sehende Mitte innerhalb des Ringskotoms zu klein werden kann, um noch genügend Buchstaben während einer Fixation erfassen zu können (Abb. 3d, e). Diese Situation führt zu einer Diskrepanz zwischen ausreichendem Visus und fehlender Lesefähigkeit.

Es ist dann erforderlich, dass die Patienten die exzentrische Fixation erlernen und dann am neuen Fixationsort mit Vergrößerung wieder lesen können. Allerdings gelingt es nicht immer, bei noch bestehender zentraler Fixation auf einen exzentrischen Fixationsort zu wechseln, sodass hier gelegentlich längere Übergangszeiten entstehen, in denen die Lesefähigkeit stark beeinträchtigt ist, und erst nach Verschwinden der zentralen Lücke die exzentrische Fixation aufgenommen werden kann (Abb. 6a). Die Wirksamkeit eines „eccentric viewing trainings“ ist umstritten (s. Review [17]).

Abb. 6
figure 6

Lesestörungen durch Limitierung der Größe des Lesegesichtsfelds. a Beim Ringskotom wird die zentrale sehende Lücke zu klein, um genügend Buchstaben während einer Fixation zu überblicken. Bei bestehender zentraler Fixation (links) besteht keine Lesefähigkeit. Rechts: Wenn es gelingt, dass der Patient trotz intakter fovealer Funktion exzentrisch fixieren kann, kann das unzureichende Auflösungsvermögen wie beim Zentralskotom mit vergrößertem Text kompensiert werden. b Auch bei der konzentrischen Einengung kann die zentrale sehende Lücke zu klein werden. Ein Ausweichen in die Peripherie ist hier nicht möglich. Textverkleinerung kann bei gutem Visus die Lesefähigkeit verbessern, ansonsten kommen nichtvisuelle Hilfen infrage. cd Homonyme Ausfälle. c Links: Ohne makulare Aussparung ist das Lesegesichtsfeld zur Hälfte verdeckt, und es besteht eine hochgradige Lesestörung. Rechts: Bei einer makularen Aussparung ist das Lesegesichtsfeld nicht beeinträchtigt. d Links: Bei einem kleinen parazentralen homonymen Skotom wird das Lesegesichtsfeld zur Hälfte verdeckt, und es besteht eine hochgradige Lesestörung. Rechts: Bei exzentrischer Fixation wird die Gesichtsfeldgrenze zur hemianopen Seite verschoben und dadurch ein schmaler Perzeptionsstreifen entlang der vertikalen Mittellinie geschaffen. (Mod. nach [10]; mit freundl. Genehmigung des Dr. Reinhard Kaden Verlag, Heidelberg. Dieser Inhalt ist nicht Teil der Open-Access-Lizenz.)

Erkrankungen, die zu peripheren Gesichtsfeldausfällen führen

Vor allem degenerative Netzhauterkrankungen wie Retinitis pigmentosa und Stäbchen-Zapfen-Dystrophie sowie fortgeschrittene Glaukome führen zu peripheren Gesichtsfeldausfällen. Bei einer peripheren ischämischen diabetischen Retinopathie kann es ebenfalls zu einer peripheren Gesichtsfeldeinengung kommen. Eine solche konzentrische Gesichtsfeldeinengung (Abb. 3f und 6b) führt v. a. zu Orientierungs- und Mobilitätsstörungen, bei denen ein Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M) angezeigt ist. Dies erfolgt mit dem Langstock und wird durch einen O&M-Trainer vermittelt. Bei hochgradig Sehbehinderten und Blinden kann außerdem ein Training der lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF) erfolgen.

Zusätzlich kann seit Kurzem bei RP(Retinitis pigmentosa)-Patienten ein evidenzbasiertes exploratives Sakkadentraining durchgeführt werden (Abb. 7), bei dem die Patienten lernen, ihr kleines Gesichtsfeldzentrum im gesamten Blickfeld einzusetzen, um sich dadurch im blinden Bereich Information durch Abscannen zu beschaffen [18]. Es beruht auf demselben Prinzip wie beim Training für Patienten mit Hemianopsie (s. unten). Das Orientierungs- und Mobilitätstraining kommt in den späteren Phasen der Erkrankung bei schon höhergradig eingeengtem Gesichtsfeld infrage, während das explorative Sakkadentraining noch eine zentrale Insel mit einem Visus von mindestens 0,1 und einem Gesichtsfeld von mindestens 5–10° Radius voraussetzt. Es können also in den verschiedenen Stadien der Erkrankung gezielte Rehabilitationsmaßnahmen ergriffen werden.

Abb. 7
figure 7

Exploratives Sakkadentraining am Bildschirm, bei dem mehrere Suchobjekte zwischen Distraktoren gefunden werden müssen und dadurch scannende Augenbewegungen zur Verbesserung der Orientierung bei Hemianopsie und Retinitis pigmentosa trainiert werden. Bei dem hier gezeigten Beispiel können die Suchobjekte vergrößert und in inversem Kontrast dargeboten werden

Wenn die zentrale Insel zu klein wird, können zusätzlich Lesestörungen auftreten. Hier hat man nun nicht die Möglichkeit, in das periphere Gesichtsfeld auszuweichen, sodass das Hauptproblem beim Lesen die Einschränkung der Größe des Lesegesichtsfeldes darstellt (Abb. 6b; [10]). Eine Vergrößerung des Textes ist kontraindiziert. Hier kommen nur Kontrastverstärkung, bei noch gutem Visus zusätzliche Schriftverkleinerung, ansonsten taktile oder akustische Hilfen infrage. Das Erlernen von Blindenschrift ist jedoch meist nur für junge Patienten sinnvoll, während Vorlesegeräte für alle Altersklassen leicht zu bedienen sind.

Erkrankungen, die zu Halbseitengesichtsfeldausfällen führen

Läsionen im Bereich des Chiasmas führen v. a. zu bitemporalen, seltener zu binasalen Hemianopsien. Hier besteht das Problem in einer Verschiebung der vertikalen Gesichtsfeldgrenzen, die entweder zu einer Lücke im Gesichtsfeld oder zu einer Überlappung führen können. Dadurch entstehen Lesestörungen, die mit großer Unsicherheit des Gelesenen einhergehen.

Suprachiasmale Läsionen führen zu homonymen Gesichtsfeldausfällen, meist Hemianopsien (Abb. 3g) und Quadrantanopsien. Dadurch kommt es v. a. zu einer hochgradigen Störung der räumlichen Orientierungsfähigkeit und Mobilität. Die Patienten haben das Problem, dass sie Gegenstände oder Personen anrempeln, sich schlecht in einer komplexen Umgebung zurechtfinden und Schwierigkeiten haben, den Weg zu finden. Durch das Übersehen von Gegenständen kommt es oft zu Unfällen und zu einer großen Unsicherheit. Kompensatorische Trainingsmethoden, die die Exploration im gesamten Blickfeld fördern, sind hier angezeigt (wie in Abb. 7).

Abb. 8
figure 8

Störung der räumlichen Orientierung bei Hemianopsie. a Bei Geradeausblick sieht der Patient die offene Tür nicht. b Mit scannenden Augenbewegungen kann er sich die Information von der hemianopen Seite verschaffen und einen Überblick über das gesamte Blickfeld erlangen (c)

Die räumliche Orientierung kann man mit explorativem Sakkadentraining verbessern, indem die Patienten lernen, das blinde Halbfeld abzuscannen [19]. Das von uns in der ersten randomisierten kontrollierten Studie entwickelte Training wurde so einfach konzipiert, dass es selbstständig zu Hause durchgeführt werden kann [19, 20] (im Prinzip wie Trainingsbeispiel in Abb. 7). Die Abb. 8 zeigt, wie bei Geradeausblick die Information von der hemianopen Seite fehlt und wie sie durch Augenbewegungen im gesamten Blickfeld wahrgenommen werden kann. Ein von uns speziell für Kinder mit Hemianopsie entwickeltes Softwareprogramm steht seit Kurzem ebenfalls zur Verfügung [21].

Andere Varianten von Sakkadentraining bieten andere sakkadische Aufgaben an und sind meist in einer Institution durchzuführen (z. B. [22]; Übersichtskapitel und Zitate älterer Studien s. in [9, 23]).

Kompensatorische Trainingsprogramme sind derzeit die einzigen evidenzbasierten Interventionen zur Verbesserung der Orientierungsfähigkeit bei homonymen Ausfällen (Übersichtsartikel s. [3, 23, 24]). Eine Restitution der Gesichtsfelder durch Lichtstimulation lässt sich nicht erreichen (s. Übersichtsartikel [23, 25]).

Bei homonymer Hemianopsie hängt die Lesefähigkeit stark von der Konfiguration des Gesichtsfeldausfalls ab (Abb. 6c, d). Lesestörungen bestehen, wenn der Gesichtsfeldausfall näher als 5° an das Zentrum heranreicht, also keine makulare Aussparung vorliegt (Abb. 6c links). Bei einer makularen Aussparung von 5° ist das Lesegesichtsfeld nicht eingeschränkt und das Lesen nicht beeinträchtigt (Abb. 6c rechts). Umgekehrt führt ein parazentrales homonymes Skotom zu einer hochgradigen Lesestörung (Abb. 6d links).

Manche dieser Patienten können trotz normaler Sehschärfe leicht exzentrisch fixieren und verschieben dadurch den Gesichtsfeldausfall zur blinden Seite und schaffen sich hiermit ein schmales Perzeptionsareal entlang der vertikalen Mittellinie [23]. Dies ist für die Lesefähigkeit von besonderer Bedeutung (Abb. 6d rechts).

Bei der homonymen Hemianopsie ist also das Problem für die eingeschränkte Lesefähigkeit die Limitierung der Größe des Lesegesichtsfeldes.

Patienten mit einer Hemianopsie nach links haben v. a. Schwierigkeiten, den Zeilenanfang der neuen Zeile zu finden, während Patienten mit einer Hemianopsie nach rechts nur mit vielen kleinen Sakkaden in Leserichtung durch die Zeile kommen. Patienten mit einer Hemianopsie in Leserichtung sind also sehr viel mehr beeinträchtigt. Da hier die Größe des Lesegesichtsfeldes nicht ausreicht, ist eine Vergrößerung der Schrift kontraindiziert, weil dann noch weniger Buchstaben in das Lesegesichtsfeld hineinpassen.

Bei linksseitigen Hemianopsien helfen oft Maßnahmen, die die Orientierung auf der Zeile verbessern, wie z. B. ein Lesestab mit Führungslinie (mit nur geringer Vergrößerung in der Vertikalen) oder ein Lineal oder auch der Zeigefinger am Zeilenanfang. Bei rechtsseitigen Hemianopsien haben sich computergestützte Trainingsprogramme bewährt: Es gibt bisher 2 Ansätze für Lesetraining, die evidenzbasiert sind: Bei rechtsseitigen Hemianopsien hat sich das Darbieten von einer bewegten Textzeile bewährt [3, 26], auch eine Suchaufgabe in einer Textzeile konnte die Lesefähigkeit verbessern [27].

Wie bei allen sich binokular überlappenden Gesichtsfeldausfällen wird nach den Richtlinien der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) auch bei der Hemianopsie keine Fahrerlaubnis erteilt [28]. Bei hirngeschädigten Patienten sind oft noch weitere Beeinträchtigungen über die Hemianopsie hinaus vorhanden, wie v. a. kognitive Einschränkungen oder Störungen höherer visueller Zentren (Agnosien), weshalb es oft sinnvoll ist, zur Rehabilitation auch einen Neuropsychologen heranzuziehen.

Die Tab. 2 zeigt eine allgemeine Übersicht über die wichtigsten derzeit eingesetzten Rehabilitationsmaßnahmen bei Sehbehinderung und Blindheit.

Tab. 2 Übersicht über die wichtigsten Rehabilitationsmaßnahmen bei Sehbehinderung und Blindheit

Lesestörungen aufgrund von Störungen der Textverarbeitung und der visuellen Aufmerksamkeit

Lesestörungen können auch auf einer Verarbeitungsstörung des Textes beruhen. Bei linksseitigen okzipitotemporalen Läsionen kommt es zu einer Alexie mit hochgradig gestörter oder völlig fehlender Lesefähigkeit. Eine Alexie kann mit einer Hemianopsie kombiniert sein, wobei es manchmal schwierig sein kann, den Anteil der jeweiligen Ursache zu bestimmen. Patienten mit einer Alexie können von einem Vorlesegerät profitieren, mit dem sie die Information über das akustische System verarbeiten können.

Bei einem Hemineglekt, verursacht durch Läsionen im rechten Parietallappen, wird der linken Gesichtsfeldhälfte (und meist auch der linken Körperhälfte) keine Aufmerksamkeit geschenkt. Dies kommt oft in Kombination mit einer Hemianopsie vor. Es ist wichtig für die Rehabilitation, einen zusätzlichen Hemineglekt auszuschließen, z. B. durch den Linienhalbierungstest oder Zeichnen der Uhr. Beim Linienhalbierungstest verschiebt sich die Mittellinie des Hemianopen zur blinden Seite, während sie sich bei einem Patienten mit Neglekt zur sehenden Seite verschiebt.

Eine Textverarbeitungsstörung liegt auch der angeborenen Lese-Rechtschreib-Störung, der Legasthenie, zugrunde. Therapeutisch werden hier Förderprogramme zum Training des Lesens und der phonologischen Bewusstheit eingesetzt. Eine okuläre Ursache der Lesestörung muss vorher ausgeschlossen und ophthalmologische Begleiterkrankungen müssen abgeklärt und behandelt werden. Der aktuelle Stand der empfohlenen Legasthenietherapien findet sich in den AWMF(Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.)-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (DGKJP; [29]).

Diagnostik

Die Tab. 3 gibt ein Übersicht über diagnostische Maßnahmen.

Tab. 3 Diagnostik bei Sehbehinderung

Nach der Bestimmung des Fern- und Nahvisus mit bester Korrektur ist die quantitative Untersuchung der Lesefähigkeit erforderlich. Hierzu benutzt man am besten standardisierte Lesetexte, mit denen die Lesegeschwindigkeit bestimmt werden kann. Es kommen verschiedene Lesetafeln infrage, z. B. die kurzen Sätze der Radner-Tafeln [30], die für eine einmalige Untersuchung gut geeignet sind. Für wiederholte Messungen, um z. B. einen Therapie- oder Rehabilitationserfolg quantitativ zu erfassen, sind kurze Textabschnitte mit mehreren Sätzen besser geeignet, z. B. die IReST(International Reading Speed Texts)-Tafeln [31].

Eine weitere wichtige Untersuchungsmethode ist die Messung des Vergrößerungsbedarfs. Damit kann man feststellen, ob Vergrößerung überhaupt etwas nutzt und, wenn ja, wie viel Vergrößerung erforderlich ist. Hierfür stehen verschiedene Lesetafeln zur Verfügung, z. B. die Zeiss-Tafeln für Sehbehinderte. Sie beruhen auf dem Prinzip, dass Texte in verschiedenfachen Vergrößerungen im Vergleich zu Zeitungsdruck angeboten werden. Es wird in 25 cm mit der besten Nahkorrektur geprüft, welche Schriftgröße noch flüssig gelesen werden kann. Diese entspricht dem Vergrößerungsbedarf. Es ist von größter Wichtigkeit, dass diese Untersuchung am Anfang der weiteren Maßnahmen zur Verbesserung der Lesefähigkeit steht, weil dann direkt von der Höhe des Vergrößerungsbedarfs aus entsprechende Hilfsmittel erprobt werden können. In Abb. 5 sind die verschiedenen vergrößernden Sehhilfen aufgeführt, die je nach Vergrößerungsbedarf indiziert sind.

Bei allen Sehbehinderten spielt die genaue Untersuchung des Gesichtsfeldes eine große Rolle, um später gezielte Rehabilitationsmaßnahmen ergreifen zu können. Bei Zentralskotomen ist es wichtig, entweder eine gute manuelle Perimetrie durchzuführen, soweit sie noch zur Verfügung steht, oder bei einer automatischen Perimetrie ein dichtes Prüfpunktraster zu wählen, damit auch kleine Skotome erkannt werden können. Bei einer homonymen Hemianopsie kann eine manuelle kinetische Gesichtsfelduntersuchung hilfreich sein, um die vertikale Grenze rasch bestimmen zu können, da bei einer automatisierten Untersuchung 50 % der Prüfpunkte nicht erkannt werden können und dies zu einer starken Ermüdung mancher Patienten führen kann.

Prüfung des Kontrast‑, Farben- und Binokularsehens sowie bei Hirnläsionen die Untersuchung höherer visueller Funktionen sind je nach vorliegender Erkrankung erforderlich (s. Tab. 3).

Praktische Umsetzung und soziale Aspekte

In der augenärztlichen Praxis können vergrößernde Sehhilfen, die geringe und mittlere Vergrößerungen umfassen, durch erfahrene Mitarbeiter angepasst werden. Vor allem sind hier Low-Vision-spezialisierte Orthoptistinnen geeignet, die sich in Kursen beim Berufsverband der Orthoptistinnen Deutschlands spezielle Kenntnisse erwerben können (Berufsverband Orthoptik e. V., https://www.orthoptik.de). Für höhere Vergrößerungen und Spezialgeräte ist es sinnvoll, die Patienten in eine spezielle Einrichtung zu schicken, wobei man hervorheben muss, dass es in Deutschland leider nicht genügend spezialisierte Einrichtungen für Sehbehinderte gibt. Es stehen jedoch an vielen Augenkliniken Sehbehindertenambulanzen zur Verfügung. Es gibt auch spezialisierte Optiker, Optometristen und Orthoptistinnen. Wichtige weitere Ansprechpartner sind Berufsbildungs- und Förderungswerke, die man bei Umschulungen ansprechen sollte, sowie Selbsthilfegruppen, bei denen die Patienten wertvolle Informationen für den Alltag erhalten. Zahlreiche Verbände haben sich etabliert, die Pro Retina für Netzhauterkrankungen sowie mehrere Blinden- und Sehbehindertenverbände, die auch regional Anlaufstellen anbieten. Für Patienten mit Hemianopsie kann es sinnvoll sein, einen Neuropsychologen mit hinzuzuziehen (Gesellschaft für Neuropsychologie [GNP] e.V., https://www.gnp.de).

Die Einführung in das in Tübingen entwickelte Sakkadentraining für RP- und Hemianopsiepatienten (Abb. 7) kann, sofern erforderlich, auch in der augenärztlichen Praxis erfolgen. Schulungen für medizinisches Fachpersonal werden zunehmend angeboten.

Von sozialophthalmologischer Seite sind die Beurteilung der Schwerbehinderteneigenschaft und der gesetzlichen Blindheit (nach den Richtlinien der DOG) und die Erstellung entsprechender Atteste für das Landratsamt zur Erlangung eines Schwerbehindertenausweises oder Landesblindenhilfe wichtig.

Fazit für die Praxis

  • Visuelle Rehabilitation dient der Kompensation der Einschränkungen durch Optimierung des Restsehvermögens mit dem Ziel, die Selbstständigkeit und Lebensqualität der Patienten zu verbessern.

  • Bei den meisten Patienten kann durch Sehhilfen und Training die Lese- und Orientierungsfähigkeit gebessert werden. Oft reichen wenig aufwendige Maßnahmen, die auch in der Praxis durchgeführt werden können, um diese Funktionen wiederherzustellen.