Kurz nach der Geburt meines Babys sagt jemand: „Oh, da ist keine anale Öffnung bei ihrem Kind, aber nach einem kleinen Schnitt ist alles wieder gut“. Darauf folgt am nächsten Tag die Verkündung der Diagnose: Analatresie. Hm, noch nie gehört. Dann ein künstlicher Ausgang, hm, bei einem Baby? Drei Monate, mehrere Harnwegsinfekte und Untersuchungen später – die neue Diagnose: kloakale Fehlbildung. Ist noch seltener, wird mir gesagt – also gibt es sicher spezialisierte Zentren? Nein, ist die Antwort, aber das wird schon, wahrscheinlich. Erinnerungen von vor 20 Jahren, doch leider immer noch aktuell.

Wie es bei uns begann

Als meine Tochter damals auf die Welt kam und wir diese Diagnose erhielten, war ich zunächst gelähmt. Nun, das unterscheidet mich nicht von anderen Eltern oder Patienten, die von einer Fehlbildung, einer schwerwiegenden Erkrankung oder einem Unfall erfahren. Was vielleicht anders ist, ist die Tatsache, dass es sich um eine seltene Fehlbildung handelt. Die Informationen dazu, das Auffinden von Gleich-Betroffenen und schon die Diagnosestellung stellten ein Problem dar, und die Scham spielt eine Rolle. Denn die Folgen spielen sich in einem Tabubereich ab.

Um es vorweg zu nehmen: Nein, ich gehöre nicht zu diesen Eltern, bei deren Kind alles Weitere nur noch schiefging. Wir hatten Glück! Das heißt, ich muss sagen, besonders meine Tochter hatte großes Glück, sie ist nun über 20 Jahre alt, hat einen sehr schönen Beruf und lebt in einer Partnerschaft. Aber ja, sie lebt auch mit gewissen Einschränkungen – dennoch kann sie am „normalen“ gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Mehr werde ich aus Gründen der zu schützenden Intimsphäre hier nicht schreiben.

Der Faktor Glück

Nach der verspäteten Diagnosestellung und vier Klinikwechsel später gelangten wir an einen Operateur, der über Erfahrung mit dieser Fehlbildung verfügte – und wir kamen ohne Internet dort hin. Die Informationen, dass wir dringend nach so jemandem suchen müssen, erhielten wir damals über die bereits existierende kleine Selbsthilfegruppe SoMA, die seinerzeit etwas über 100 Mitglieder in ganz Deutschland umfasste. Hier erfuhren wir von anderen Betroffenen, von schwerwiegenden Komplikationen, aber auch guten Verläufen und kompetenten Kontakten. Inzwischen bin ich seit 20 Jahren selbst im Vorstand von SoMA, als deren Vertreter ich diesen Beitrag schreiben und auf die Wichtigkeit der Zentralisierung der Behandlung am Beispiel unserer Krankheitsbilder Stellung nehmen darf.

Was macht SoMA e. V.?

Die Selbsthilfeorganisation für Menschen mit anorektalen Fehlbildungen, SoMA e. V. (Abb. 1 und 2, www.soma-ev.de), existiert seit mehr als 30 Jahren. Ursprünglich als Selbsthilfegruppe von sechs Eltern von Kindern mit einer anorektalen Fehlbildung (ARM) und einem Pädiater gegründet, sind nun sowohl Eltern als auch die Patienten selbst Mitglied. Inzwischen haben wir die ebenfalls seltenen Fehlbildungen Morbus Hirschsprung (MH) und Kloakenekstrophie (KE) unter unser Dach genommen und zählen bundesweit und im deutschsprachigen Ausland über 1100 Mitglieder (davon 100 fördernde Mitglieder). Weiter findet sich auch die SoMAustria mit knapp 30 Mitgliedsfamilien in unserem Verein. Zu unseren Kooperationspartnern zählen Institutionen wie die Deutsche Kontinenzgesellschaft oder die Gesellschaft für pädiatrische Gastroenterologie. Ein interdisziplinärer wissenschaftlicher Beirat, bestehend aus 25 Fachleuten aus Kinderchirurgie, Urologie, Pflege, Physiotherapie, Sozialarbeit, Psychologie und Pädiatrie sowie Proktologie und Gynäkologie, unterstützt uns fachlich. Gefördert werden wir unter anderem von den Gesetzlichen Krankenkassen, müssen uns aber darüber hinaus über Beiträge und vor allem Spenden finanzieren.

Abb. 1
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30 Jahre SoMA e. V. (Foto: Oliver Sold; oliversold-fotografie.de)

Abb. 2
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Nie mehr allein (Foto: Privat – SoMA e. V.)

Wie selten sind die Fehlbildungen?

Die Anzahl der genannten Fehlbildungen reicht von 1:2500 (ARM, [2, 5, 12]) über 1:5000 (MH, [1, 13]) bis zu 1:250.000 (KE, [3, 4, 16]) – Betroffene:gesunde Neugeborene. Allerdings findet man auch hier nicht immer einheitliche Zahlen. Und da sind wir schon beim ersten Problem, das bis heute nicht gelöst ist: Es gibt in Deutschland immer noch kein einheitliches Register zur Erfassung der Fehlbildungen. Die Sozialdaten der Krankenkassen bieten seit kurzem ein Abbild, das jedoch durch die nicht einheitlichen Klassifikationen und Unterschiede bei der Kodierung Schwierigkeiten birgt. Registerinitiativen, die darüber hinausgehen, können die Fälle nur dann vollständig erfassen, wenn alle mitmachen und alle auch alle Fälle eingeben.

Folgen der Fehlbildung für Eltern und Patienten

Vereinfacht gesprochen ist bei der ARM kein Darmausgang vorhanden bzw. mündet dieser an der falschen Stelle. In lebenserhaltenden Operationen (mit oder ohne Zwischenlösung des künstlichen Ausgangs) wird der Darmausgang dann an die Sollstelle gebracht, doch kann damit nicht die normale Anatomie im klassischen Sinn hergestellt werden.

Bei MH fehlen in unterschiedlich langen Dickdarmabschnitten Nervenzellen. Der Stuhl kann dort nicht transportiert werden, der entsprechende Darmabschnitt muss identifiziert und entfernt werden. Heute erfolgt dies in der Regel ohne künstlichen Ausgang. Dennoch verbleiben auch hier nach der OP Stuhlentleerungsprobleme.

Bei der komplexesten Form, der KE, ist die Bauchdecke nicht verschlossen und ein Teil der Organe liegt außerhalb und diese sind in der Regel gespalten. Mehrere Operationen sind notwendig, es ist die schwerste Form der Fehlbildung.

Doch es stellen sich bei all den genannten Fehlbildungen gleiche Fragen: „Diese Diagnose – das hab ich ja noch nie gehört“, „Was ist die Ursache?“, „Wer ist der Spezialist, in welche Klinik muss ich jetzt?“ und „Was wird später sein?“. Mit oder kurz nach dem ersten Schock sind es diese Fragen, die den Eltern durch den Kopf schießen und je nach Verarbeitungsgrad und individueller Situation finden sich immer noch keine zufriedenstellenden Antworten darauf.

Je mehr Mitglieder SoMA zählt, je mehr Fachkongresse wir besuchen und mit Fachleuten zusammenarbeiten dürfen, desto mehr zeigt sich, dass die Fehlbildung an sich nicht nur selten ist, sondern dass jede der genannten Diagnosen auch noch Unterformen hat – von relativ einfachen Fehlbildungen wie der perinealen Fistel bis hin zur hochkomplexen Form der Kloakenekstrophie, wobei auch innerhalb dieser Gruppen kein Patient dem andern gleicht.

Selten + ein Spektrum + Begleitfehlbildung = ?

Hinzu kommen insbesondere bei ARM- und KE-Patienten die Begleitfehlbildungen. So gibt es keine KE ohne Begleitfehlbildung, bei ARM-Patienten liegen diese bei zwei Drittel der Fälle vor [2]. Das hat Auswirkung auf die Anzahl der notwendigen Operationen und auf Langzeitergebnisse. Die Operationen (ein bis drei mindestens) finden in der Regel im ersten Lebensjahr statt, die Zahl schwankt, bei schweren Formen sind es im Verlauf um die 30.

Doch nach der Operation ist nicht immer alles gut und genau wie „normal“. Wie wir in einigen eigenen Veröffentlichungen zeigen (siehe Literaturliste) und es inzwischen auch in den AWMF-Leitlinien Eingang gefunden hat [2], ist die Nachsorge von entscheidender Bedeutung – nicht nur für die Lebensqualität, sondern auch um Komorbiditäten zu vermeiden. So haben ARM-Patienten auch nach den Operationen Stuhlentleerungsstörungen und urologische Probleme, und die Sexualfunktion rückt erst langsam in das Interesse der Forscher, der Übergang in die erwachsenenmedizinische Betreuung ist noch gar nicht gelöst.

Ist es wirklich möglich, die Patienten angemessen zu behandeln, wenn man nicht die Erfahrung in Diagnostik, Operation und Nachsorge hat und weiß, welche Konsequenzen für das spätere Leben bestehen? „Man kann nur sehen, was man auch erwartet zu sehen“ – diesen Satz sagte Prof. Alberto Pena, der „Erfinder“ der immer noch praktizierten Operationsmethode posteriore sagittale anorektale Plastik (PSARP) bei ARM über die vielen Fehldiagnosen, insbesondere bei der sogenannten kloakalen Fehlbildung. Es ist für einen erfahrenen Kinderchirurgen eine Blickdiagnose, bei meiner Tochter gab es dazu vier Fehlversuche – die Konsequenzen können bis hin zur späteren Nierentransplantation reichen.

Situation in Deutschland

Bis heute kann ich Eltern und Patienten, die bei SoMA anrufen, keine Liste der Spezialkliniken geben, denn es gibt sie immer noch nicht, die ausgewiesenen und zertifizierten Zentren für ARM, KE und MH – die Europäischen Referenznetzwerke (ERN) stellen hier immer noch einen zaghaften Anfang dar. Doch dazu später.

Im Moment operieren in Deutschland mehr als 100 kinderchirurgische und erwachsenenchirurgische Abteilungen bzw. Kliniken [12, 14], z. B. etwa 250 Kinder mit ARM pro Jahr. Dabei können es pro Klinik auch noch mehr als ein Operateur sein, die behandeln. Das Problem ist bekannt und benannt, hat vielfältige Ursachen und wird immerhin diskutiert, wie z. B. im Thesenpapier der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) 2017, das auch an die Patientenorganisationen verschickt wurde: Kinderchirurgische Erkrankungen, „[…] die einer Zentralisierung bzw. Spezialisierung bedürfen, sind […] die komplexe kloakale Malformation, komplexe urogenitale Fehlbildungen (z. B. Blasenekstrophie, Blasenersatzplastik) […] und große Omphalozelen“. Immerhin die komplexen Formen werden benannt. Dies genügt aber unserer Meinung nach noch nicht. Denn schon die Diagnosestellung ist, wie oben beschrieben, ein Problem. Und Folgeprobleme gibt es auch bei nichtkomplexen Formen, was wir in diesem Beitrag und auf zwei Kongressen als Fallvorstellungen darlegen bzw. darlegten.

„Machen Sie Studien“

Wenn man, gerade als Selbsthilfe, Fachleute mit Fallvorstellungen konfrontiert, ist es Programm, dass der Vorwurf lauten wird, dass dies eben nicht vermeidbare Einzelfälle seien, oder, dass es eben typisch Selbsthilfe sei, dass sich hier die Komplikationen und die Eltern und Patienten derer zusammenfinden, denen es schlecht geht.

Bereits vor 15 Jahren versuchten wir auf einem Kongress, dies zu widerlegen. Wir trugen auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie in Bremen [15] die „Folgen der Diagnose ‚Kloakale Fehlbildung‘ aus Elternsicht“ vor und stellten einem guten einen schlechten Verlauf gegenüber und präsentierten zusätzlich Nachsorgedaten von rund 200 Eltern. Die Rückmeldungen waren verschieden; so wurde uns vom späteren Präsidenten der DGKCH ans Herz gelegt „Machen sie Studien“, denn ohne Register und ohne Forschung sei nicht zu belegen, was wir anprangern. So verschrieben wir uns mithilfe eines Vorstandsmitglieds, der auch Epidemiologe und Medizininformatiker ist, dieser Aufgabe und es entwickelten sich weitere nationale und internationale Publikationen, Aktivitäten und Netzwerke [8]. Wir nahmen an Gremiensitzungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) teil und waren maßgeblich an der Gründung der Forschungsnetzwerke CURE-Net [18] und ARM-Net [17] beteiligt, kooperieren mit internationalen und nationalen anderen Selbsthilfeorganisationen und engagieren uns aktuell auch in den ERN.

Aktuelle Lage unverändert oder noch schlimmer? Fallvorstellungen heute

Leider hat sich bezogen auf das Zahlenverhältnis Patienten zu Behandler die Situation eher verschlechtert! In die bestehenden Register geben immer noch nicht alle ein und der einzelne auch nicht immer alle seine Fälle. Eine Vielzahl von Kliniken informiert weder über die Selbsthilfe noch verweist sie, wenigstens zur Zweitmeinung, an andere Kliniken.

Wir sind darüber nicht nur sehr enttäuscht, sondern sehen eine große Gefahr für die Patienten. Deshalb gehen wir wieder einen Schritt zum Anfang. Es ist nicht nur ein Fall – es sind die Geschichten von vielen Patienten und ihren Familien. Deshalb entschieden wir uns nochmals für eine Darstellung von Fällen und den Konsequenzen für das Leben. Denn gerade in unserem Bereich sind oft die Folgen nicht nach außen sichtbar, aber doch sehr beschränkend für das tägliche Leben.

Wir präsentierten die Fälle in einem Vortrag auf dem Chirurgenkongress in Berlin im April 2018 und fassten diese auf dem Joint Meeting für Seltene Erkrankungen SE in Salzburg 2019 noch einmal zusammen. Die Fälle sind aus Datenschutzgründen anonym dargestellt, jedoch haben wir das Einverständnis der Familien bzw. Patienten erhalten.

Wichtig ist mir der Hinweis, dass die Sichtung der Befunde und der Informationen der Eltern und Patienten nicht allein durch die Selbsthilfe stattfand, sondern die Zusammenfassung unter fachlicher Beratung einiger Mitglieder unseres wissenschaftlichen Beirats erfolgte. Der Schwerpunkt liegt mehr auf den anorektalen Fehlbildungen, da wir hier auf die Erfahrungen von mehr als 800 Eltern und Betroffenen blicken können.

Fall 1 – Mädchen, geboren 1999, anorektale Fehlbildung

Die Diagnose „hohe Form der Analatresie“ war tatsächliche eine „ARM mit perinealer Fistel“. Diese Fehldiagnose mündete in eine falsche Schlussfolgerung für die Operation. Statt eines Eingriffs von perineal wurde von der Bauchhöhle aus korrigiert, was erhebliche negative Konsequenzen hatte: einige Reoperationen, Stuhlinkontinenz und ausgedehnte Verwachsungen, die sich dann im Jugendalter zeigten. Weiter wurde später schließlich eine Endometriose diagnostiziert sowie Flüssigkeitsretention in den Eileitern – schließlich mussten beide Eileiter entfernt werden.

Fall 2 – Junge, geboren 2016, anorektale Fehlbildung

Die Diagnose lautete „ARM mit rektovesikaler Fistel“. Laut der Webseite der Klinik waren die Kinderchirurgen dort Spezialisten genau für ARM; welchen Grund sollten Eltern haben, dies anzuzweifeln, zumal sich kaum jemand auf die Diagnose vorbereiten kann, da sie pränatal sehr selten entdeckt wird. In diesem Fall gehen wir auf die Stomaanlage ein. Die fördernde Öffnung des Stomas war im Hautniveau und daher kaum zu versorgen. Als die Mutter diese Schwierigkeiten ansprach, wurde ihr nicht geglaubt, alles sähe „super“ aus. Schließlich holten die Eltern eine Zweitmeinung ein. Wie sich herausstellte, verblieb Stuhl im unteren Darmabschnitt, es wurde also nicht alles gefördert. Es folgte eine Neuanlage, es kam zum sogenannten Briden-Ileus. Zitat der Mutter: „Wir haben kein Vertrauen mehr, man ist so verunsichert […]“. Wer kann ihr das verdenken, Vertrauen ist notwendig, wenn man als Mutter bzw. Vater für ein Kind entscheidet, wo es wie behandelt wird.

Fall 3 – Junge, geboren 2014, anorektale Fehlbildung

Laut Befunden handelte es sich hier um eine leichte Form einer ARM. Daher entschied der Operateur, die postoperative Kontrolle erst nach drei Monaten anzusetzen, obwohl laut der Mutter des Patienten klinische Beschwerden vorlagen und sie nach einem früheren Termin fragte. Als schließlich der Termin endlich stattfand, war der Neoanus verengt! Nach Einholen einer Zweitmeinung stellte sich zusätzlich heraus, dass der Neoanus auch fehlplatziert sei und bereits eine langstreckige Striktur vorlag. Die unumgängliche Reoperation zur Lagekorrektur und Entfernung der Verengung konnte die Analstenose nicht ganz beseitigen und es blieb bei 10 bis 15 schmerzhaften Entleerungen pro Tag. Die Eltern baten den Erstoperateur zu diesem Zeitpunkt um Stellungnahme, doch die Antwort ergab nur eine Fehlplatzierung sei eine „mögliche Komplikation“. Tatsächlich ist es jedoch ein technischer Fehler (laut Gutachten).

Fall 4 Junge; geboren 2008, anorektale Fehlbildung

Zusätzlich zur ARM mit rektoprostatischer Fistel lag noch eine Einzelniere vor. Es erfolgten Operationen und Reoperationen, es musste noch einmal ein künstlicher Ausgang angelegt und wieder verschlossen werden. Es blieben Probleme, vor allem massives Wundsein im Analbereich (offen, blutig); weiter mussten die Eltern das sogenannte Bougieren durchführen (Dehnen der neugebildeten Analöffnung mithilfe von Metallstiften). Dies bedeutete über die Dauer von sechs Monaten viele Schmerzen. Zum Teil hatte der Junge bis zu 40-mal Stuhlgang am Tag. Die Eltern baten um Unterstützung, was sie noch tun könnten. Der Rat des behandelnden Kinderchirurgen lautete „Versuchen sie es doch mal mit Schokolade“. Als die Familie schließlich zu einem erfahreneren Kinderchirurgen wechselte, verblieben trotz Reoperation eine vollständige Urin- und Stuhlinkontinenz – und hiermit sind „nur“ die organischen Konsequenzen benannt.

Fall 5, 6 und 7 – Patienten mit Morbus Hirschsprung

Zusammengefasst müssen wir hier über drei Fälle berichten, bei denen bei der erforderlichen Operation, die bei MH durchgeführt werden muss, der Analkanal entfernt wurde. Dies ist definitiv weder leitliniengemäß, noch darf es passieren. In einem Fall ist dies sogar im OP-Bericht beschrieben: „Entfernung der Auskleidung des Analkanals, beginnend direkt hinter der Analöffnung“. Und das sind die Folgen einer solchen Resektion: eine dauerhafte Stuhlinkontinenz. Die Verletzung des Analkanals ist vermeidbar, wenn entsprechend eine Operationsmethode gewählt wird, die genau diese Komplikation verhindert.

Weiter beobachten wir bei MH-Patienten vermeidbare Probleme durch verspätete Diagnosen: So haben wir Patienten, die erst nach fünf Jahren und mehr diagnostiziert wurden, obwohl die Innervierung des Darms von Geburt an gestört ist. Ursachen dafür sind häufig pädiatrische Fehleinschätzungen oder auch die pathologische Qualität der Gewebeprobe oder die Technik bei der Entnahme. Eine späte Diagnostik ist nicht nur medizinisch mit Konsequenzen behaftet, es bedeutet für viele Familien und besonders die kleinen Patienten eine Odyssee und hat insbesondere auch psychische Konsequenzen. „Ich hab doch gewusst, dass etwas nicht stimmt, aber niemand hat mir geglaubt“, „Hätte ich nur auf mein Gefühl gehört, wären wir vielleicht früher zu einem anderen Arzt gegangen“, „Jeden Tag dieses Martyrium, dass der Stuhl nicht rauskam und ich dachte, das ist die Trotzphase […] niemals hätte ich da mein Kind so schimpfen dürfen“. Diese Vorwürfe machen sich die Eltern oft ein Leben lang. Die resultierenden Schuldgefühle, der Vertrauensverlust in Fachleute und in das eigene Gefühl sind nachvollziehbar.

Fälle 10–??? – Erwachsene Patienten

Inzwischen sind bei SoMA knapp 400 Patienten über 18 Jahre selbst oder über ihre Eltern Mitglied. Damit verfügen wir über mehr Erfahrungsdaten als die Kliniken, zumal in Deutschland die Kinderchirurgien die erwachsenen Patienten gar nicht oder nur bis zum Lebensalter von 25 Jahren weiter betreuen dürfen. So gehen sie entweder in der Nachsorge ganz verloren oder sie finden gar keine Ansprechpartner, wenn sie diese suchen. Die Dokumentation der Befunde ist völlig ungenügend, um später daraus Schlüsse zu ziehen.

Wohlmeinende Initiativen wie das Berliner Transitions-Programm können unsere Patienten nicht aufnehmen, da die Diagnosen nicht in das Indikationsschema passen. Proktologen weisen die Patienten ab, da sie mit diesen Patienten keine Erfahrungen haben. Viel zu wenig Beachtung und Wissen gibt es außerdem zu den assoziierten Sexualfunktions- bzw. Fertilitätsstörungen und den psychosozialen Folgen. Hier rangieren die Folgen von unnötigen Gebärmutterentfernungen bis hin zu ergebnisverschlechternden Operationsvorschlägen. Ähnlich ist es bei den mit ARM assoziierten urologischen Begleitfehlbildungen, die im Zusammenhang mit der ursprünglichen Fehlbildung zu sehen sind. Optimalerweise würde eine Übergabe der Patienten von erfahrenen Fachleuten zu erfahrenen Fachleuten stattfinden oder eine gemeinsame Behandlung. Ideal wäre die Behandlung der Patienten von 0 bis 99 Jahren in Zentren, die entsprechend qualifiziertes und erfahrenes Personal vorhalten – auch und gerade für Patienten mit seltenen Erkrankungen.

Und jetzt?

Als ich auf dem Kongress diese Fälle vorstellte, erhielt ich verschiedene Rückmeldungen von Fachleuten: Wieder mal sei ihnen ein Spiegel vorgehalten worden, die Selbsthilfe sei nun mal ein Sammelbecken der Komplikationen, wir würden nicht anerkennen, dass man sich bemühe, oder, drei Fälle hätten auch genügt, da würde man dann ja nicht mehr zuhören.

Doch diese Fälle sind nicht nur Papier oder Worte – es geht hier um Leben und Lebensqualität und es geht um psychische Konsequenzen bis hin zu Traumatisierungen. Und es sind vermeidbare Komplikationen und Folgen, die hier genannt wurden: Es fehlen in einigen Bereichen Standards bzw. wird die Umsetzung vorhandener Standards nicht kontrolliert oder bei Nichtbeachtung mit Konsequenzen belegt. Fehlbildungen mit guter Prognose münden in irreversiblen lebensbeeinträchtigenden Folgen. Nachsorgelücken sowohl postoperativ als auch in der Langzeitbetreuung verursachen Belastungen der Patienten selbst und der sie umgebenden Familie – jeden Tag!

Anklage abwehren oder Verantwortung übernehmen?

Es geht hier nicht um Anklage, sondern um Verantwortung und das Verhindern solcher lebensverändernden Vorkommnisse. Gibt es nicht inzwischen genügend Fachliteratur und Vorträge zum Thema Fehlermanagement? So auch auf demselben Kongress, auf dem ich in Berlin 2018 sprechen durfte: Unter dem Titel „Fehler erkennen – Fehler vermeiden“ zeigten Mitarbeiter der Lufthansa auf, welche Katastrophen verhindert werden können, wenn man aufgetretene Fehler analysiert, ernst nimmt und dadurch die gleichen Fehler vermeidet. Ist das nicht gerade im medizinischen Bereich genauso wichtig, wie in der Katastrophenprävention von Verkehrsbetrieben?

Apell im Namen der Kinderrechte

Es gibt es doch das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit im Artikel 24 der UN-Kinderrechtkonvention [10]. Haben Eltern und Patienten mit ARM, MH oder KE nicht das gleiche Recht, wie Patienten, die z. B. in Herzzentren oder Brustkrebszentren behandelt werden? Wir denken, wir haben die gleichen Rechte, auch wenn wir selten sind und auch wenn man über Stuhlgang, Urinverlust und Sexualfunktionsstörungen nicht sprechen mag oder kann. Ein Tabu ist kein Grund für eine schlechtere Behandlung!

Bekannte Hindernisse

Spätestens an dieser Stelle werden jetzt Stimmen laut werden, dass alles nur am existierenden Gesundheitssystem liegt. Wir wissen, zumindest aus Deutschland, dass der Mangel an Pflegekräften oder ein Vergütungssystem, das Komplikationen für Kliniken wirtschaftlich lohnend macht, sowie politische Entscheidungen, wie die durchaus gut gemeinten Vorgaben zur Frühchenversorgung (siehe auch Beitrag von Dr. Schmiedeke) tatsächliche Hindernisse darstellen. Diese machen es auch den engagiertesten interdisziplinären Teams schwer; ebenso, wenn für eine aufwendige Nachsorgesprechstunde nur 15 € im Quartal abgerechnet werden dürfen, wie uns die Behandler rückmelden. Wir sind gern bereit, uns gemeinsam mit den Fachleuten hier auch als Patientenorganisationen für Verbesserungen einzubringen.

Hoffnungsschimmer

Doch es gibt auch Prozesse und Strukturen, die genutzt werden können. Da sind die ERN. In unserem Fall sind die Fehlbildungen in den Netzwerken eUROGEN [7] und ERNICA [6] abgebildet. In internationaler Zusammenarbeit soll Wissensaustausch und Forschung gefördert werden, unter Einbezug der Patientensicht und -interessen. Gegründet für die Verbesserung der Versorgung der Patienten mit seltenen Erkrankungen hat die EU auch die Expertise der Patientenorganisationen einbezogen. Mehr Informationen sind im Beitrag von Dr. Schmiedeke in diesem Heft zu finden. Mir sind an dieser Stelle folgende Aspekte wichtig:

Es muss die von der EU geforderte und verpflichtende Umsetzung auf nationaler Ebene endlich vollzogen werden. Die nationalen Prozesse dazu wie das Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE; [11]) in Deutschland oder der Nationaler Aktionsplan Seltene Erkrankungen (NAP.se) in Österreich arbeiten sich zwar sehr langsam voran, aber sie bewegen sich. Die europäische Initiative und die Vorgaben der EU haben Fakten geschaffen, die jetzt aber auch nicht aufgeweicht werden dürfen. Wer wäre darüber besser informiert als die Patienten selbst, die 24 h, 7 Tage die Woche und 52 Wochen im Jahr mit ihrer Erkrankung bzw. Einschränkung verbringen. So hoffen wir, dass die Umsetzung der hohen Ziele der ERN gelingt. Allein der Prozess, die Fachleute und Patienten an einen Tisch zu bringen, ist gewinnbringend. In unserer Arbeit als Patientenvertreter, den sogenannten European Patient Advocacy Groups (ePAGs; [9]), lernen auch wir viel dazu, wenn wir z. B. in die Leitlinienerstellung Einblick gewinnen und unsere Belange einbringen können. Und wir können zeigen, dass wir weit über das alleinige Beklagen hinaus an konstruktiven Verbesserungen gemeinsam zu arbeiten bereit sind. Das gleiche gilt für unsere nationalen Partner- und Schwesterorganisationen, wie z. B. Keks e. V., der Selbsthilfeorganisation Blasenekstrophie, des ASBH und international mit den italienischen Organisationen für ARM/MH, AIMAR und A.Mor.Hi oder den niederländischen VA bzw. Vereniging Ziekte van Hirschsprung. Wir möchten nicht verharren, sondern gemeinsam mit ehrlichen und engagierten Fachleuten eine bessere Versorgung erreichen. So haben wir eine Chance, dass die Verbesserung der Versorgung nicht über uns, sondern mit uns vollzogen wird.

Leuchttürme

Änderungen beginnen bei jedem Einzelnen, und jeder Einzelne kann jederzeit damit beginnen. So gibt es jüngst in Deutschland ein neues Netzwerk, AsaF, das Aktionsnetzwerk seltener angeborener Fehlbildungen, und inzwischen Arbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie. Herzstück dieser Initiative sind die virtuellen Boards. Monatlich werden hier auf einer geschützten Online-Plattform im interessierten Kreis der Behandler Fälle vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Diejenigen, die sich beteiligen, geben offen zu, was sie nicht wissen, nehmen Ideen der anderen auf, werfen Erfahrungen zusammen zum Wohl des Patienten. Und Vertreter unserer Patientenorganisationen können ebenfalls teilnehmen und unsere Erfahrungen aus dem Alltag einbringen. Jede Änderung beginnt mit einem ersten Schritt, und diese Schritte sind oft ganz unabhängig von Finanzierung oder politischer Gesetzgebung.

Fazit für die Praxis

  • Patienten mit seltenen angeborenen Fehlbildungen im Darmbereich haben nicht nur Probleme, die richtige Diagnose zu erhalten, sondern es bestehen auch Lücken in Behandlung und Nachsorge.

  • Wenn die Erkrankung und die Folgen nicht nur selten sind, sondern auch im Tabubereich liegen, ist es noch schwieriger, Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit und eine Veränderung der Situation zu erzielen.

  • Verfügen die Behandler zusätzlich über keine ausreichende Erfahrung und Expertise, sind die Folgen für die einzelnen Patienten und das umgebende Familiensystem erheblich und lebenseinschränkend. Die Folgen für die Gesellschaft gehen bis zur Arbeitsunfähigkeit und psychischen Dauerbelastungen.

  • Unsere Patienten benötigen Zentren, weil nur so die notwendige Erfahrung mit dem Spektrum an Fehlbildungsformen möglich ist. Diese Zentren müssen

    • eine ausreichende Fallzahl abdecken in Operation und Nachsorge;

    • über entsprechend fortgebildete Spezialisten verfügen, die entsprechende Standards einhalten bzw. entwickeln;

    • ein interdisziplinäres Team von der Pathologie über die Nachsorge und psychosoziale Begleitung vorhalten.

  • Patienten mit seltenen Erkrankungen haben das gleiche Recht auf Versorgung wie Patienten mit Volkskrankheiten.

  • Wir brauchen Behandler, die untereinander kooperieren und ein konstruktives Miteinander mit den Patientenorganisationen leben:

    • offen, transparent und auf Augenhöhe,

    • mit Empathie und Kompetenz.

Wir haben Respekt vor Ihrem Können. Bitte haben Sie Respekt vor unserem Leben und dem, wie es für uns zu bewältigen ist. Denn der Patient lebt jeden Tag mit den Folgen – nicht der Behandler. Wir wünschen uns alle menschenmöglichen Anstrengungen, damit solche schweren, die Kinder und ihre Familien massiv beeinträchtigenden und vermeidbaren Komplikationen in Zukunft nicht mehr auftreten.