Hintergrund und Fragestellungen

Beim Fibromyalgiesyndrom (FMS) handelt es sich um ein Beschwerdebild, dessen Definition, Klassifikation und Diagnose zwischen den einzelnen medizinischen Fachgesellschaften sowie zwischen Ärzten, Psychologen und Betroffenen weiter umstritten ist [17]. Die Diskussion um die Definition, Klassifikation und Diagnose wird teilweise durch berufspolitische Ansprüche der medizinischen Fachgesellschaften und Versorgungsansprüche von Betroffenen mitbestimmt.

Die Arbeitsgruppe bearbeitete folgende Schlüsselfragen:

  1. 1.

    Nach welchen Kriterien soll das FMS diagnostiziert werden?

  2. 2.

    Unter welchen Krankheitskategorien soll das FMS klassifiziert werden?

  3. 3.

    Welche Ausschlussdiagnostik ist notwendig?

  4. 4.

    Wann ist eine fachpsychotherapeutische Diagnostik sinnvoll?

  5. 5.

    Gibt es unterschiedliche Verlaufsformen/Schweregrade des FMS?

  6. 6.

    Wie ist die Prognose (Lebenserwartung) beim FMS?

Methoden

Die Methodik der Literaturrecherche und -analyse sowie der Erstellung der Empfehlungen ist im Leitlinienreport [19] dargestellt. Bei der Literaturanalyse wurden – basierend auf der a priori festgelegten Methodik – primär systematische Übersichtsarbeiten von randomisierten, kontrollierten klinischen Studien (RCT) für die Themen Patientenedukation und patientenzentrierte Kommunikation berücksichtigt.

Ergebnisse

Vorbemerkung: Die folgenden Feststellungen gelten für Erwachsene. Zur Definition, Klassifikation, klinischen Diagnose und Prognose von chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen bei Kindern und Jugendlichen wird auf den Beitrag „Definition, Diagnostik und Therapie von chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen und des (sog.) Fibromyalgiesyndroms bei Kindern und Jugendlichen“ in dieser Leitlinie verwiesen [8]. Die Schlüsselempfehlungen sind in einem Rahmen und kursiv gesetzt.

Definition des FMS

Evidenzbasierte Feststellung

Das FMS wurde in den American-College-of-Rheumatology(ACR)-1990-Klassifikationskriterien durch chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen und Druckschmerzhaftigkeit von mindestens 11/18 „tender points“ definiert. EL2b, starker Konsens

Kommentar.

Die Literatursuche fand keine neuen relevanten Studien zum Thema, sodass die Feststellung der Version 2.0 der Leitlinie [10] beibehalten wurde.

Kernsymptome des FMS

Evidenzbasierte Feststellung

Kernsymptome des FMS sind chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, Schlafstörungen bzw. nichterholsamer Schlaf und Müdigkeit bzw. Erschöpfungsneigung (körperlich und/oder geistig). EL3b, starker Konsens

Kommentar.

Die vorläufigen diagnostischen American-College-of-Rheumatology(ACR)-2010-Kriterien [31] und die Forschungskriterien des FMS (sogenannte 2011-Kriterien [32]) definieren diese drei Symptome als Hauptsymptome des FMS. Die neuen diagnostischen Kriterien ersetzen den klinischen Befund der „tenderness“ bei Daumenpalpation durch die Symptome körperliche und/oder geistige Erschöpfungsneigung (z. B. Konzentrationsstörungen) und nichterholsamer Schlaf.

Alle Angehörigen einer deutschen FMS-Selbsthilfeorganisation berichteten in einem selbstentwickelten Symptomfragebogen zahlreiche körperliche und seelische Beschwerden. Die Hauptsymptome (>97 % der Betroffenen) waren: Muskelschmerzen wechselnder Lokalisation; Rückenschmerzen; Müdigkeit; Gelenkschmerzen wechselnder Lokalisation; Gefühl, schlecht geschlafen zu haben; Morgensteifigkeit; Zerschlagenheit am Morgen; Konzentrationsschwäche; Antriebsschwäche; geringe Leistungsfähigkeit und Vergesslichkeit [13].

Zu Schlafstörungen und FMS wurden keine systematischen Übersichtsarbeiten gefunden. Narrative Übersichten beschreiben polysomnographische Hinweise auf einen gestörten Non-rapid-eye-movement(REM)-Schlaf [4].

Systematische Übersichtsarbeiten von Fall-Kontroll-Studien beschreiben eine gestörte exekutive Funktion (Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit; [3, 11]). Die Aussagekraft ist jedoch durch die kleinen Fallzahlen der Studien und die fehlende Kontrolle des Einflusses von Depression, Angst und zentral wirksamen Medikamenten auf die Studienergebnisse eingeschränkt [3].

Klassifikation des FMS als funktionelles somatisches Syndrom

Konsensbasierte Feststellung

Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden. EL5, starker Konsens

Kommentar.

Die Klassifikation des FMS ist in der Literatur weiterhin umstritten. Einige Schmerzmediziner und Rheumatologen klassifizieren das FMS als „zentrales Hypersensitivitätssyndrom“ [6, 35, 36]. Von einigen Vertretern der psychosomatischen Medizin wird das FMS als psychosomatische Störung klassifiziert [15] bzw. von Vertretern der Allgemeinmedizin als somatische Belastungsstörung („somatic symptom disorder“ [29]).

Das Konzept des funktionellen somatischen Syndroms vermeidet ätiologische/pathophysiologische Annahmen bezüglich des Beschwerdebilds. Funktionelle somatische Syndrome werden durch einen typischen klinischen Komplex körperlicher Symptome, eine definierte Zeitdauer und durch das Fehlen eines die Symptome ursächlich erklärenden somatischen Krankheitsfaktors (z. B. strukturelle Gewebsschädigung, biochemische Störung, spezifische Laborbefunde) definiert. Die einzelnen Fachgesellschaften definieren funktionelle somatische Syndrome jeweils anhand von ihrem Fachgebiet zugeordneten Symptomen und berücksichtigten bei der Definition nicht zusätzliche, anderen Fachgebieten zugeordnete körperliche und seelische Beschwerden [26].

Die „Fibromyalgie“ wird in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, deutsche Version, im Kapitel „Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes“ in dem Unterkapitel „Sonstige Krankheiten des Weichteilgewebes, anderenorts nicht klassifiziert“ (M79.70) aufgeführt [7].

Evidenzbasierte Feststellung

Das FMS ist nicht pauschal mit einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.40) bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (ICD-10 F45.41) bzw. einer somatischen Belastungsstörung („somatic symptom disorder“; DSM-5 300.82) gleichzusetzen. EL3a, starker Konsens

Kommentar.

Die Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bietet die Möglichkeit, chronische körperliche Beschwerden ohne erklärenden somatischen Krankheitsfaktor sowohl in den Kapiteln der somatischen Erkrankungen als auch im Kapitel „Psychische und Verhaltensstörungen“ unter den somatoformen Störungen (F45) zu klassifizieren. Daher werden in Deutschland Patientinnen mit einem fibromyalgieformen Beschwerdebild von vielen Ärzten und Psychologen nicht als M79.70, sondern als anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.40) oder Somatisierungsstörung (F45.1) codiert. Nur ein Teil der Patientinnen, welche die Kriterien eines FMS erfüllen, erfüllt auch die Kriterien einer somatoformen Schmerzstörung bzw. einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Daher sind diese Störungen als Komorbiditäten des FMS und nicht als synonyme Diagnosen aufzufassen [15].

Diese Feststellung gilt auch für die neue diagnostische Kategorie der somatischen Belastungsstörung. Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Version [2], schaffte die diagnostische Kategorie der somatoformen Schmerzstörung ab und ersetzte sie durch die einer somatischen Belastungsstörung. Diese ist wie folgt definiert:

  1. A.

    Ein oder mehrere beeinträchtigende körperliche Beschwerden

  2. B.

    Unangemessene und anhaltende Sorgen über die Ernsthaftigkeit der Beschwerden

  3. C.

    Anhaltend hohe Ausprägung von Ängsten bezüglich Gesundheit oder Beschwerden

  4. D.

    Exzessive Zeit und Energie, die für die Beschwerden und die Gesundheit aufgewendet werden [2]

In einer unizentrischen deutschen Studie erfüllten 26 % der FMS-Patientinnen die Kriterien einer somatischen Belastungsstörung. Die Konstruktvalidität und klinische Nützlichkeit dieser diagnostischen Kategorie wurde angezweifelt, da sich FMS-Patientinnen mit und ohne somatische Belastungsstörung weder im Ausmaß der Inanspruchnahme medizinischer Behandlung noch in der Häufigkeit einer Empfehlung einer Psychotherapie durch verblindete Untersucher unterschieden [18].

Abgrenzung/Überlappung des FMS mit depressiven Störungen

Evidenzbasierte Feststellung: Das FMS kann mit depressiven Störungen assoziiert sein (EL1b). Das FMS ist aber nicht als depressive Störung zu klassifizieren (EL3a). Starker Konsens

Kommentar.

Die Ergebnisse der Literatursuche unterstützen die Ausführungen der Version 1.0 [9] und der Version 2.0 [10] dieser Leitlinie. In systematischen Übersichtsarbeiten von Kohorten- und Fall-Kontroll-Studien wurden – in Abhängigkeit vom Setting und den verwendeten diagnostischen Instrumenten und Kriterien – eine Inzidenz von depressiven Störungen zwischen 29 % und 70 % und Lebenszeitprävalenzen zwischen 62 % und 86 % angegeben [1]. Jedoch berichtet nicht jede Patientin mit einer depressiven Störung über Schmerzen und nicht jede Patientin mit FMS ist depressiv [12].

Fibromyalgie versus Fibromyalgiesyndrom

Klinischer Konsenspunkt: Da das Beschwerdebild durch einen Symptomenkomplex definiert wird, ist der Begriff „Fibromyalgiesyndrom“ angemessener als der Begriff „Fibromyalgie“. Starker Konsens

Kommentar.

Die Literatursuche fand keine neuen relevanten Studien zu dem Thema.

Der Begriff „Fibromyalgie“ kann ein – nicht vorhandenes – distinktes entzündlich-rheumatisches Krankheitsbild der Weichteile suggerieren. Die Autoren sind sich bewusst, dass der Begriff des „Syndroms“ in der medizinischen Literatur nicht einheitlich verwendet wird. Der Begriff des Syndroms wird in dieser Leitlinie als „Zusammentreffen einzelner, für sich allein uncharakteristischer Symptome zu einem kennzeichnenden Krankheitsbild“ verstanden. Andere funktionelle somatische Syndrome sind das Reizdarmsyndrom oder das Urethralsyndrom. Das FMS wird als ein Syndrom erster Ordnung bzw. ein Symptomenkomplex mit unbekannter bzw. nicht geklärter Ätiologie, heterogener Pathogenese sowie definiertem Phänotyp eingeordnet. Syndrome zweiter Ordnung (Sequenzen) sind durch eine unbekannte Ätiologie, homogene Pathogenese und einen definierten Phänotyp (z. B. Cushing-Syndrom) definiert. Syndrome dritter Ordnung (Syndrome im engeren Sinne) sind durch eine homogene Ätiologie, unbekannte bzw. unbedeutende Pathogenese und einen definierten Phänotyp (z. B. Down, Marfan) definiert [23].

Verlaufsformen des FMS

Evidenzbasierte Feststellung: Anhand klinischer Charakteristika können unterschiedlich schwere Verlaufsformen unterschieden werden. Eine allgemein anerkannte Schweregradeinteilung existiert jedoch nicht. EL3b, starker Konsens

Kommentar.

Eine Schweregradeinteilung in leichtere und schwerere Formen kann klinisch in Analogie zur AWMF-Leitlinie „Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Körperbeschwerden“ erfolgen [28]. Zur Graduierung des Schweregrads des FMS mit psychometrischen Tests können krankheitsspezifische Instrumente wie der Fibromyalgia Impact Questionnaire (leichte Form FIQ < 39, mittelschwere Form 39–58 und schwere Form 59–100; [27]) und der Fibromyalgiesymptomfragebogen (leichtere Form PSD-Score 12–19, schwerere Form PSD-Score 20–31; [34]) sowie generische Instrumente wie der Patient Health Questionnaire 15 (leicht PHQ-15-Score 5–9, mäßig 10–14 und schwer 15–30; [16]) eingesetzt werden.

Prävalenz des FMS in Deutschland

Modifiziert: Evidenzbasierte Feststellung

Die Punktprävalenz des FMS nach den Forschungskriterien in Deutschland liegt bei 2,1 %. EL2c. Starker Konsens

Kommentar.

In einer repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung im Jahr 2013 erfüllten 2,1 % der Teilnehmer die Forschungskriterien eines FMS [33]. Die administrative Prävalenz bei den Versicherten der BEK/GEK lag im Jahr 2008/2009 bei 0,3 % [25].

In klinischen Einrichtungen sind bis zu 80 % der Patientinnen Frauen im Alter von 40 bis 60 Jahren [17]. In der repräsentativen Stichprobe der deutschen Bevölkerung war das Geschlechtsverhältnis ausgeglichen [33].

Klinische Diagnose

Klinischer Konsenspunkt: Die klinische Diagnose des FMS kann nach den ACR-1990-Klassifikationskriterien oder den vorläufigen modifizierten ACR-2010-Kriterien gestellt werden. Die klinische Diagnose beruht auf der Anamnese eines typischen Symptomkomplexes, klinischer Untersuchung und dem Ausschluss körperlicher Erkrankungen, welche diesen Symptomkomplex ausreichend erklären können. Starker Konsens

Kommentar.

Der Gebrauch der symptombasierten Kriterien der 1. Version der Leitlinie (sogenannte AWMF-Kriterien [9]) wird nicht mehr empfohlen, da sie international nicht verwendet werden. Die von der Leitliniengruppe vorgeschlagenen zu verwendenden Kriterien sind in Tab. 1 aufgeführt.

Tab. 1 Kriterien für die klinische Diagnose des FMS

Der Fibromyalgiesymptomfragebogen [14, 32] erlaubt, den Symptomkomplex eines möglichen FMS durch Selbstbericht der Patientin zu erfassen. Zur Diagnose ist jedoch eine medizinische Untersuchung notwendig, um zu überprüfen, ob somatische Krankheitsfaktoren vorliegen, welche die chronischen Schmerzen in mehreren Körperregionen teilweise oder vollständig erklären können. Eine „Fragebogendiagnose“ ist nicht möglich.

Praxiswerkzeuge

Fibromyalgiesymptomfragebogen (Abb. 1)

Abb. 1
figure 1

Fibromyalgiesymptomfragebogen [14, 32]

Das Ausmaß der körperlichen Symptombelastung kann mit dem Gesundheitsfragebogen für Patienten, Modul körperliche Beschwerden (PHQ-15; Abb. 2), abgeschätzt werden. Ein Gesamtwert von 5 bis 9 weist auf eine geringe, von 10 bis 14 auf eine mäßige und von 15 bis 31 auf eine starke körperliche Symptombelastung hin [16].

Abb. 2
figure 2

Gesundheitsfragebogen für Patienten PHQ-15 [21]

Obligate somatische Diagnostik bei Erstevaluation

Klinischer Konsenspunkt: Im Falle der Erstevaluation eines möglichen chronischen Schmerzes in mehreren Körperregionen werden folgende Maßnahmen empfohlen:

  • Ausfüllen einer Schmerzskizze und des Fibromyalgiesymptomfragebogens

  • Gezielte Exploration weiterer Kernsymptome (Müdigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen)

  • Vollständige medizinische Anamnese inkl. Medikamentenanamnese

  • Vollständige körperliche Untersuchung (inkl. Haut, neurologischer und orthopädischer Befund)

  • Basislabor:

    • Blutsenkungsgeschwindigkeit, C‑reaktives Protein, kleines Blutbild (z. B. Polymyalgia rheumatica, rheumatoide Arthritis)

    • Kreatinkinase (z. B. Muskelerkrankungen)

    • Kalzium (z. B. Hyperkalzämie)

    • Thyreoideastimulierendes Hormon basal (z. B. Hypothyreose)

    • 1,25-Dihydroxy-Vitamin D (z. B. Vitamin-D-Mangel)

Bei Hinweisen auf somatische (Mit‑)Ursachen der Symptomatik: weitere Diagnostik in Abhängigkeit von den Verdachtsdiagnosen. Starker Konsens

Kommentar.

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [10] wurde Vitamin D neu aufgenommen. In einer systematischen Übersichtsarbeit wurde eine Assoziation zwischen FMS und einem 1,25-Dihydroxy-Vitamin-D-Mangel (Odds Ratio 1,41 [95 %-Konfidenzintervall 1,00–2,00] nach Adjustierung von Störvariablen) beschrieben [20].

Aufgrund der Häufigkeit der Verordnungen wird das Risiko von Muskelschmerzen bei Einnahme von Protonenpumpenhemmern [5] und Statinen [22] hervorgehoben. Mindestens 5 % der Patientinnen entwickeln Myalgien nach Statineinnahme. Zum differenzialdiagnostischen Vorgehen wird auf die Literatur verwiesen [22].

Für die klinische Praxis ist darauf hinzuweisen, dass bei einigen Patientinnen ein Mischbild von fibromyalgieformen Beschwerden sowie myofaszialen, arthrosebedingten und entzündlichen (z. B. bland verlaufende entzündlich-rheumatische Erkrankung) Schmerzkomponenten vorliegen kann.

Weiterführende apparative Diagnostik

Klinischer Konsenspunkt: Bei typischem Beschwerdekomplex und fehlendem klinischem Hinweis auf internistische, orthopädische oder neurologische Erkrankungen (Anamnese und klinische Untersuchung ohne Hinweis auf andere Erkrankungen als Ursachen von Schmerzen und Müdigkeit, unauffälliges Basislabor) wird empfohlen, keine weitere technische Diagnostik (weiterführendes Labor, Neurophysiologie, Bildgebung) durchzuführen. Starker Konsens

Ein Algorithmus zu diagnostischen Schritten findet sich in Abb. 3.

Abb. 3
figure 3

Algorithmus zur Diagnose des Fibromyalgiesyndroms. ACR American College of Rheumatology; FMS Fibromyalgiesyndrom

Screening auf seelische Symptombelastung

Klinischer Konsenspunkt: Im Falle der Erstevaluation eines chronischen Schmerzes in mehreren Körperregionen wird ein Screening auf vermehrte seelische Symptombelastung (Angst und Depression) empfohlen. Starker Konsens

Kommentar.

Die häufigsten komorbiden seelischen Störungen beim FMS sind depressive und Angststörungen [1, 12].

Praxiswerkzeug

Ein Screening (per Fragebogen oder Fragen durch Arzt an Patientin) ist mit der deutschen Version des Patientenfragebogens zur Gesundheit PHQ-4 [24] möglich (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Gesundheitsfragebogen für Patienten PHQ-4 [24]

Werte von ≥3 sind als Grenzwert für eine mögliche depressive Störung (Fragen 01–02) bzw. eine mögliche generalisierte Angststörung, Panikstörung oder posttraumatische Belastungsstörung (Fragen 03–04) anzusehen und korrespondieren mit einem Perzentilrang von 93,4 % (Depression) bzw. 95,2 % (Angst) in Bezug auf eine repräsentative deutsche Bevölkerungsstichprobe [24].

Fachpsychotherapeutische Untersuchung

Klinischer Konsenspunkt: Eine fachpsychotherapeutische Untersuchung (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, ärztlicher oder psychologischer Psychotherapeut) wird bei folgenden Konstellationen empfohlen:

  1. a.

    Hinweise auf vermehrte seelische Symptombelastung (Angst, Depression)

  2. b.

    Anamnestische Angaben von aktuellen schwerwiegenden psychosozialen Stressoren

  3. c.

    Anamnestische Angaben von aktuellen oder früheren psychiatrischen Behandlungen

  4. d.

    Anamnestische Angaben von schwerwiegenden biografischen Belastungsfaktoren

  5. e.

    Maladaptive Krankheitsverarbeitung

  6. f.

    Subjektive psychische Krankheitsattributionen

Starker Konsens

Mortalität

Evidenzbasierte Feststellung

Die Mortalität beim FMS ist nicht erhöht. EL2b, starker Konsens

Kommentar.

Die Literatursuche fand keine neuen relevanten Studien zu dem Thema, sodass die Feststellung aus der Version 2.0 der Leitlinie [10] beibehalten wurde.

Diskussion

Im Vergleich zu Version 2.0 der Leitlinie [10] wurden Praxiswerkzeuge (Fragebögen) zur Unterstützung der Diagnosestellung, zum Screening auf psychische Symptombelastung und zur Schweregradeinteilung neu aufgenommen. Bei den empfohlenen Laboruntersuchungen bei erstmaliger Abklärung eines „chronic widespread pain“ (CWP) wurde die Vitamin-D-Bestimmung aufgenommen. Neu erfolgte ein Kommentar zu FMS und der neuen DSM-5-Kategorie der somatischen Belastungsstörung. Die übrigen Feststellungen der Version 2.0 der Leitlinie zur Klassifikation und Diagnose des FMS blieben unverändert.

Redaktionell wurde die Formulierung für evidenzbasierte positive Empfehlungen der Version 2.0 der Leitlinie von „soll oder sollte (durchgeführt)“ in „soll oder sollte empfohlen werden“ geändert, um den Aspekt der gemeinsamen Entscheidungsfindung von Arzt und Betroffenen zu betonen. Klinische Konsenspunkte werden in der neuen Version grundsätzlich mit der Formulierung „Es wird empfohlen“ eingeleitet, um den Konsenscharakter der Empfehlung einheitlich zu verdeutlichen. Weiterhin wurde „Patient“ durch „Patientin“ ersetzt, weil die Mehrzahl der Betroffenen in klinischen Einrichtungen Frauen sind.

Durch den Abgleich mit den Empfehlungen der S3-Leitlinie zu unspezifischen/funktionellen/somatoformen Körperbeschwerden [28] zur diagnostischen Etikettierung und Therapie des Beschwerdekomplexes erhofft sich die Leitliniengruppe ein Ende der Klassifikationsdebatte von CWP ohne ausreichend erklärenden somatischen Krankheitsfaktor und eine Konzentration auf die Bearbeitung der Forschungsdefizite:

  • Entwicklung einer reliablen und (inter-)national akzeptierten Schweregradeinteilung von unspezifischen/funktionellen/somatoformen Körperbeschwerden im Allgemeinen und des FMS im Besonderen

  • Prospektive Kohortenstudien zur Bedeutung des sekundären Krankheitsgewinns, sozialer Faktoren (Arbeitslosigkeit, Rentenantrag), iatrogener Chronifizierung und diagnostischer Etikettierungen

Fazit für die Praxis

Das FMS kann als funktionelles somatisches Syndrom klassifiziert werden. Es ist häufig mit psychischen Störungen assoziiert, jedoch nicht pauschal mit einer psychischen Störung gleichzusetzen. Die Diagnose wird anhand der Anamnese eines typischen Symptomclusters (chronische Schmerzen in mehreren Körperregionen, nichterholsamer Schlaf sowie körperliche und/oder geistige Erschöpfungsneigung) gestellt. Der Ausschluss von somatischen Krankheitsursachen, welche die Beschwerden erklären, erfolgt durch eine ausführliche Anamnese (inklusive Medikamentenanamnese), eine vollständige körperliche Untersuchung sowie ein Screening auf mögliche entzündliche oder endokrine Erkrankungen mittels einiger Laboruntersuchungen. Bei Verdacht auf somatische (Mit‑)Ursachen der Beschwerden können weitere technische Untersuchungen und/oder eine Überweisung zu Spezialisten indiziert sein. Die Klassifikationskriterien des American College of Rheumatology (ACR) von 1990 und die vorläufigen diagnostischen ACR-2010-Kriterien bzw. ihre 2011-Modifikation können für die Diagnosestellung verwendet werden. Die Diagnose eines FMS kann in vielen Fällen auch durch Hausärzte oder Schmerzmediziner gestellt werden. Weiterhin werden bei der Erstdiagnose ein Screening auf psychische Störungen mit Überweisung zu einem Fachpsychotherapeuten bei positivem Screening und eine Schweregradeinteilung empfohlen.