Klassischerweise beginnen viele Vorträge oder Artikel über chronische Schmerzerkrankungen damit, die Größe des Problems zu beschreiben, meist im Sinne einer epidemiologischen Kennzahl, wie der Prävalenz oder Inzidenz. Je größer das Problem ist, desto höher sind dann natürlich auch die direkten und indirekten Kosten und desto höher wird der zu fordernde Einsatz in den Gesundheits- und Sozialsystemen zur Besserung des Problems. Umso wichtiger ist dann auch die eigene Rolle – es geht also um gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Dabei waren diese hohen Zahlen nur durch eine überschaubare Anzahl von Arbeiten belegt (für eine Übersicht s. [1]), die nicht nur Jahre zurückliegen, sondern mittels unterschiedlicher zeitlicher Operationalisierungen v. a. auf die Prävalenz chronischer Schmerzen fokussierten.

Inzwischen hat sich die Schmerztherapie fortentwickelt. Sie fußt auf einer hohen Akzeptanz bezüglich ihrer Notwendigkeit im Versorgungsspektrum, wie es zuletzt auch auf dem Deutschen Ärztetag sehr deutlich wurde [2]. Parallel zu dieser positiven Haltung der Schmerztherapie gegenüber gelang es, das Verständnis über die Entstehung und Behandlung chronischer Schmerzen wissenschaftlich und klinisch weiterzuentwickeln. Dies zeigt sich beispielsweise in der Entwicklung und Verbreitung multimodaler Therapiekonzepte und im zunehmend differenzierten und individualisierten Einsatz medikamentöser Behandlungen. Wer aber genau braucht diese Therapiemöglichkeiten und wann? Betrifft dies jeden Menschen mit Schmerzen, Menschen mit Schmerzen und zusätzlich funktioneller Beeinträchtigung oder Menschen, die auch noch stark unter ihren Schmerzen leiden? Wie groß ist das Problem tatsächlich? Womit argumentieren wir heute, wenn wir den Bedarf an aufwendiger und kostenintensiver schmerzmedizinischer Betreuung beziffern und begründen wollen?

Diese Fragen führen zurück zur Epidemiologie. Für den Rückenschmerz ist schon seit vielen Jahren klar, dass der Kreuzschmerz zwar sehr häufig ist, aber nur bei einer kleineren Zahl von Patienten zur Chronifizierung und letztlich zur Ausbildung starker und beeinträchtigender Schmerzen führt; das Graduierungsmodell von von Korff [3] oder das Amplifikationsmodell von Raspe [4] sind Beispiele dafür. Für Schmerzstörungen wie das Fibromyalgiesyndrom wird ein Intensitätskontinuum von leichter bis schwerer Beeinträchtigung beschrieben. Für chronische Schmerzen nach Operationen liegt die Prävalenz starker und beeinträchtigender Schmerzen deutlich niedriger als die Prävalenz von Schmerzen an sich [5].

Wann ist ein Patient „schmerzkrank“?

Häuser et al. [6] greifen diese Aspekte für allgemeinen chronischen Schmerz auf und wenden sie in einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe an. Kern der Untersuchung ist die Definition chronischer Schmerzen und erstmalig eines operationalisierten Konstrukts für die „Schmerzkrankheit“. Die Autoren nutzen hier die Definition der International Association for the Study of Pain (IASP; ständig oder häufig auftretender Schmerz in den letzten 3 Monaten) sowie den chronischen Schmerzgrad (Chronic Pain Grade nach von Korff [3]), der je nach Schmerzintensität und -beeinträchtigung 4 Schweregrade chronischer Schmerzen unterscheidet. Darüber hinaus wurde der emotionale Leidensaspekt durch Symptome von Angst und Depression mit 4 Fragen aus dem Patient Health Questionnaire (PHQ) erfragt. Als „Schmerzkrankheit“ definierten Häuser et al. einen Schmerzschweregrad von III oder IV bei gleichzeitig erhöhten Angst- und Depressionswerten (> 1 Standardabweichung vom Mittelwert der Stichprobe). Aus diesen Ergebnissen ergeben sich ganz verschiedene Prävalenzzahlen: für (einfache) chronische Schmerzen (nach IASP-Definition, allein Zeitaspekt) 27 %, für ein Schmerzsyndrom mit hoher Beeinträchtigung (von-Korff-Schweregrad III und IV) 7,4 % und für beeinträchtigenden Schmerz plus emotionales Leiden („Schmerzkrankheit“) 2,8 %. Sprengkraft entfalten diese Zahlen durch die Umrechnung in Betroffene: Je nach Definition sind es geschätzt 23 vs. 6 vs. 2,2 Mio. Betroffene. Eine richtige Zahl gibt es also nicht.

Die einfache Frage nach chronischen Schmerzen führt vermutlich zu einer Überschätzung des Problems und der damit einhergehenden Behandlungsbedürftigkeit. Gestützt wird dies auch durch die Tatsache, dass etwa ein Drittel der Menschen mit Schmerzen nach IASP-Definition keine aktuelle Behandlung ihrer Schmerzen benötigen. Die vorhergehenden Studien, z. B. die von Breivik et al. [7], lassen sich entsprechend der unterschiedlichen zugrunde gelegten Kriterien gut in diesem Spektrum unterbringen.

Das von den Autoren gewählte Konstrukt der „Schmerzkrankheit“ kann kritisch diskutiert werden. Insbesondere die gewählten Grenzwerte für den PHQ (emotionales Leiden) sind diesbezüglich nicht validiert. Das ändert nichts an der grundsätzlichen Aussage der Studie, die Nennung von Prävalenzen von chronischen Schmerzpatienten kritisch zu prüfen, und weist auf die Notwendigkeit einer weiteren wissenschaftlichen Fundierung des Konzepts der „Schmerzkrankheit“ hin – auch als Grundlage einer schmerzmedizinischen und schmerzpsychologischen Bedarfsplanung.

Ein weiterer Aspekt der Studie ist die Frage nach der Notwendigkeit einer schmerztherapeutischen Behandlung. Die Häufigkeit einer Schmerztherapie nahm von 17,6 % bei Schmerzen ohne Beeinträchtigung auf 32 % bei Schmerzen mit Beeinträchtigung zu, die Behandlung war aber auch grundsätzlich mit einer erhöhten Inanspruchnahme medizinischer Leistungen verbunden (Haus- und Facharztbesuche, Nächte im Krankenhaus). Diese Daten sind nur schwer einzuschätzen, da nicht klar ist, welche schmerztherapeutischen Behandlungen durchgeführt wurden und wer diese erbracht hat bzw. ob eine schmerztherapeutische Qualifikation vorlag. Sie machen aber deutlich, dass für die Beurteilung der Effekte einer schmerztherapeutischen Versorgung wie auch einer Bedarfsplanung eine Qualitätssicherung mit begleitender longitudinaler Versorgungsforschung dringend notwendig ist. Hierfür wird beispielsweise von der Deutschen Schmerzgesellschaft das Dokumentationssystem KEDOQ-Schmerz entwickelt. Erfreulich ist andererseits das Ergebnis, dass immerhin zwei Drittel der befragten Patienten mit ihrer Schmerztherapie zufrieden waren.

Im Kontext dieser epidemiologischen Erkenntnisse müssen wir als Schmerzforscher und -behandler in der Zukunft folgende Fragen beantworten:

  • Können sich schwer Betroffene mit unseren Behandlungsmöglichkeiten in Bezug auf Schmerz, Funktion und emotionales Leiden verbessern und längerfristig stabilisieren?

  • Was ist eine „Schmerzkrankheit“, ist dieser Begriff erforderlich, welcher Leidensdruck ist assoziiert?

  • Kann eine rechtzeitige und angemessene Behandlung chronischer Schmerzen die psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen und Folgen lindern und die Lebensqualität steigern?

  • Wie können auch für Patienten mit geringerer Beeinträchtigung Konzepte der Risikoerkennung und Prävention weiterentwickelt werden?

Kritisch geprüft werden muss aber auch, ob die Behandlung von Menschen mit chronischen Schmerzen ohne relevanten Leidensdruck und ohne Beeinträchtigung überhaupt notwendig ist.

Nur so können wir die notwendigen Argumente und Konzepte für eine Sicherung und den weiteren Ausbau der schmerzmedizinischen Versorgung liefern – das Problem bleibt groß genug.

F. Petzke