Vor nicht einmal 35 Jahren galt generell „Morphinpräparate i. d. R. nicht länger als 3 Wochen verordnen“ [20]. Selbst Tumorpatienten waren noch 10 Jahre später stark unterversorgt [21]. Die erste Publikation zu Opioiden bei Nichttumorschmerz erschien 1982 [17], es folgte der vielzitierte Artikel von Portenoy und Foley [11], in dem über insgesamt 38 Patienten unter einer erfolgreichen Opioidtherapie als „humane Alternative zu operativen Optionen oder keiner Therapie“ berichtet wurde. Von der ersten deutschen Publikation zu diesem Thema [22] bis zur ersten Leitlinie zur „Langzeitanwendung von Opioiden bei nicht tumorbedingten Schmerzen“ (LONTS; [12]) lag ein langer Weg voller Diskussionen und Kontroversen. In dieser Zeit wandelten sich viele Kollegen vom Saulus zum Paulus und umgekehrt – die eigenen Personen eingeschlossen. Danach verstummte die Kontroverse keineswegs, sondern nahm neue Fahrt auf [10, 18].

Inzwischen steigen die Opioidverschreibungen in Deutschland weiter an (in den Jahren 2000–2010 um 37%), wobei die Zunahme vor allem für retardierte Präparate und für Opioide der WHO-Stufe 3 gilt. Der Anteil an Opiatverschreibungen für nicht tumorbedingte Schmerzen liegt bei 77% [15]. Die erste LONTS-Leitlinie hatte eine Gültigkeit bis 2014, sodass jetzt nicht nur aus Sicht der anhaltenden Kontroversen und Zahlen eine Aktualisierung notwendig wurde. Es ist das Verdienst der Deutschen Schmerzgesellschaft, der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften und von 25 wissenschaftlichen Fachgesellschaften, 2 Patientenselbsthilfeorganisationen und der Arbeitsgruppe um PD Dr. Häuser, sich dieser Aufgabe unterzogen zu haben.

Der Anteil an Opiatverschreibungen für nicht tumorbedingte Schmerzen liegt bei 77%

Dass Opioide auch bei Schmerzen wirksam sind, die nicht durch Tumoren bedingt sind, ist aus wissenschaftlicher Sicht selbstverständlich, denn Opioidrezeptoren sind über G-Proteine negativ an die intrazelluläre Signaltransduktion von Nervenzellen gekoppelt [9] und kommen im nozizeptiven System vom Spinalganglion über Rückenmark und Thalamus bis zur Großhirnrinde an vielen Stationen vor [1].

Endogene Opioide zeigen auch außerhalb des nozizeptiven Systems zahlreiche Wirkungen auf das Nervensystem, das Immunsystem und mehrere Hormonsysteme [2, 19]. Insofern sind die verschiedenartigen Nebenwirkungen nicht überraschend: Übelkeit, Erbrechen, Obstipation, Harnverhalt, Libidoverlust, psychische Veränderungen, Gedächtnisstörungen, Gangunsicherheit. Zahlreiche Ansätze wurden versucht, um Nebenwirkungen zu minimieren, z. B. die

  • Verwendung partieller Rezeptoragonisten wie Buprenorphin [5],

  • Beigabe von Opiatrezeptorantagonisten wie Naloxon [3, 6] oder

  • Kombination mit anderen synergistischen Wirkmechanismen wie der Noradrenalinwiederaufnahmehemmung [16].

Die Datenlage ist aber weder für alte Medikamente mit langer Anwendungserfahrung noch für neu zugelassene Medikamente mit zahlreichen randomisierten kontrollierten Studien hinreichend, um in einer Metaanalyse signifikante Überlegenheit gegenüber anderen Opioiden aufzuzeigen.

Heutiger Stand der Schmerztherapie mit Opioiden

Die heilsame Wirkung von Opioiden in der perioperativen Phase ist unumstritten, ebenso bei Tumorschmerzen. Berichten und Erfahrungen zufolge haben sich aber inzwischen Probleme sowohl bei der Langzeitanwendung bei Patienten mit chronischen Schmerzen, die nicht durch einen malignen Tumor bedingt sind, als auch zunehmend bei Tumorpatienten, die durch effektive Therapie eine lange (Über-)Lebenszeit vor sich haben, ergeben. Hier zeigten sich in einigen Fällen

  • Toleranzentwicklung, also langsamer Wirksamkeitsverlust,

  • Abhängigkeitspotenzial beim Patienten, auch durch Konditionierung,

  • missbräuchliche Verwendung der verschriebenen Opioide durch Patienten und andere Personen,

  • therapiebegrenzende Nebenwirkungen.

Die neue Leitlinie „Langzeitanwendung von Opioiden bei chronischen nicht tumorbedingten Schmerzen“ (LONTS 2) fasst den aktuellen Stand der Literatur zusammen. Dabei wird bereits bei einem Zeitraum von 4–12 Wochen von einer Langzeitanwendung gesprochen, weil die Zulassungsbehörden European Medicines Agency (EMA) sowie die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) Unterlagen nur für diesen Zeitraum einfordern und daher über längere Zeiträume kaum Daten aus placebokontrollierten Studien vorliegen. Die Autoren der Leitlinie können daher eine Therapie auch nur über 3 Monate empfehlen und darüber hinaus nur bei Therapierespondern; diese Empfehlung ist plausibel und sollte eigentlich selbstverständlich sein.

Nach den vorliegenden Daten unterscheiden sich – bei einer gepoolten Analyse aller Direktvergleiche – die einzelnen opioidhaltigen Analgetika bei vergleichbaren Titrations- und Dosierungsschemata statistisch nicht signifikant in ihrer Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit. Diese Aussage erstaunt etwas, da eine Verbesserung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses seit vielen Jahren ein erklärtes Ziel in der Entwicklung neuer Analgetika ist.

Die Leitlinie unterscheidet zwischen Indikationen mit belegter Wirksamkeit (z. B. diabetische Polyneuropathie, chronischer Arthroseschmerz), konsensbasierten Empfehlungen für individuelle Therapieversuche (z. B. chronische Knochenschmerzen bei Osteoporose, chronische postoperative Schmerzen, chronische Weichteilschmerzen bei Dekubitus) und grenzt diese gegen Kontraindikationen ab (z. B. primäre Kopfschmerzen, Schmerzen bei funktionellen Störungen, chronischer Schmerz als Symptom psychischer Störungen). Dies ist ein wichtiger Fortschritt gegenüber der vorigen Fassung der Leitlinie LONTS.

Die neue Fassung der LONTS-Leitlinie enthält Empfehlungen zur Praxis der Opioidtherapie

Darüber hinaus enthält die neue Fassung der LONTS-Leitlinie jetzt auch zahlreiche Empfehlungen zur Praxis der Opioidtherapie. Hierzu gehört das Setzen realistischer Therapieziele ebenso wie die Diskussion der Fahrsicherheit, die regelmäßige Überprüfung der Indikation, Hinweise zum Absetzen der Opioidmedikation und zur Höchstdosis von Morphinäquivalenten und das Einlegen einer Medikamentenpause oder Dosisreduktion nach jeweils 6 Monaten zur Überprüfung der Wirksamkeit. Zur Galenik wird eine klare Aussage getroffen: Analgetika mit verzögerter Freisetzung (oral oder transdermal) sind bevorzugt einzusetzen. In der Langzeittherapie sollte eine Bedarfsmedikation mit nichtretardierten opioidhaltigen Analgetika nicht durchgeführt werden (anders als in der Palliativmedizin). Unter den häufigen Nebenwirkungen sind Übelkeit und Erbrechen wegen Toleranzentwicklung nur vorübergehend zu erwarten, während die Obstipation typischerweise persistiert und daher eine spezifische Prophylaxe und Therapie erfordert.

Noch bestehende Defizite

Aus klinischer Sicht ist das schwerwiegendste Defizit in der bestehenden Literatur das Fehlen tatsächlich interdisziplinärer Ansätze in den Studien. Wenn wir chronischen Schmerz als biopsychosoziale Erkrankung verstehen [13], dann muss die Therapie auch mit einem solchen Ansatz erfolgen. Zur Langzeitbehandlung mit Opioiden unter einem multimodalen Ansatz gibt es aber keine randomisierten Studien. Das, was wir also bei einer Langzeittherapie mit Opioiden fordern, ist gar nicht untersucht und kann damit (noch) nicht Gegenstand der Leitlinie sein.

Auf diesen Mangel an Daten weist auch die Patientenleitlinie hin. Sie ist verständlich und klar und stellt eine wichtige Ergänzung des wissenschaftlichen Teils dar. Vielleicht ist die Sprache für einen Patienten nicht deutlich genug. Was gemeint ist, bedeutet doch: Opioide gibt es nicht allein, sondern nur zusammen mit einer Begleittherapie, die auch die aktive Mitarbeit des Patienten erfordert. Man würde sich wünschen, dass in der nächsten Auflage dieser multimodale Ansatz mehr betont wird. Es könnte auch deutlicher betont werden, dass Schmerzlinderung ohne Funktionsverbesserung ein Grund zum Absetzen der Opioide sein könnte. 

Die Zulassungsbehörden EMA und FDA fordern Unterlagen für einen Zeitraum von lediglich 4–12 Wochen. Über einen längeren Zeitraum gibt es daher kaum faktenbasierte Aussagen. Aus finanziellen und logistischen Gründen gibt es seit der letzten Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) kaum noch von Ärzten initiierte klinische Prüfungen („investigator-initiated trials“). Damit wird insbesondere die Untersuchung von Wirkungen und Nebenwirkungen in der Langzeittherapie durch wirklich industrieunabhängige Studien nahezu unmöglich gemacht. Hier sind das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gefordert, entsprechende Studien zu fördern, denn Wissenschaft kann nur empirisch gesichertes Wissen vermitteln. Andererseits sollte klinische Erfahrung aber nicht jahrelang als „Heilversuch“ weitergeführt werden.

Opioide gibt es nicht allein, sondern nur zusammen mit einer Begleittherapie, die auch die aktive Mitarbeit des Patienten erfordert

Der medizinische Bedarf an opioidhaltigen Medikamenten mit geringeren Nebenwirkungen bleibt bestehen und sollte auch weiterhin Ansporn für die Medikamentenentwicklung sein. Auch die aktuelle Metaanalyse hat wieder ergeben, dass Obstipation wegen der fehlenden Toleranzentwicklung eine der am stärksten störenden Nebenwirkungen bei der Langzeittherapie mit Opioiden ist. Ansätze zur Vermeidung opioidinduzierter Obstipation sind lobenswert [3, 6, 7, 14] und sollten weiter verfolgt werden mit dem Ziel, für die nächste Auflage von LONTS belastbare Daten verfügbar zu machen.

Schlussbetrachtung

Opioide können auch in der Langzeitanwendung wirksam sein, zumindest bei einigen Patienten („Responder“). Die „magische Grenze“ von 3 Monaten ist durch die Anforderungen der Zulassungsbehörden und die sich daraus ergebenden begrenzten Studien bedingt und stellt keine Grenze der Wirksamkeit dar. Allerdings nimmt die Zahl der Responder mit der Zeit ab; deshalb sollte die Frage der Notwendigkeit der Fortführung einer Opioidtherapie regelmäßig mittels Auslassversuch oder Dosisreduktion neu gestellt werden. Das frühere Vorurteil, neuropathische Schmerzen seien nicht mit Opioiden behandelbar, wurde erneut eindeutig widerlegt. Es gibt keinen „opioidpflichtigen“ Schmerz, weil Opioide nicht immer stärker wirken als Nichtopioide.

Aus unserer Sicht sollte man ergänzen, dass alle Therapieversuche mit Opioiden sorgfältig zu dokumentieren sind und dass es wünschenswert ist, auch Daten zu bisher unzureichend untersuchten Indikationen einer zukünftigen Metaanalyse zugänglich zu machen.

Wenn wir als Ärzte weiterhin steigende Opioidverschreibungen und den Einsatz neuer und damit sehr kostspieliger Opioide verantworten wollen, sollte die nächste Leitlinie mehr Material für eine Rechtfertigung liefern, Überlegenheit von einzelnen Opioiden, höhere Sicherheit, bessere Verträglichkeit, Opioide im interdisziplinären Kontext und vor allem eine signifikante Verbesserung der psychosozialen Konsequenzen chronischer Schmerzen.

Die vorliegende Leitlinie stellt im Vergleich zu vielen anderen Methoden (auch der Schmerztherapie) und vielen anderen Fachgesellschaften einen Riesenschritt in Richtung einer verantwortbaren und gesicherten Schmerztherapie und ein hervorragendes Beispiel für lebhafte und ethisch verantwortliche wissenschaftliche Tätigkeit dar. Dafür gebührt den Autoren – allen voran PD Dr. Häuser – und allen an dieser Leitlinie Beteiligten große Anerkennung und ein ganz besonders herzlicher Dank.

R.-D. Treede

M. Zenz