Zusammenfassung
Anders als ihre Eltern verbanden die Migranten der zweiten Generation kein bewusstes Ziel mit ihrer Migration. Sie waren abhängig von ihren Eltern und konnten sich nicht anders entscheiden. Wenn sie, wie die Generation „Kofferkinder“, in einer transnationalen Kindheit aufgewachsen sind, haben sie vielfache Verluste erlitten und keine Möglichkeit erhalten, diese Verluste zu betrauern. Bei den Eltern bleiben Schuldgefühle ebenso abgewehrt wie Trauergefühle in Bezug auf den Übergang von einem Land in das andere. Eine spezielle Etikette der Elternverehrung verhindert, dass die Trauer- und Schmerzgefühle der Kinder anerkannt werden. Viele dieser Kinder leiden an Bindungs- und Beziehungsstörungen, ohne dass ihnen ausreichend bewusst ist, wie diese mit ihrem vielfachen Herausgerissenwerden zusammenhängen. Verbitterung kann dabei ebenso eine Folge sein wie Rückzug in Beziehungen oder vielfacher Abbruch von Beziehungen. Trauerarbeit zu leisten und die Erfahrung, Abhängigkeitsbedürfnisse haben zu dürfen, können in einer psychoanalytischen Langzeittherapie ebenso ermöglicht werden wie die Bewältigung des Identitätskonflikts zwischen zwei Kulturen.
Abstract
Unlike their parents, many second generation children of immigrants had no conscious aim linked to their migration. They depended on their parents and could not decide in any other way. If they grew up in a transnational childhood like the “Generation Kofferkinder” (suitcase children generation), they suffered from multiple losses and had no chance to mourn these losses. Immigrant parents’ feelings of guilt remained repressed as well as the feelings of grief in respect to their migration from one country to another. A special etiquette of showing reverence to the parents prevents the children’s feelings of grief and pain from being appreciated. Outwardly adjusted and repressing inner distress, many of these children suffer from attachment disorders and relationship problems without being sufficiently aware of how this is linked with their multiple early disruptions in the relationships. Embitterment can follow as a consequence in the relationship of the generations as well as withdrawal from relationships or multiple breaks in relationships. Being able to mourn and the experience of being allowed to have needs of dependency, can be made possible by psychoanalytic long-term therapy, which also helps to cope with the identity conflict between two cultures.
Notes
Pseudonym im folgenden Text für die von mir behandelte Patientin.
Pseudonym.
Literatur
Akhtar S (1999) Immigration und Identität. Psychosozial, Gießen (2014)
Altmeyer M (2000) Narzissmus, Intersubjektivität und Anerkennung. Psyche Z Psychoanal 54(2):143–171
Ardjomandi ME (2008) Zur Spezifität des ödipalen Konflikts der Muslime im Vorderen Orient am Beispiel Irans. In: Scheifele S (Hrsg) Migration und Psyche. Psychosozial, Gießen, S 97–112
Bär C (2011) (Auf‑)Brüche als lebensgeschichtliche Umbrüche von Migrantinnen der ersten Generation. Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung, Marburg
Beka-Focke L (2012) Aus einer Analyse zwischen den Kulturen. Forum Psychoanal 28:135–149
Bhugra D (2004) Migration and mental health. Acta Psychiatr Scand 109:243–258
Erikson EH (1982) Kindheit und Gesellschaft. Klett-Cotta, Stuttgart
Erim Y (2009) Klinische interkulturelle Psychotherapie. Kohlhammer, Stuttgart
Freud S (1921) Massenpsychologie und Ich-Analyse. (Gesammelte Werke Bd 13, 1967). Fischer, Frankfurt am Main (bzw. in: Freud Studienausgabe 1974, Bd 9,S 61–134)
Gomperts W (2012) Ähnlich und doch verschieden Psychoanalytische Psychotherapie für Migranten der ersten und späteren Generationen in den Niederlanden. In: Gerlach A, Schlösser A‑M (Hrsg) Grenzen überschreiten – Unterschiede integrieren. Psychosozial, Gießen, S 131–146
Grinberg L, Grinberg R (1990) Psychoanalyse der Migration und des Exils. Klett-Cotta, Stuttgart
Hajji R (2009) Sozialisationsprozesse in Familien mit marokkanischem Migrationshintergrund. Budrich Univ Press, Opladen & Farmington Hills (S. 8 f.,76 f.,88 f.)
Honneth A (1994) Kampf um Anerkennung. Suhrkamp, Frankfurt am Main
Karatza-Meents A (2014) „Kofferkinder“. Psyche Z Psychoanal 8/2014:713–734
Leszczynska-Koenen A (2013) Über Fremdheit in analytischen Behandlungen. Psyche Z Psychoanal 1/2013:23–32
Lichtenberg JD, Lachmann FM, Fosshage JL (2000) Das Selbst und die motivationalen Systeme. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main
Leichsenring F, Beutel M, Leibing E (2008) Psychoanalytisch-orientierte Fokaltherapie der sozialen Phobie. Ein Behandlungsmanual auf der Grundlage der supportiv-expressiven Therapie Luborskys. Psychotherapeut 53:185
Mahler M, Pine F, Bergmann A (1993) Die psychische Geburt des Menschen. Fischer, Frankfurt am Main (Erstausgabe 1975)
Parin P (1992) Der Widerspruch im Subjekt. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg
Spitz RA (1992) Vom Säugling zum Kleinkind. Klett-Cotta, Stuttgart (Erstausgabe 1965)
Tumani V (2016) Spielt Kultur bei der Bindungstraumatisierung eine Rolle? In: Brisch KH (Hrsg) Bindung und Migration. Klett-Cotta, Stuttgart, S 32–43
Wilhelm G (2011) Generation Koffer. Orlanda Frauenverlag, Berlin
Winnicott DW (1984) Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Fischer, Frankfurt am Main, S 58–189 (Erstausgabe 1965)
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Additional information
Überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf dem Jahreskongress der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) in Stuttgart, 05.–08.05.2016. Grundlage des Vortrags ist die wissenschaftliche Arbeit „Risse in Beziehungen – Psychoanalytische Psychotherapie mit Migranten der zweiten Generation“, die ausgezeichnet wurde mit dem Gaetano-Benedetti-Gedächtnispreis der DPG 2016 als beste Kandidatenarbeit zum Kongressthema „heimatlos“.
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Frohn, A. Risse in Beziehungen. Forum Psychoanal 33, 215–231 (2017). https://doi.org/10.1007/s00451-017-0265-z
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s00451-017-0265-z