Skip to main content
Log in

Zeige mir Deine Welt

Zur dialogischen Konstruktion von Wirklichkeit in der Psychoanalyse

Show me your world

On the dialogic construction of reality in psychoanalysis

  • Originalarbeit
  • Published:
Forum der Psychoanalyse Aims and scope

Zusammenfassung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Parallelität psychoanalytischer und neurowissenschaftlicher Theorien. Die Komplexität seelischer Vorgänge ist in beiden wissenschaftlichen Bereichen eine wesentliche Grundannahme. Die Erforschung komplexer Systeme erfordert andere logische Grundvoraussetzungen; ihre Ergebnisse sind interpretationspflichtig.

Durch die Einführung des sozialen Bezugs als wesentliches Element der Bewusstseinsentwicklung im neurobiologischen Konstruktivismus ergibt sich eine weitere Parallele zur Psychoanalyse. Neurobiologische Theorien können in zunehmendem Maße die Funktionsweise des menschlichen Gehirns erklären, nicht aber seine Ergebnisse, i. e. die seelische Tätigkeit. Psychoanalytische Theorien hingegen beschreiben Konstruktionsmuster von Wirklichkeit und bieten damit eine wesentliche Voraussetzung zur Interpretation. Wenn der psychoanalytische Prozess als eine dialogische Konstruktion von Wirklichkeit beschrieben wird, stehen Psychoanalyse und neurobiologischer Konstruktivismus in einer komplementären Beziehung zueinander.

Der psychoanalytische Dialog – obwohl asymmetrisch – wird als eine gemeinsame Arbeit von Analytiker und Analysand mit wechselseitiger Beeinflussung angesehen. Ihr Wert wird durch die Evidenz und Veränderungswirksamkeit beim Analysanden bestimmt. Unter dem Aspekt der nachhaltigen Wirkungen muss sich die Evaluation auf die Gesamtheit der Veränderungen beziehen und nicht nur auf die Symptomatik.

Abstract

This article is concerned with the parallelism of psychoanalytical and neuroscientific theories. The complexity of mental processes is an essential assumption in both scientific fields. The study of complex systems requires other basic logical conditions and the results are subject to interpretation.

The introduction of social references as an essential element of the development of consciousness in neurobiological constructivism results in a further parallel to psychoanalysis. Neurobiological theories can explain the workings of the human brain to an increasing extent but not its results, i.e. the mental activity. Psychoanalytical theories, however, describe design patterns of reality and thus provide an essential prerequisite for interpretation. If the psychoanalytical process is described as a dialogic construction of reality, psychoanalysis and neurobiological constructivism are in a complementary relationship to each other.

The psychoanalytical dialogue, although asymmetrical, is viewed as a collective work of analyst and analysand with a reciprocal influence. Results of the psychoanalytical process are approximations and remain dependent on interpretation. Its value is determined by the evidence and effectiveness of change of the analysand. In terms of sustainable effects the evaluation must refer to the totality of the changes and not just the symptoms.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. “Thus cognition as a biological function is such that the answer to the question, ‚What is cognition?‘ must arise from understanding knowledge and the knower through the latter’s capacity to know” (Maturana 1970).

  2. “Living systems as they exist on earth today are characterized by exergonic metabolism, growth and internal molecular reproduction, all organized in a closed causal circular process that allows for evolutionary change in the way the circularity is maintained, but not for the loss of the circularity itself” (Maturana 1970).

  3. Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft Ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von C. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, die dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht.

  4. Wir können jetzt auch präzise ausdrücken, was die Verdrängung bei den Übertragungsneurosen der zurückgewiesenen Vorstellung verweigert: Die Übersetzung in Worte, die mit dem Objekt verknüpft bleiben sollen. Die nicht in Worte gefasste Vorstellung oder der nicht übersetzte psychische Akt bleibt dann im Ubw verdrängt zurück (S. Freud 1915).

  5. “Man halte alle bewussten Einwirkungen von seiner Merkfähigkeit ferne und überlasse sich völlig seinem ‚unbewussten Gedächtnisse‘, oder rein technisch ausgedrückt: Man höre zu und kümmere sich nicht darum, ob man sich etwas merke” (S. Freud 1912).

  6. “Our first explicit use of the term intersubjective appeared in an article (Stolorow et al. 1978) that Lewis Aron (1996) credited with having introduced the concept of intersubjectivity into the American psychoanalytic discourse. There we conceptualized the interplay between transference and countertransference in psychoanalytic treatment as an intersubjective process reflecting the mutual interaction between differently organized subjective worlds of patient and analyst, and we examined the impact on the therapeutic process of unrecognized correspondences and disparities – intersubjective conjunctions and disjunctions – between the patient’s and analyst’s respective world of experiences.”

  7. Damasio spricht in diesem Zusammenhang von somatischen Markern, die dazu dienen, die komplexe Erlebniswelt zu strukturieren und die Handlungsmöglichkeiten in dieser zu begrenzen, um damit überhaupt handlungsfähig zu sein. Sie retten die Gefühle aus der Welt der Irrationalität und zeigen ihre wichtige Rolle in Form von unbewusster Erfahrung, bei Entscheidungsprozessen und in der gesamten sozialen Interaktion. Gefühle und Emotionen sind demnach nicht als das Gegenteil von Rationalität anzusehen, sondern als eine ihrer Grundlagen.

  8. Die häufig in Supervisionen und kasuistischen Seminaren geäußerte Frage, ob die Intervention nun richtig oder falsch gewesen sei, kann sich eigentlich nur darauf beziehen, ob sie dem Fortgang des Erkenntnisprozesses dienlich ist oder nicht. Wesentlicher erscheint die Frage, unter welchen inneren Bedingungen (Gegenübertragung) die Intervention so und nicht anders erfolgte.

  9. “Possibly, the Dodo bird verdict reflects a failure of researchers, psychodynamic and nonpsychodynamic alike, to adequately assess the range of phenomena that can change in psychotherapy.”

Literatur

  • Damasio A (1999) Commentary on Panksepp. Neuro-Psychoanalysis I:38–39 (zit. nach Solms und Turnbull 2010)

  • Damasio A (2002) Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, 3. Aufl., zit. n. Elisabeth Stachura. Ullstein, München

    Google Scholar 

  • Edelman GM (1990) The remembered present: a biological theory of consciousness. Basic Books, New York

    Google Scholar 

  • Elias N (1987) Die Gesellschaft der Individuen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. (zit. n. Stachura)

    Google Scholar 

  • Ferenczi S (1988) Ohne Sympathie keine Heilung. Das klinische Tagebuch von 1932. Fischer, Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • Freud S (1895) Entwurf einer Psychologie (1950 [1895]). Gesammelte Werke: Texte aus den Jahren 1885 bis 1938, 375–386. Fischer, Frankfurt a. M. (1999)

    Google Scholar 

  • Freud S (1910) Die zukünftigen Chancen der Psychoanalytischen Therapie. GW Bd 8:104–115

    Google Scholar 

  • Freud S (1912) Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. GW – Chronologisch geordnet Bd 8, S 376

    Google Scholar 

  • Freud S (1913) Schriften zur Behandlungstechnik. Zur Einleitung der Behandlung. In: Studienausgabe, Ergänzungsband. Fischer, Frankfurt a. M. (1975)

  • Freud S (1915) Das Unbewusste. In: Studienausgabe, Bd III. Fischer, Frankfurt a. M., S 160 (1975)

  • Freud S (1917) Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW Bd 11, S 18. Vorlesung

  • Leichsenring F, Rabung S (2008) Effectiveness of long-term psychodynamic treatment: a meta-anaylsis. JAMA 300(13):1551–1565

    Article  PubMed  Google Scholar 

  • Maturana HR (1970) Biology of Cognition Biological Computer Laboratory Research Report BCL 9.0. Urbana IL: University of Illinois, 1970. As Reprinted in: Autopoiesis and Cognition: the Realization of the Living. Dordecht: D. Reidel Publishing Co., 1980, S 5–58

  • Nietzsche F (1954) Werke in drei Bänden. Bd 2. München, S 219–222

  • Reik T (1948) Listening with the Third Ear. The Inner Experience of a Psychoanalyst, New York, dt. Hören mit dem dritten Ohr. Die innere Erfahrung eines Psychoanalytikers. Hoffmann und Campe, Hamburg (1976)

  • Roth G (1997) Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

    Google Scholar 

  • Shedler J (2010) The Efficacy of Psychodynamic Psychotherapy. Am Psychol 65:98–109

    Article  PubMed  Google Scholar 

  • Shedler J (2011) Die Wirksamkeit psychodynamischer Psychotherapie. Psychotherapeut 56:265–277

    Google Scholar 

  • Solms M, Turnbull O (2010) Das Gehirn und die innere Welt Neurowissenschaft und Psychoanalyse, 4. Aufl. Patmos, Düsseldorf

    Google Scholar 

  • Stachura E (2011) Der neurobiologische Konstruktivismus: Welche Konsequenzen haben die Ergebnisse der Hirnforschung für das Selbstverständnis des Menschen? Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, Saarbrücken

    Google Scholar 

  • Stolorow D (2013) Intersubjetive-Systems theory: a Phenomenological-Contextualist Psychoanalytical Perspective. Psychoanal Dialogues 23:383–389

    Article  Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Rainer Sandweg.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Sandweg, R. Zeige mir Deine Welt. Forum Psychoanal 31, 191–203 (2015). https://doi.org/10.1007/s00451-015-0192-9

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s00451-015-0192-9

Navigation