Zusammenfassung
Hintergrund
Obwohl Interdisziplinarität in der Gerontologie unbestritten viele Facetten besitzt, ist meist eine Engführung im Sinne eines Zusammenwirkens von psychologischen, soziologischen und biologisch-medizinischen Forschungszugängen zu beobachten. Wir argumentieren, dass Gerontologie die Auseinandersetzung mit neuen Disziplinkonstellationen benötigt, um Altern in seiner Vielschichtigkeit besser verstehen zu können und dieses Wissenschaftsfeld als Ganzes weiterzuentwickeln.
Ziel der Arbeit
Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht daher der Versuch, mithilfe eines neuartigen Disziplinentrialogs zwischen Expertinnen und Experten aus Psychologie, Theologie und Diakoniewissenschaft zu einem besseren Verständnis des in der Gerontologie häufig diskutierten Konzepts einer „strukturellen Verzögerung“ („Structural Lag“) beizutragen (Riley et al., Age and structural lag, New York, 1994).
Material und Methoden
Konstitutiv dafür ist unserer These zufolge die Wahrnehmung von „Möglichkeitsräumen“, die sich in den verschiedenen Phasen des Alterns ausmachen lassen. Eine pilotartig angelegte empirische Annäherung erfolgte anhand von 3 leitfadengestützten Fokusgruppeninterviews zu 3 Lebensübergängen (Lebensübergang in den Ruhestand, in eine Pflegebedürftigkeit im häuslichen Umfeld und in ein Leben im Pflegeheim). Das Datenmaterial wurde mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet.
Ergebnisse
Die interdisziplinär orientierte Auswertung der Interviews und die Erkundung der Konzepte in dem hier realisierten Disziplinentrialog ergaben, dass insbesondere der Aspekt der Zeitwahrnehmung bei der Auslegung von „Gewinnen und Verlusten“ sowie „Teilhabe“ eine wichtige Rolle spielt und somit für ein vertieftes Verständnis von Alternsprozessen bedeutsam ist. Vor allem die subjektive Deutung der verbleibenden Lebenszeit und die vorgegebene oder selbst gewählte Zeitstrukturierung des Alltags präsentierten sich als wichtige Faktoren der Wahrnehmung eigener Potenziale und Möglichkeitsräume in den untersuchten Übergängen.
Schlussfolgerung
Durch das Zusammenwirken der beteiligten Disziplinen konnten so Aspekte des Alterns in ihrer Interdependenz sichtbar gemacht werden. Zugleich zeigte dieser pilotartig durchgeführte Disziplinentrialog die Herausforderungen perspektivenübergreifender Kooperation etwa bei der Verknüpfung empirischer und hermeneutischer Methodiken.
Abstract
Background
Although the need for interdisciplinary research is generally accepted in gerontology, such interdisciplinary communication is often limited to various combinations of psychological, sociological and biomedical scientific approaches. We argue that gerontology requires a continuous examination of novel disciplinary constellations to obtain a better understanding of aging in its complexity and to further develop this scientific field in its entirety.
Objective
The present study introduced and tested for the first time an innovative disciplinary trialogue, i.e. the combination of psychology, theology and diaconal studies. In particular, it is assumed that this combination can contribute to a more profound interpretation of the prominent concept of structural lag which is underresearched in gerontology.
Material and methods
The analysis of structural lag with another overarching concept, “room for possibilities”, can provide a synergy-rich interpretation category for a range of challenges connected with old age. In this respect, three major transitions were selected to shed light on these concepts and examined by means of three focus group interviews: transition to retirement, need for long-term care in the private home context and transition to nursing home life. The data were evaluated using qualitative content analysis.
Results
The interdisciplinary-oriented evaluation of the interviews and the qualitative data analysis revealed the relevance of different perceptions of time in all three transitions. In addition, different dynamics in terms of the interplay of gains and losses as well as participation were found to be important for a better understanding of the three transitions. In particular, the subjective interpretation of the time remaining for living and the predetermined or self-selected time structuring of the daily routine were important factors for the perception of one's own potential. The results also underline a range of unused room for possibilities and the existence of structural lag for each transition.
Conclusion
By the cooperation of the participating disciplines aspects of aging and their interdependence became visible. At the same time this pilot-like disciplinary trialogue revealed the challenges in combining interdisciplinary perspectives by the combination of empirical and hermeneutical methods.
Notes
Von standardisierten Screeningverfahren zur Abbildung des kognitiven oder psychischen Status der Studienteilnehmer wurde abgesehen. Klinische Merkmale wurden ausschließlich anhand von Krankenakten (Hauptdiagnose) oder der Aussagen der Teilnehmer, deren Angehörigen oder des Pflegepersonals dokumentiert.
Die konkreten Fragen an die Interviewteilnehmer der jeweiligen Fokusgruppen sind in diesem Beitrag nicht aufgeführt.
Speziell ein am 9. März 2015 durchgeführter ganztägiger Workshop in Heidelberg.
Vgl. Gronemeyer [18] für eine differenzierende Definition der Begriffe „Teilhabe“ und „Teilgabe“.
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Danksagung
Das Pilotprojekt wurde von dem Innovationsfond Frontier der Exzellenzinitiative der Universität Heidelberg gefördert. Wir danken auch Anna Habermann und Dr. Jürgen Hädrich für ihre Mitarbeit im Forschungsprojekt. Zudem möchten wir den am Projekt engagierten Einrichtungen einen ganz besonderen Dank aussprechen.
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Interessenkonflikt
S. Wiloth, J. Siebert, A. Bachmann, H.-W. Wahl, F. Nüssel, J. Eurich geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Alle im vorliegenden Manuskript beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethikkommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen Beteiligten liegt eine Einverständniserklärung vor.
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Wiloth, S., Siebert, J., Bachmann, A. et al. „Structural Lag“ und Möglichkeitsräume des Alterns am Beispiel zentraler Transitionen. Z Gerontol Geriat 48, 677–690 (2015). https://doi.org/10.1007/s00391-015-0976-y
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