Die DGGG ist ein Ort des wissenschaftlichen Austauschs, an dem seit Jahren immer wieder einmal vorgeschlagen wird, eine „Wissenschaft Gerontologie“ mit eigenen Theorien, Methoden und Lehrinhalten zu etablieren.

Diese Forderung ist berufspolitisch plausibel. Sie lässt sich als Antwort auf die Mechanismen der finanziellen Förderung von Forschung und Lehre im europäischen Wissenschaftssystem deuten und begründet möglicherweise Ansprüche auf Ressourcen wie Forschungsgelder staatlicher und privater Organisationen, Professuren und Postgraduiertenschulen.

Ein weiterer plausibler Grund, eine „Wissenschaft Gerontologie“ anzustreben, ist die Suche nach Verstehen und Verständigung trotz der Spezialisierung der – hier mit dem Alter befassten – Wissenschaftsdisziplinen. Gleichermaßen amüsant wie eindrucksvoll analysiert deren Notwendigkeit die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Siri HustvedtFootnote 1 in ihrem Essay „Ausflüge zu den Inseln der Wenigen“ [2]. Sie beschreibt Wissenschaftler(innen) als Menschen, die disziplinäre Inseln von Gleichgesinnten bewohnen und dann, wenn sie nicht gerade gerufen werden, um als sogenannte Experten der Öffentlichkeit einen Sachverhalt zu erklären, permanent damit beschäftigt sind, in ihrem Wissensbereich Unmengen an hoch spezialisiertem Wissen anzuhäufen. Die dabei produzierten Dokumente seien anspruchsvoll und operierten mit Begriffen, die nur den sie lesenden „happy few“ bekannt seien. Entsetzt stellt sie fest, dass in einer „Welt der intellektuellen Fragmentierung“ der Dialog in Gefahr gerät und Wissen sogar innerhalb von Disziplinen nur selten geteilt oder gar gemeinsam genutzt wird. Doch selbst dort, wo „Eingeborene“ disziplinäre Grenzen überschreiten, würden nie die Grenzen einer bestimmten „Geografie gemeinsamer Bezüge“ gesprengt, die von anerkannten (Vor-)Denkern abgesteckt wurden. Hustvedt zeigt dafür Verständnis, schließlich lägen überall „Experten auf der Lauer“ und griffen Eindringlinge an, die sich auf ihren „heiligen Boden“ vorwagten. Aus ihrer Sicht ist diese Abwehr sogar verständlich, denn es bestünde die Gefahr der Vermischung von Begriffen und Überzeugungen, oft entstehe ein „Kuddelmuddel“. Gleichwohl bestehe Grund zum Optimismus, denn es könnten aus dem Chaos durchaus interessante Fragen und Antworten hervorgehen.

Ließe sich also die Wahrscheinlichkeit interessanter Fragen steigern, indem man versucht, die disziplinären Verständigungsschwierigkeiten produktiv zu wenden und die Gerontologie zu einer gegenstandsbezogenen Wissenschaft mit eigenen Theorien und Methoden zu entwickeln?

Hustvedts Essay hinterlässt Skepsis. Sie beschreibt, wie sie in einem psychiatrischen Krankenhaus ehrenamtlich Schreibkurse für Patient(inn)en übernahm und wie dort der „Jargon“ des DSM bei ihr selbst und erst recht bei den Patient(inn)en Wirkung entfaltete, obwohl die Präambel des DSM-Handbuchs explizit das Soziale bei der Bewertung psychischer Krankheiten betont: „Ich habe angefangen zu sehen, wonach ich suche. Das diskursive Gerüst richtet meine Sicht aus“ ([2], S. 177).

In ihrer essayistischen Analyse dieses Phänomens erwähnt Sie auch Thomas S. Kuhn, der in den1960er und 1970er Jahren Wissenschaftstheorie betrieb. Die Arbeiten von Kuhn wiederum waren u. a. inspiriert von Ludwik Fleck.Footnote 2

Aufbauend auf seinen ersten wissenschaftstheoretischen Schriften in den 1920er Jahren beschreibt Fleck in einer Monografie 1935 [1] anhand der Geschichte des Syphilisbegriffs und der Erforschung dieser Krankheit die Wissenschaft als Tätigkeit von Forschergemeinschaften: Erst für den Eingeweihten und denjenigen, der die praktischen Fähigkeiten dazu erworben hat, besteht die Möglichkeit des Beobachtens im wissenschaftlichen Sinn. Tataschen bzw. die Realität sind für Fleck also nichts, was sich unmittelbar darbietet, vielmehr entsteht das Wahrgenommene erst durch eine spezifische Beziehung desselben zum sogenannten Denkkollektiv. Gestaltsehen ist für ihn „reine Denkstilangelegenheit“. Sein Tatsachenbegriff enthält eine Nötigung, die er als „Denkzwang“ bezeichnet. Für ihn hat jegliche Einführung in ein Arbeitsgebiet deshalb eher den Charakter einer Indoktrination als den der Erweckung zum kritischen Denken ([1], S. 137). Darin unterscheide sich die Einführung in die Wissenschaft nicht von der Lehrlingszeit in den Gewerben, nicht von den Künsten, nicht von der Religion. Nicht nur im Verhältnis der Novizen und Lehrer, sondern auch unter Gleichrangigen bestünde ein intellektuelles Abhängigkeitsverhältnis. Dies sei konstitutiv für jedes Denkkollektiv und zeige sich als „Denksolidarität“ im Dienste einer „überpersönlichen Idee“ ([1], S. 140).

Diese Annahme lässt sich aus Flecks Tatsachenbegriff herleiten. Er beschreibt sie zudem als Prozess:

Die allgemeine Struktur des Denkkollektivs … bringt es mit sich, dass der intrakollektive Denkverkehr … zur Bestärkung der Denkgebilde führt: Vertrauen zu den Eingeweihten, deren Abhängigkeit von der öffentlichen Meinung, gedankliche Solidarität Gleichgesinnter, die im Dienste der selben Idee stehen, sind gleichgerichtete soziale Kräfte, die eine gemeinsame besondere Stimmung schaffen und den Denkgebilden Solidität und Stilgemäßheit in immer stärkerem Maße verleihen. ([1], S. 140)

So entstehen Meinungssysteme, die den Anspruch erheben, umfassend ihren Gegenstandsbereich zu erklären und eine Harmonie innerhalb des Systems garantieren, die zugleich eine Harmonie der Täuschungen ist, die im Bereich eines Denkstils nicht mehr aufzulösen ist ([1], S. 53).

Selbstverständlich beobachtet Fleck auch, wie sich Wissenschaft ungeachtet dessen weiterentwickelt. Denn es gibt durchaus auch innerhalb der speziellen Denkkollektive konkurrierende individuelle Orientierungen, schließlich gehören die Mitglieder zugleich auch anderen wissenschaftlichen oder nichtwissenschaftlichen Denkkollektiven an. Diese Differenzen zeigen Wirkung: „Jeder interkollektive Gedankenverkehr hat eine Veränderung der Denkwerte zur Folge … vom kleinen Färbungswechsel über fast vollständigen Sinnwechsel bis zur Vernichtung jedes Sinns“ [1], S. 143–144). Als vermittelnden Mechanismus erkennt Fleck die Sprache, die eben nicht nur Verstehen und Reproduktion ermöglicht, sondern regelmäßig auch Missverstehen. Dies kann den Dialog zum Erliegen bringen. Dem Missverstehen wohnt zugleich ein produktives Potenzial inne. Es kann den Denkzwang aufbrechen (mit den eben genannten Folgen), wenn im interkollektiven Verkehr andere Bedeutungsmöglichkeiten sichtbar werden.

Die Autorin Hustvedt würde wohl formulieren, dass die „Eingeborenen“ im Interesse des Fortschritts der Erkenntnisse von Zeit zu Zeit auch Fremde auf die eigene Insel lassen oder selbst zu neuen Ufern aufbrechen müssen, selbst wenn diese schon bewohnt sind.

Um produktives Missverstehen zu ermöglichen, bedarf es also der Differenzen. Um diese Differenzen herstellen und fixieren zu können, bedarf es der Denkzwänge und Denkstile von Denkkollektiven. Mithin würde eine einheitliche „Wissenschaft Gerontologie“ mit der theoretischen und methodischen Vielfalt der Disziplinen Differenzen aufgeben, die die Erkenntnisse über das Alter(n) als vielschichtiges Phänomen voranbringen können, sofern der zumindest interdisziplinäre Austausch tatsächlich gepflegt wird.

Im Übrigen entwarf Fleck seine konzeptionelle Vorstellung vom Denkkollektiv auch mit dem Ziel, externe Faktoren, die er „soziale Stimmungen“ nennt, mit den Motivationen und Fähigkeiten der Wissenschaftler zu verknüpfen. Er zeigte am Beispiel der Syphilis-Forschung, wie die Moralisierung dieser Krankheit als Katalysator der Forschung fungierte, während die Tuberkuloseforschung gemessen an Verbreitung und Schaden im Vergleich dazu weniger vehement verfolgt wurde. Das traditionelle Verständnis von Syphilis als „Lustseuche“ wirkte:

Mit erstaunlicher Beharrlichkeit probierte man also wie in keinem zweiten Falle alle möglichen Methoden aus, um die alte Idee des Syphilisblutes zu beweisen. ([1], S. 22)

Die Entdeckung der sogenannten Wassermann-Reaktion in diesem Prozess (1906) beschreibt Fleck als Geburtsstunde der Serologie. Ein Fortschritt also, mit dem bezüglich der Syphilis aber auch Verluste einhergingen:

Der Charakter des Syphilisbegriffs wandelte sich aus dem Mystischen über das Empirische und allgemein Pathogenetische zum hauptsächlich Ätiologischen, wobei man auch viele Einzelheiten der alten Lehre wieder verlor. So lernen und lehren wir heute sehr wenig oder nichts mehr über die Abhängigkeit der Syphilis vom Klima, der Jahreszeit und allgemeiner Konstitution der Kranken, während in alten Schriften noch viele diesbezügliche Beobachtungen zu finden sind. ([1], S.  29)

Hustvedt würde vielleicht fragen, welche Länder und Schätze vergessen würden oder verborgen blieben, wenn Alter(n)sforscher(innen) als „Eingeborene“ bisher getrennter „Inseln“ nun Kurs auf ein einziges Festland setzten. Mit anderen Worten: Wollen wir uns mit einer monolithischen Gerontologie intellektuell selbst beschränken? Wer will die Verantwortung auf sich nehmen, über den Kurs der Gerontologie zu entscheiden? Wollen wir diese Entscheidung unreflektiert wissenschaftsexternen Mechanismen überlassen? Die Beiträge des Schwerpunkts befassen sich, jeder auf seine Weise, mit den hier skizzierten Fragen und daran anschließenden Überlegungen.