Marjorie Warren, Sir Ferguson Anderson u. a. entwickelten Ende der 1930er und Anfang der 1940er Jahre in Großbritannien die Grundlagen der Geriatrie, indem sie zeigten, dass geriatrische Intervention auch „sieche“ und mehrfachkranke Ältere entgegen allen Erwartungen in einen besseren funktionellen Zustand bringen konnte. Warren identifizierte (Screening) 4 Geriatrische „Is“ (Immobilität, Instabilität, intellektuellen Abbau sowie Inkontinenz) und bewertete diese daraufhin mit Schätzverfahren (Assessment). Sie führte Krankenschwestern, Ärzte, Sozialarbeiter, Physio- und Ergotherapeuten (Team) zusammen. Sie schulte dieses Team („teaching“) darin, individuelle Behandlungsziele („targeting“) zu formulieren und einen dementsprechenden Behandlungsplan („planning“) umzusetzen. Sie nutzte als anerkannte Abdominalchirurgin auch die Nähe zu „ihrem“ Krankenhaus, dem Middlesex-Hospital in London, um die damals möglichen medizinischen Maßnahmen den ihr anvertrauten Älteren verfügbar zu machen.

Sie betonte aber auch den aktivierenden und therapeutischen „Impetus“, der erforderlich ist, um derartige Erfolge zu erzielen. Die 1946 in Lancet publizierten Ergebnisse fanden erhebliche Beachtung [1].

„Comprehensive geriatric assessment“

„To assess“ lässt sich mit „abwägen“, „einschätzen“ oder „bewerten“ nur unzureichend übersetzen. Es umschreibt in der Geriatrie wesentlich mehr, nämlich ein umfassendes Comprehensive geriatric assessment (CGA), das auf der von Warren entwickelten Systematik aufbaut [2]:

  • Vorgehen in mehreren Stufen,

  • gezielte persönliche und auch Fremdanamnese,

  • Einbezug einer Vielzahl an Domänen (Autonomie, Sensorium, psychische Verfassung, soziale Situation, Medikamenteneinnahme, Selbsthilfefähigkeit, Mobilität, Kraft, Balance, Ernährung, „frailty“, Schluckfähigkeit, Zahnstatus, Hilfsmittel, Spiritualiät, rechtliche Verfügungen, Fahrtüchtigkeit u.v.a.m.),

  • Einsatz von akzeptierten Messverfahren etablierter Testgüte, Evaluation/Verlaufsmessung und

  • – soweit man will – auch Kontrolle.

Im Jahr 1993 – fast ein halbes Jahrhundert später – konnte Stuck [3] in der Arbeitsgruppe um Rubinstein, Los Angeles, in einer Metaanalyse zeigen, dass Behandlungsprogramme eines CGA wirksam sind – ebenfalls in Lancet publiziert. Wie in den Anfängen der Geriatrie scheinen in erster Sichtweise Strukturen, die eng an ein Krankenhaus angebunden sind bzw. sich innerhalb eines Krankenhauses befinden („assessment units“ oder geriatrische Abklärungskliniken), eine stärkere Senkung der Pflegebedürftigkeit und Mortalität erreichen zu können als bloße Konsile, präventive Hausbesuchs- oder Überleitungsprogramme bzw. eine Ambulanz. Im Jahr 2011 bestätigte ein Cochrane-Review diese Ergebnisse im Wesentlichen [4].

Umfassendes Assessment im Sinne eines CGA funktioniert möglicherweise nur dann, wenn der geriatrischen Abklärung Maßnahmen folgen, die auch nachgehalten werden können. Evaluation und Outcome-Beschreibungen sind erforderlich. Offensichtlich fehlen Organisationsstrukturen und damit Daten, die die Wirksamkeit eines CGA in Settings wie Hausarztpraxis, Überleitungsprozessen aus dem Akutkrankenhaus u. a. darlegen könnten. Im Präventionsbereich ist auf die beiden sehr vielversprechenden Verbundprojekte Priscus und Longitudinal Urban Cohort Ageing Study (LUCAS; s. auch Publikationen in der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie) hinzuweisen.

Die Metaanalyse von Stuck überzeugte u. a. Kostenträger in Deutschland knapp 10 Jahre nach ihrer Publikation. Im Jahr 2004 wurden geriatrische Behandlungsprogramme in das Diagnosis-Related-Groups(DRG)-Fallpauschalensystem aufgenommen und damit deren Finanzierung im Akutkrankenhaus sichergestellt – unter strikt geregelten Bedingungen eines CGA nach Prinzipien, die denen von Warren sehr ähnlich sind.

Ein geriatrischer Patient gehört an den Platz, an dem er am besten aufgehoben ist und an dem ihm am besten geholfen werden kann. Dies klingt banal, stellt aber die größte Herausforderung an das Gesundheitssystem von heute dar (Selektion und Allokation).

Assessment beginnt mit Screening. Es ist nur sinnvoll, wenn ein Anhalt, ein „Anfangsverdacht“ für eine bestimmte funktionelle Einschränkung besteht. Das heißt, wenn tatsächlich ein bestimmter Anhalt für das Vorliegen einer Einschränkung besteht – und natürlich nur, wenn der Betreffende mit einem Screening einverstanden ist (Autonomie).

Beim geriatrischen Screening handelt es sich um eine kriteriengeleitete Sichtung oder „Vorerfassung“ derjenigen, die man daraufhin einem Assessmentprozess zuführen will. Assessment schätzt die spezifischen Fähigkeiten (Ressourcen) und Schwächen (auch Risiken und Störgrößen) ab. Es ist darüber hinaus ein Verfahren zur Nutzen-Risiko-Abwägung, wenn es um den Einsatz medizinischer Maßnahmen (Chemotherapie in der Onkologie, perioperatives Management), Versorgungs- und Pflegeplanung u.a.m. geht. Es sollen die Belastungsfähigkeit, die Möglichkeit zu selbstständiger Lebensführung und die individuelle Prognose abgestimmt werden.

Es ist daher erforderlich, dass funktionelle Fähigkeiten, Ressourcen oder Defizite auch in ihrem Schweregrad bestimmt werden. Dies soll die für das Alltagsleben notwendigen Belange hinreichend abbilden. Erforderlich sind standardisierte Messmethoden. Empfohlen werden aus Gründen der Vergleichbarkeit v. a. international verbreitete Verfahren, die zuverlässig sind, die die Situation möglichst objektiv erfassen, gleichzeitig bei Wiederholung der Untersuchung reproduzierbar korrekte Einschätzungen abgegeben und auch in der Hand verschiedener Untersucher zu den gleichen Ergebnissen führen.

Gleichzeitig sollen sie einen individuellen Verlauf korrekt darstellen, z. B. die Schweregradzunahme einer Demenzerkrankung. Und sie sollen definierte Testgütekriterien aufweisen, um auch in Gruppenvergleichen und wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzt werden zu können. Eine standardisierte Funktionsbewertung verbessert ebenfalls die Kommunikation mit kooperierenden Berufsgruppen, z. B. wenn sie interdisziplinär im geriatrischen Behandlungsteam eingesetzt werden.

Assessment dient insofern der Objektivierung, als vom Arzt oder Untersucher ebenso wie von dem betroffenen älteren Menschen selbst, z. B. die Funktionen des Gedächtnisses, der Stimmung und des Selbsthilfevermögens häufig abweichend wahrgenommen werden. Im Fall einer Demenz bagatellisiert der Betroffene oft. (Auch das Gegenteil ist möglich, nämlich unnötige Angst vor Demenz.) Wichtig ist aber ebenso die Tatsache, dass mit Assessment übersehende Problemlagen aufgedeckt werden, die ansonsten gar nicht wahrgenommen würden, z. B. depressive Störungen [5, 6].

Warren u. a. begründeten die beschriebene Systematik. Jetzt folgen zu den oben genannten Gesichtspunkten aktuelle Beiträge:

Screening in der Notaufnahme

Der erste Beitrag von Thiem et al., Bochum, mit dem Titel „Instruments to identify patients with geriatric care needs in the emergency department“ zur „identification of seniors at risk“ (ISAR) in diesem Heft befasst sich mit einigen für das Krankenhaus künftig wichtigsten Fragen: Wie können geriatrische Patienten bereits in der Notaufnahme identifiziert werden (Screening)? Wie kann sich ein gezieltes Assessment anschließen? Wie kann daraufhin eine Fallsteuerung organisiert werden? Die Evidenz ist noch sehr spärlich, der Forschungsbedarf sehr groß – und das Verdienst, dieses Thema auf der Basis der augenblicklich am besten verfügbaren Evidenz darzustellen, umso größer.

Assessment interkulturell

Der zweite Beitrag von Strotzka, Wien, zu „Kognitives Assessment für Migranten“ berührt Fragen der Akzeptanz, der Kommunikation und des interkulturellen Einsatzes von Assessment. Sehr anschaulich und auf die Praxis bezogen, wird dargestellt, wie sprachbezogene Inhalte auch jenseits der Muttersprache zuverlässig erfasst und gemessen werden können. Exemplarisch kann hier nachvollzogen werden, wie – und mit welcher Kreativität – neue Tools enwickelt werden und wie diese dann hinsichtlich ihrer Testgüte einzuschätzen sind.

Assoziation von Mobilität, Kognition und Sturzrisiko

Die Inhalte des dritten Beitrags von Bridenbaugh et al. mit dem Titel „Motor cognitive dual tasking: early detection of gait impairment, fall risk and cognitive decline“ wurden im deutschen Sprachraum eher in der Laienpresse unter dem Motto „stops walking when talking“ bekannt als in einem wissenschaftlichen Organ. Es ist höchste Zeit, dass die international hochrangig publizierten Ergebnisse der Arbeitsgruppe um Kressig, Basel, nun auch in einem deutschen wissenschaftlichen, geriatrischen Organ bekannt gemacht werden. Die Stufen des Assessments werden klar, z. B. das Identifizieren (Screening) exekutiver Funktionen im Uhrentest, die Messung der Gehgeschwindigkeit – und die darauffolgende, eingehende neuropsychologische Untersuchung bzw. die quantitative Ganganalyse. Die damit gut zu untersuchende Gangvariabilität entpuppt sich als zuverlässiger Prädiktor für spätere kognitive Einschränkungen. Kaum ein anderes Assessment besitzt eine derartige prädiktive Wertigkeit wie dieses, obwohl gerade vom Assessment individuelle Prognosen erwartet werden.

Wir wünschen nicht nur viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie. Gleichzeitig möchten wir auf das Folgeheft Assessment II aufmerksam machen, Darin werden die vernachlässigten oberen Extremitäten abgehandelt (ein „timed up and go“ für die Finger), transkulturelle Gesichtspunkte (kognitives Assessment für Migranten), der Impetus des Assessments [Resident Assessment Instrument (RAI) in der Schweiz] und Assessment in der Onkologie („head to head comparison of established assessments“).

Ihre

W. Hofmann

U. Sommeregger

S. Krupp

Interessenkonflikt

W. Hofmann, U. Sommeregger und S. Krupp geben an, dass kein Interessenkonflikt vorliegt.