Der Kanon psychologischer Interventions- und Therapietechniken erfährt aktuell eine rapide Erweiterung, die auch Settings (z. B. Abendkliniken) oder Rahmenvariablen (z. B. Großgruppentherapie) umfasst. Insbesondere werden zunehmend mehr störungsspezifische (z. B. Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy, CBASP, bei chronischer Depression) oder zunächst störungsspezifische Therapieansätze (dialektisch-behaviorale Therapie bei Borderline-Persönlichkeitsstörung) vorgestellt, die vielfach auch in manualisierter Form vorliegen. Dass die in der Diskussion um Therapieverfahren zwischen 1980 und 2000 zentrale Frage der Indikation in jüngerer Zeit etwas leiser gestellt wurde, mag dieser Entwicklung zuzuschreiben sein, aber auch der Tatsache, dass der Indikationsbegriff nahezu ausschließlich im deutschen Sprachraum und weniger in der angloamerikanisch geprägten Forschungs- und Publikationskultur gebräuchlich ist.

Die Beiträge der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift Psychotherapeut verweisen auf die Aktualität und die Relevanz der Indikationsfrage. Indikationsentscheidungen müssen im Einzelfall zu verschiedensten Zeitpunkten eines hypothetischen Therapieverlaufs und zu den verschiedensten Verfahrensfragen (z. B. Auswahl von Therapiezielen, Behandlungssettings, Methodenkombinationen und -modifikationen) getroffen werden, die mit den eingeführten Konzepten der selektiven, differenziellen und adaptiven Indikation bezeichnet werden. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist für diese Indikationsentscheidungen bei Weitem nicht nur die psychiatrische Diagnose leitend.

Der Indikationsprozess beginnt stets mit dem Anliegen eines hilfesuchenden Menschen. In dieser Situation stellt sich zunächst die genuin selektive Indikationsfrage, ob im individuellen Fall überhaupt eine Psychotherapie angezeigt ist. Auch wenn dies verneint wird, können präventive oder andere therapeutische Interventionsmöglichkeiten empfohlen werden, die bisweilen in der medizinischen Primärversorgung übersehen werden. In dem Beitrag von Michael Linden werden zentrale Konzepte der Beratung vorgestellt, einer phänomenologisch ähnlichen Situation helfender professioneller Interaktion, und von Psychotherapie abgegrenzt.

Auch innerhalb des psychiatrisch-psychosomatischen Versorgungssystems ist im Fall der Notwendigkeit von Behandlung keineswegs zwingend eine Psychotherapie angezeigt. Trotz der beeindruckenden jüngsten Entwicklung der psychotherapeutischen Behandlungsoptionen ist die Psychopharmakotherapie bei verschiedenen Störungsbildern nach wie vor die vorrangige Behandlungsmethode. Da die (Psycho-)Therapieforschung einen der Methodenentwicklung parallelen Fortschritt genommen hat, können diagnosengeleitete Indikationsentscheidungen mittlerweile an Befunden aus Metaanalysen verankert werden, in die Tausende von Behandlungsverläufen eingegangen sind und die die Entwicklung evidenzbasierter Leitlinien der Behandlung ermöglicht haben. Die Arbeit von Jürgen Brunner gibt einen umfassenden Überblick über metaanalytische Befunde zur Wirksamkeit von Psychotherapie, Pharmakotherapie und Kombinationstherapie psychischer Störungen und die Ableitung von Indikationsstellungen innerhalb von Leitlinien. Es wird aber auch aufgezeigt, dass Leitlinien im individuellen Behandlungsfall nur eine „Blaupause“ für Indikationsentscheidungen liefern und im Sinne einer adaptiven Indiktion nicht selten Anpassungen vorgenommen werden müssen, die auch von anderen Patientenmerkmalen als jenem der Störungsdiagnose beeinflusst werden.

Ist die Entscheidung für eine Psychotherapie gefallen, so ist in der nun bestehenden differenziellen Indikationssituation etwa auch zu beachten, ob Patienten durch ihre psychotherapeutische Behandlung primär „Verstehensziele“ (etwa der Selbsterkenntnis oder motivationalen Klärung im Sinne von Grawe) oder Veränderungsziele (wie etwa eine Verbesserung der Selbstregulation) erreichen wollen. Eine Antwort auf diese Frage dürfte zu einer ersten Indikationsentscheidung für tiefenpsychologische bzw. psychoanalytische Verfahren vs. Verhaltenstherapie beitragen. Peter Kropp und Bianca Meyer grenzen die beiden großen psychotherapeutischen Schulen im Hinblick auf Vorgehen und Wirkungen voneinander ab und zeigen die Vielfalt der innerhalb eines verhaltenstherapeutischen Ansatzes weiterhin anfallenden differenziellen Indikationsentscheidungen auf.

Im Rahmen seiner ideengeschichtlich inspirierten Betrachtung der Indikation zur Psychoanalyse erläutert Paul L. Janssen zunächst Eignung, Analysierbarkeit und Zugänglichkeit als Patientenmerkmale, die die selektive Indikationsentscheidung leiten, und diskutiert neuere differenzielle Indikationsfragen, die Modifikationen von Setting (sitzende vs. liegende Haltung), Frequenz, Dauer und Technik betreffen. Auch wird die Bedeutung der Fremdfinanzierung von Psychotherapie für die Indikationsstellung erörtert.

Betrachtet man mit Gerd Rudolf die Störungsätiologie als wesentliches Leitkriterium der differenziellen Indikation psychodynamischer Psychotherapien, so öffnet sich der Blick ebenfalls auf relative Kontraindikationen auch theoretisch „benachbarter“ Behandlungsverfahren. Wie Rudolf aufzeigt, führt ein bei neurotisch-konfliktbedingten Störungen übliches und angemessenes aufdeckendes Vorgehen bei Patienten mit strukturellen Störungen regelhaft zu Behandlungsschwierigkeiten. Neue Möglichkeiten der Diagnostik indikationsleitender Patientenmerkmale für die strukturbezogene Therapie werden illustriert.

Für die Gruppenpsychotherapie werden einige weitere Gesichtspunkte jenseits individueller Patientenmerkmale bei der Indikationsstellung relevant, zu denen etwa die Gruppenform (z. B. geschlossen vs. halboffen) und die Gruppenzusammensetzung (z. B. störungshomogen oder -heterogen) zählen. Harald J. Freyberger zeichnet die Entwicklung gruppentherapeutischer Angebote aus dem Konzept der therapeutischen Gemeinschaft historisch nach, zeigt die Bedeutung von Forschungsbefunden zu patientenseitigen „Risikofaktoren“ für therapeutische Gruppen auf, die als relative Kontraindikationen angesehen werden können, und hebt die Kontextabhängigkeit der Indikation zur Gruppenpsychotherapie im ambulanten vs. stationären/teilstationären Setting hervor. Thomas Klauer und Wolfgang Schneider zeigen schließlich, dass die initiale Psychotherapiemotivation zunächst ein grobes und nur für bestimmte diagnostische Gruppen und Behandlungssettings valides selektives Indikationskriterium darstellt. Fasst man die Behandlungsmotivation als facettenreiches, dynamisches Geschehen auf, richtet sich der Blick im Sinne adaptiver Indikationsentscheidungen auf die Integration motivationsfördernder Techniken in laufende Therapieprozesse. Neue Theorieentwicklungen zur Therapiemotivation werfen neue Fragen zu Indikationsentscheidungen auf, die die Aktualität unseres Schwerpunktthemas unterstreichen.