Der Begriff der personalisierten oder individualisierten Medizin existiert schon seit über 50 Jahren und hat in der Medizin unterschiedlichste Bedeutungen und Erwartungen: Zum einem soll die Erhöhung der Genauigkeit von Krankheitsdiagnosen und -prognosen und eine treffsichere Früherkennung von Risikopersonen und Krankheiten erreicht werden. Außerdem soll eine gezielte Auswahl derjenigen Therapieoptionen möglich sein, die für den jeweiligen Patienten bzw. Krankheitstyp mit höherer Wahrscheinlichkeit wirksam ist. Dabei kann es sich beispielsweise im Rahmen der „Regenerativen Medizin“ um Transplantate aus patienteneigenem Zellmaterial oder um individuell gefertigte Implantate handeln.

Ergebnisse in der Hüftendoprothetik ergeben Zufriedenheitswerte von über 90 %

In Deutschland und anderen westlichen Industrienationen ist Individualität und individualisiertes Denken ein positiv besetzter Begriff und Ziel des gesellschaftlichen Konsens. Die Betonung individueller Unterschiede ist gerade in diesen Gesellschaften extrem attraktiv und verleitet in sämtlichen Denk- und Handlungsstrukturen zu Sichtweisen, die eher Unterschiede als Gemeinsamkeiten aufzeigen. Soziologisch betrachtet ist diese Sichtweise in anderen Kulturen komplett anders. Indizierte Individualismusvergleiche zeigen hier auf, dass südamerikanische und asiatische Kulturen viel kollektivistischer denken [2].

Dieser kulturelle Aspekt in Deutschland bietet die Gefahr, dass die Entwicklung der individualisierten Medizin nicht nur wissensbasiert getragen wird, sondern anderen Prinzipien folgt. So erscheint die personalisierte und individualisierte Medizin vielfach eher als Floskel und Ausdruck einer PR-Strategie, denn als wirksamer Medizinfortschritt. Dazu passt der Fakt, dass sich die jährlichen Medikamentenzulassungen seit den 1990er-Jahren fast halbiert haben. Ein Blick in die medizinische Laienpresse und medizinische Laieninformation zeigt ebenfalls den enormen Missbrauch der Begrifflichkeit aus Marketinggründen.

In der orthopädischen Medizin konnte der individuelle Gelenkersatz seit 1985 zunächst in der Hüftendoprothetik beobachtet werden. In der sich neben der zementierten Endoprothetik entwickelnden unzementierten Hüftendoprothetik ergab sich zwangsläufig die Logik, dass eine exakte Fräsanpassung des Hüftschaftes an die doch individuell etwas unterschiedliche Knochenanatomie möglicherweise Vorteile bringen könnte. Die Arbeiten von Morreton 1986 [3], Starker 1994 [5] und Aldinger 2001 [1] repräsentieren eine Ära des individualisierten Gelenkersatzes, der sich allerdings in der damaligen Form nicht durchgesetzt hat. Diese Verfahren haben heute einen besonderen Wert bei der Behandlung extremer Deformierungen. Im Alltag werden heute standardisierte Implantate verwendet, die durch unterschiedliche Größen und Winkel eine individuelle Anpassung an die Patientenanatomie ermöglichen. Die Ergebnisse in der Hüftendoprothetik sprechen für sich: je nach Datenbasis ergeben sich neben guter Dauerhaltbarkeit von Hüftprothesen auch Zufriedenheitswerte über 90 %.

Diese Zufriedenheit spiegelt sich jedoch nicht in der Knieendoprothetik [4] wider, obwohl auch hier Zufriedenheitsraten über 80 % angegeben werden. Mit Unzufriedenheit werden viele Aspekte verknüpft, etwa Übergewicht, Sekundärerkrankungen und Ausgangspathologie. Mangelnde Präzision wurde über eine Dekade als Ursache angenommen und mit Navigationshilfen eliminiert, aber sie blieb ohne wesentliche Auswirkung auf die Patientenzufriedenheit. Der Kern des Gesamtproblems liegt in der Erkenntnis, dass die Unzufriedenheit der Patienten nicht exakt vorhergesagt werden kann. Bei der nüchternen Betrachtung von physiologischen und anatomischen Aspekten in der Behandlung von Gelenkerkrankungen an Knie und Hüfte muss überlegt werden, wo der entscheidende Unterschied zwischen der Knie- und Hüftendoprothetik liegt.

Diese Ausgabe von Der Orthopäde konzentriert sich nun auf Konzepte und Sichtweisen, die mögliche Erklärungen für unzufriedene Patienten ergeben. So wird über den Zustand des gegenwärtig Erreichten reflektiert. Möglicherweise stimmen unsere gegenwärtigen anatomischen Orientierungspunkte (landmarks) nicht für alle Patienten. Dieses Problem wird mit dem Prinzip des kinematischen Alignements reduziert. Gleichzeitig ist das notwendige Niveau der Präzision immer noch nicht geklärt und möglicherweise durch individuelle Prothesen doch noch zur Verbesserung der Patientenzufriedenheit zu nutzen.

Diese Ausgabe von Der Orthopäde soll die möglichen Wege der Zukunft aufzeigen. Eine besondere Hilfestellung wollen die Herausgeber jedoch in einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Begriff der Individualität geben. Jenseits aller Marketingaspekte werden hier die Fakten dargestellt, die die Optionen, aber auch Gefahren der Verfahren beschreiben.

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Henning Windhagen

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Christina Stukenborg-Colsman