Am 01.05.2013 trat, nachdem es am 26.10.2012 verabschiedet worden war, das „Gesetz zur psychischen Gesundheit der Volksrepublik China“ in Kraft. Vorausgegangen war ein 27 Jahre währender „Langer Marsch“ zur Schaffung dieses ersten Psychiatriegesetzes (im Folgenden „das Gesetz“) in der Geschichte der VR China. Unzählige Entwürfe waren vor der Verabschiedung durch das Gesundheitsministerium und dann durch das Ständige Komitee des Nationalen Volkskongresses formuliert worden. Seit seiner Einführung 2013 ist das Gesetz im Allgemeinen gut umgesetzt worden. Psychische Gesundheit hat jetzt einen höheren Stellenwert in China, und enorme Fortschritte sind auf dem Gebiet der Fürsorge und der Wahrung der Menschenrechte psychisch Kranker erzielt worden. Aber es bleibt noch viel zu tun, bevor all die im Gesetz formulierten Ziele erreicht sind.

Anliegen unseres Referats ist, nicht nur eine konzentrierte Information über Entwicklung, Inhalt und Folgen dieses modernen Gesetzes zu vermitteln, sondern auch einen Überblick über das System der Versorgung psychisch Kranker in der VR China, dem bevölkerungsreichsten Staat der Erde, zu geben. Weil dieses Gesetz auch ein sehr modernes ist, das außer den Regeln zur Aufnahme und zur Entlassung aus dem Krankenhaus auch Bestimmungen zum Schutz der Kranken, ihrer Selbstbestimmungsrechte und ihrer Privatsphäre enthält, werden wir zuerst die Entwicklung der Versorgung psychisch Kranker in der VR China skizzieren.

Geschichte und Gegenwart der psychiatrischen Versorgung in China

Vorgeschichte

China ist die meiste Zeit politisch und kulturell einheitlich gewesen. Die kulturelle Hauptströmung ist der Konfuzianismus, der die Chinesen seit etwa 2500 Jahren beherrscht. Am 27.09.2016 war der 2567. Geburtstag Konfuzius’. Buddhismus und Taoismus existierten parallel oder als Gegner von Konfuzianismus. Auf dem Gebiet des Gesundheitswesens ist die Situation anders. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab es keine Krankenhäuser oder andere medizinische Institutionen in China. Am 28.02.1898 gründete der amerikanische Pfarrer John Kerr das erste chinesische Krankenhaus in Guangzhou. Der Name dieses Krankenhauses lautete auf Englisch „John G. Kerr Refuge for the Insane“. Das chinesische Wort ′(dian) im chinesischen Namen des Krankenhauses war aus dem Wortschatz für Verrücktheit in der chinesischen Sprache entnommen.

Die frühesten Krankenhäuser Chinas, einschließlich der psychiatrischen Kliniken der Krankenhäuser, waren von westlichen Kirchen gegründet worden. Die Chinesen haben die westliche Medizin langsam angenommen, aber die traditionelle chinesische Medizin (TCM) nicht verlassen, sondern meist als Alternative weiterhin beibehalten. Deren philosophische Grundlage ist hauptsächlich der Taoismus. Die Volksmedizin mit ihren wachsenden Kenntnissen von Heilpflanzen und natürlichen Heilmitteln ist eine Grundlage der TCM geblieben, die vorwiegend alternativ, aber auch kombiniert zur Anwendung kommen kann.

Bis 1949, als die VR China begründet wurde, gab es nur 1000 psychiatrische Betten und etwa 100 Ärzte für 400 Mio. Chinesen. In der ersten Zeit der Volksrepublik bis 1958 gab es keinen Fortschritt auf dem Gebiet der psychiatrischen Versorgung. 1958 kam es zu einer kurzen Hochkonjunktur für Psychiatrie, weil die Regierung in dieser Zeit viele psychiatrische Krankenhäuser in den meisten Provinzhauptstädten nach dem Modell der Sowjetunion aufgebaut hat, um die psychisch schwer gestörten Patienten, einschließlich vieler kranker Veteranen aus dem Korea-Krieg, zu behandeln. Diese Anstalten sind meist bis heute noch die größten psychiatrischen Krankenhäuser in China.

Von 1958 bis 1978 wurden kaum neue psychiatrische Einrichtungen eröffnet. Die Psychologie, einschließlich der Psychoanalyse, wurde als Pseudowissenschaft abgeschafft, und von Psychotherapie durfte man nicht sprechen. Von 1949 bis 1979 wurden die Universitäten und auch alle anderen medizinischen Einrichtungen verstaatlicht.

Auf dem Land trugen die Kommunen als Verwaltungseinheiten alle Funktionsbereiche des Gesundheitswesens. Diese meist kleinen Kliniken hatten keine psychiatrischen Abteilungen. Auf dem Land erfolgte die Versorgung durch „Barfußdoktoren“, die nur eine kurze medizinische Ausbildung genossen hatten. Psychische Probleme wurden durch unterschiedliche Behandlungsverfahren versorgt, etwa durch Heilpflanzen, die von eingeborenen Heilern nicht immer mit gleicher Indikation angewandt wurden.

Zu den psychologischen Behandlungsmethoden zählte die magische oder suggestive Beeinflussung der Kranken. Am weitesten im ganzen Land verbreitet war die Technik der Akupunktur, die schon in frühen Zeiten auch von westlichen Ländern übernommen und durch in dieser Methode ausgebildete Ärzte verbreitet wurde.

Eine Ungleichheit in der psychiatrischen Versorgung war in den Großstädten gegenüber den ländlichen Regionen durch ein der westlichen Medizin ähnliches, wenn auch mit Unterversorgung der ärmeren Bevölkerung belastetes Gesundheitswesen gegeben. Seit 1979 hat eine Eröffnungs- und Reformpolitik China völlig verändert. Die medizinische Versorgung wurde modernisiert, wobei die Psychiatrie, weil sie nicht prioritär eingeordnet war, vernachlässigt wurde. Die Ausbildung der Ärzte im Fach Psychiatrie war zunächst auf die modernsten Universitätskliniken konzentriert, die zum Teil als Partnereinrichtungen zu westlichen Universitäten aufgebaut worden waren. So in Beijing, Shanghai, Chengdu, Changsha und Nanking.

Die Staatsführung strebte mehrheitlich die Entwicklung der westlichen Medizin an und förderte die akademische Ausbildung von Ärzten an den Universitäten. Die gleiche Politik wurde in den naturwissenschaftlichen Fächern verfolgt, was dazu führte, dass die Universitäten der VR China in der internationalen physikochemischen, biologischen und in der Genomforschung Spitzenleistungen erbringen konnten. Die rasche Entwicklung von Wissenschaft, Wirtschaft und Heilkunde war vor 1976 undenkbar, insbesondere in der Zeit der Kulturrevolution von 1966 bis 1976, in der die Wissenschaften stagnierten und zahlreiche Studenten und Professoren zur Landarbeit geschickt wurden. Für rund 10 Jahre wurde der Fortgang eines geregelten Lehrbetriebs unterbrochen. In dieser Zeitspanne wurden von den Universitäten keine qualifizierten Ärzte mehr ausgebildet. Durch die in dieser Zeit durchgeführte Erziehungsreform wurde die Aufnahme zum Medizinstudium auch ohne Vorauswahl ermöglicht und das Studium auf etwa drei Jahre verkürzt. Die natürliche Folge davon war, dass der Nachwuchs an qualifizierten Ärzten ausblieb. Deshalb mussten große Anstrengungen unternommen werden, um die Ausbildung qualifizierter Ärzte wieder aufzubauen. Auch nichtakademische Gesundheitsarbeiter, die nur ein Viertel- oder ein halbes Jahr medizinisches Training erhalten hatten, erhielten eine medizinische Weiterbildung und wurden so für den Aufbau einer modernen Medizin besser gerüstet.

Die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung blieb zunächst bei den Kommunen, doch die sachlichen und materiellen Voraussetzungen waren häufig unzureichend. Es war auch nicht kurzfristig möglich, eine große Zahl der Gesundheitsarbeiter, die aus Laien mit relativ kurzem Training ausgebildet worden waren, für eine qualitativ ausreichende Versorgung der gesamten Bevölkerung einzusetzen. Als Heilmittel standen im Wesentlichen noch die TCM mit Akupunktur verschiedener Art und Lokalisation und Heilpflanzen in den peripheren Regionen des Landes zur Verfügung. Ein nach westlichem Muster organisiertes Gesundheitssystem existierte nur punktuell, so in einigen Großstädten, in denen eine Universität mit medizinischer Fakultät oder eine unabhängige medizinische Schule betrieben wurde. Ansonsten standen noch einige psychiatrische Großkrankenhäuser alten Stils zur Verfügung, die nach dem Plan von 1958 aufgebaut worden waren.

Die psychologischen Behandlungsmethoden wurden zwar inoffiziell immer betrieben, waren aber offiziell verboten oder wurden unterdrückt. Bis 1978 als Pseudowissenschaft eingestuft, waren sie als akademische Disziplin abgeschafft worden. Erst ab 1979 durfte man allmählich wieder von Psychotherapie offen sprechen und diese in klinischer Arbeit anwenden. Mitte der 1980er Jahre durften sich die Krankenhäuser die Psychotherapie von Patienten bezahlen lassen. Der Preis war allerdings unglaublich niedrig, sodass der Therapeut davon nicht leben konnte. Seither haben sich die Zahl der von den Behörden genehmigten Psychotherapieformen und das Tarifsystem weiterentwickelt. Auch an den Universitäten wurde die Psychologie ab 1979 wieder als Fach gelehrt, hat aber bis vor kurzem nur wenig Interesse bei den Studierenden gefunden. Die an medizinischen Einrichtungen tätigen Psychologen erfahren noch nicht die notwendige Wertschätzung ihrer Arbeit. In geringerem Maße, aber auf gleiche Weise gilt dies auch für die Position der Psychiatrie innerhalb der medizinischen Fakultäten unter den traditionellen Fächern der Medizin.

In den unterversorgten und in den großstädtischen Regionen erfolgte zugleich der Ausbau der medizinischen Fakultäten an den Universitäten und medizinischer Schulen für die Heranbildung des nichtakademischen medizinischen Personals. Landesweit wurden hygienische und Vorsorgemaßnahmen eingeführt, etwa das Verbot von Alkohol.

Ein ähnliches Schicksal wie die Psychologie erfuhr die psychosomatische Medizin. Seit Ende 1979 konnte man offen darüber sprechen. Seit etwa 1980 ist sie als klinisches Versorgungsmodell vorhanden. Sie wird in allen Lehrbüchern von Psychiatrie und medizinischer Psychologie beschrieben und positiv bewertet. Die Nationale Kommission für Gesundheit und Familienplanung (vor 2014 hieß sie Gesundheitsministerium) hat jedoch den Namen psychosomatische Medizin noch nicht offiziell angenommen. Seit 1994 werden die Abteilungen, die psychosomatische Medizin praktizieren, als Abteilungen für klinische Psychologie bezeichnet. Eine selbstständige psychosomatische Klinik gibt es bis heute nicht. Die psychosomatische Medizin ist auch keine selbstständige Disziplin, sondern eine Teildisziplin der Psychiatrie wie in den meisten westlichen Ländern.

Die Reform der nationalen psychiatrischen Versorgung mit dem Übergang von desolaten Großkrankenhäusern auf psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern begann in Kunming, der Hauptstadt der Yunnan-Provinz, in den 1980er Jahren. Dort führte der Autor zusammen mit vier Kollegen die erste offene psychiatrische Abteilung ein, in der Psychosomatik praktiziert wurde.

In einer 2015 realisierten Analyse des Gesundheitssystems der VR China stellte die Zentralregierung in Peking fest, dass die Entwicklung der medizinischen Versorgung der chinesischen Bevölkerung ungleich verlaufen sei. Deutlich rückständig seien noch die beiden Disziplinen Psychiatrie und Kinderheilkunde. Der Grund für die Rückständigkeit in der Versorgung psychisch Kranker sei, dass dieser Bereich des Gesundheitssystems, einschließlich der psychosomatischen Medizin, bei den Gesundheitsinvestitionen der Vergangenheit zu wenig berücksichtigt worden war. Die Psychotherapie sei erst mit der Kulturphase des „Neuen Marsches nach vorne“ ab 1985 zur Ausbildung und als medizinisches Behandlungsverfahren zugelassen worden.

Einen Hinweis auf den international diskutierten systematischen Missbrauch der Psychiatrie, für welche Zwecke auch immer, gibt es in China nicht. Grund hierfür ist wahrscheinlich der lange Zeit geringe Stellenwert des Faches.

Gegenwärtige psychiatrische Gesundheitsversorgung

Der gegenwärtige Entwicklungsstand der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung gliedert sich in sechs Teilbereiche:

Psychiatrische Krankenhäuser oder psychiatrische Versorgungszentren.

In diese Kategorie fallen die psychiatrischen Fachkrankenhäuser, einige davon mit Pflegeeinrichtungen für schwer psychotisch Kranke. In ihrem Behandlungsregime verfolgen sie hauptsächlich ein „biologisch-medizinisches Modell“. Die stationäre Behandlung erfolgt in der Regel auf geschlossenen Stationen. Das bedeutet, dass auch in der VR China wie einstmals in Deutschland und in vielen anderen Staaten dieser Welt die stationäre Behandlung psychisch Kranker nur geschlossen durchgeführt wird, was außer einem radikalen Freiheitsentzug auch eine Isolierung der Kranken von ihren Angehörigen und von der gesunden Gesellschaft zur Folge hatte.

Psychiatrische oder psychosomatische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern.

Psychiatrische oder psychosomatische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern wie in Großbritannien und großenteils auch in Deutschland existieren hauptsächlich an großen Allgemeinkrankenhäusern und Universitätskliniken. Sie sind, verglichen mit den nichtakademischen psychiatrischen Krankenhäusern, von großer Bedeutung für Aus- und Weiterbildung von Psychiatern, in ihrer Kapazität jedoch begrenzt. Psychiater, die an den großen Allgemeinkrankenhäusern tätig sind, haben derzeit mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, weil die Haupteinnahmen der Krankenhäuser noch aus dem Verkauf von Medikamenten, Medizinbedarf und Laboruntersuchungen erwirtschaftet werden, eine Situation, die ursprünglich auch in europäischen Ländern anzutreffen war. Die gemeinsame Unterbringung psychiatrischer Abteilungen mit Abteilungen anderer medizinischer Disziplinen, wie dies in den großen Allgemeinkrankenhäusern gewährleistet ist, wird auch in der VR China als wesentlicher Vorteil für das Fachgebiet gesehen, zumal die Alterung der Gesellschaft in China rascher verläuft als in vielen Ländern mit hohen Geburtenraten. Es steht auch eine ökonomische Entflechtung aus, denn die Finanzierung medizinischer Leistungen und ärztlicher Tätigkeiten durch die Einnahmen aus Laboruntersuchungen und dergleichen ist keine vertretbare Dauerlösung.

Rehabilitationseinrichtungen.

Es existieren Rehabilitationseinrichtungen oder quasimedizinische Einrichtungen wie Pflegeheime für Behinderte und chronisch Kranke.

Amtlich zugelassenen Privatpraxen.

Derzeit gibt es nur wenige psychiatrische Privatpraxen, weil die meisten Psychiater die Tätigkeit an staatlichen Kliniken oder Großkrankenhäuern vorziehen. Gründe sind die Unsicherheit der privaten Tätigkeit und der daran gebundenen Wirtschaftlichkeit und die Karriereaussichten. Die Anzahl zugelassener Privatpraxen ist ausschließlich in großstädtischen Siedlungen deutlich angestiegen. Sie werden häufig von Ausländern konsultiert und bieten dafür eine westlich orientierte Medizin. Die Einkommensverhältnisse der Inhaber von Privatpraxen sind stark unterschiedlich. Zum Teil fordern sie, angeschlossen an die international üblichen Bräuche, deutlich höhere Honorare als die vom Staat getragenen ambulanten psychiatrischen Einrichtungen, was die Atmosphäre der Kollegialität belastet.

Ambulante psychologische Beratung.

An Universitäten, aber auch an Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen und an Krankenhäusern wird seit der Rückkehr der Psychologie in die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ambulante psychologische Beratung vor allem bei Lebensproblemen angeboten. Diese psychologischen Beratungsdienste verfügen jedoch nicht über psychiatrisches Fachpersonal. Diese Beratung ähnelt dem, was in den Vereinigten Staaten „counseling“ (oder „coaching“) genannt wird. Sie gewährt Unterstützung und Hilfe in kritischen Lebenssituationen oder bei der Bewältigung schwieriger neuer Aufgaben.

Private Beratungspraxen.

Ähnlich wie die ambulanten ärztlichen Berufe können auch die psychologischen Berater berechtigt werden, „private Beratungspraxen“ zu eröffnen, was in China seit dem Inkrafttreten des Psychiatriegesetzes eine neue berufliche Tätigkeit darstellt. Die Mitarbeiter solcher Beratungspraxen sind nicht im öffentlichen Dienst tätig.

In Abb. 1 ist für die Jahre 2006 und 2010 die Anzahl psychiatrischer Krankenhäuser, psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern sowie von Rehabilitationseinrichtungen und ambulanten Diensten dargestellt. Das Bild lässt im Bereich ambulanter Dienste eine deutliche Unterversorgung erkennen.

Abb. 1
figure 1

Anzahl psychiatrischer Versorgungseinrichtungen und -dienste in China. (Mit freundl. Genehmigung von Fude Yang)

Die Beratungsangebote durch Laien und nichtpsychiatrische Berufe wie Psychologen und Sozialarbeiter haben dazu geführt, dass diese immer energischer fordern, auch psychische Störungen behandeln zu dürfen. Bisher sind Psychologen und Beratungspersonen, wie erwähnt, auf die Beratung im Falle von Lebenskrisen beschränkt. Psychiatrische Diagnostik und Therapie ist ihnen nicht erlaubt. Das nachstehend referierte Psychiatriegesetz hat ihrer Forderung keinen Raum gegeben. Es gewährt Beratern und Psychologen auch nicht das Recht, an medizinischen Einrichtungen psychotherapeutisch zu wirken. Das Gesetz sieht vor, dass diese Berufe außerhalb medizinischer Dienste und Einrichtungen tätig werden und zur Förderung des psychischen Wohlbefindens der Bevölkerung beitragen sollen, was im „Artikel 23“ des Gesetzes mit den folgenden Worten zum Ausdruck gebracht wird:

Die Aufgabe psychologischer Berater ist es, der Bevölkerung professionelle psychologische Beratung anzubieten. Sie sind verpflichtet, sich fachlich weiterzubilden und allgemeine Qualitätsstandards einzuhalten. Psychologische Berater dürfen weder psychische Störungen psychotherapeutisch behandeln, noch auf dem Gebiet der Diagnostik und der Behandlung psychischer Störungen tätig werden. Wenn ein psychologischer Berater bei einem Klienten eine psychische Störung vermutet, so ist er angehalten, dieser Person zu raten, sich zur Behandlung in eine medizinische Einrichtung zu begeben [1].

Eine bedeutsame Bestimmung im neuen Psychiatriegesetz der VR China ist, dass auch die psychologischen Berater die Privatsphäre ihrer Klienten zu respektieren haben und an die Schweigepflicht gebunden sind.

Leistungsmerkmale der psychiatrischen Versorgungsdienste

Chinas psychiatrisches Versorgungssystem ist in den Grundlinien seiner Weiterentwicklung durch viele Gemeinsamkeiten, aber auch deutliche Unterschiede gegenüber den psychiatrischen Versorgungssystemen westlicher Länder, insbesondere Deutschlands, gekennzeichnet. Was die naturwissenschaftlichen Grundlagen moderner Medizin und die technischen und apparativen Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie angeht, angefangen von neurophysiologischen Untersuchungsmethoden bis zu den modernsten Techniken kranialer Computertomographie und morphologischer und funktioneller Magnetresonanztomographie, ist die Medizin auch in den psychiatrischen Zentren der VR China in raschem Fortschritt begriffen. Die personellen und apparativen Voraussetzungen dafür sind in den peripheren Regionen des Landes nur an wenigen Stellen gegeben. Die Bemühungen um die Ausbildung des benötigten Fachpersonals werden energisch betrieben, u. a. in der Zusammenarbeit mit Deutschland und den USA.

Sechs Merkmale, die den ganzen funktionellen Horizont des Systems umfassen, sind zu nennen:

  1. 1.

    Das chinesische System weist eine leichte Zugänglichkeit, aber auch wenig Wahlfreiheit des behandelnden Arztes oder des Krankenhauses auf. Eine freie Arzt- oder Krankenhausauswahl existiert nur in wenigen Großstädten für den zahlungskräftigen Anteil der Bevölkerung. Die deutlich niedrigeren Kosten der stationären und ambulanten psychiatrischen Behandlung – ausgenommen der genehmigten Privatpraxen – haben wenig Komfort zur Folge. Es fehlt noch an Sicherheit der Finanzierung und an einer ausreichenden Deckung der Kosten, vor allem für die Modernisierung der Unterbringungsbedingungen.

  2. 2.

    Nach wie vor herrscht eine biologisch orientierte Psychiatrie vor, wobei gegenüber der deutschen Psychiatrie, die ebenfalls eine starke biologische Komponente aufweist, die Mitberücksichtigung der traditionellen chinesischen Medizin, d. h. der starken Beteiligung einer auf Heilpflanzen und Akupunktur gründenden Behandlung, zu registrieren ist. Der Grund ist, dass die psychiatrische Diagnostik und die psychologischen Behandlungsverfahren lange vernachlässigt wurden und erst mit Verspätung in Ausbildung und Anwendung eingeführt worden sind. Ein Ausdruck dieser Tatsache ist auch, dass

  3. 3.

    eine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung für Psychotherapeuten bis zum 01.05.2013 fehlte, was zur Folge hatte, dass jedermann diese Tätigkeit ausüben konnte. Die akademische Psychotherapie wird erst seit dem Psychiatriegesetz (01.05.2013) offiziell aufgebaut. Ähnliche Probleme weisen auch einige westliche Versorgungssysteme auf.

  4. 4.

    Es fehlte lange Zeit nicht nur die Möglichkeit, Psychologie zu studieren, es fehlte auch an einer psychotherapeutischen Komponente in der Aus- und Weiterbildung von Psychiatern.

  5. 5.

    Die Arzt-Patient-Beziehung ist autoritär und stark ungleich. Das Mistrauen gegenüber Psychiatern als Behandler psychischer Störungen ist noch weit verbreitet. Die Folge sind häufige schwere Konflikte wegen vermuteter Behandlungsfehler.

  6. 6.

    Die Psychiatrie in der VR China war bis zur Einführung des Gesetzes auch in der psychologischen Behandlung psychisch Kranker an der Aufgabe orientiert, „soziale Stabilität durch soziale Kontrolle“ zu erzielen. Die Umorientierung des Ziels psychiatrischer Therapie auf „Hilfe bei Krankheit“ oder auf die Wiederherstellung von Gesundheit ist im Gange, aber noch nicht weit gediehen.

Die trotz einiger positiver Entwicklungen immer noch bestehenden erheblichen Mängel der psychiatrischen Versorgung in der VR China erinnern den historisch interessierten Leser an die Situation der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland vor der 1971 bis 1975 realisierten Psychiatrie-Enquete. Im Grunde mussten alle modernen, voll ausgebauten Systeme psychiatrischer Versorgung inhumane Vorstadien durchlaufen, um die elenden, chaotischen Verhältnisse der alten Psychiatrie überwinden zu können.

Vergleiche dieser Art sind naturgemäß ungenau, zumal die nationalen Systeme der Versorgung psychisch Kranker große Unterschiede zeigen und überdies nur sehr grobe Beurteilungen ihrer Charakteristika aufweisen. Am ehesten vermag es der Autor, Vergleiche mit dem psychiatrischen Versorgungssystem der Bundesrepublik Deutschland zu ziehen, denn das hat er während seines Studienaufenthalts von 1990 bis 1993 in Heidelberg, seiner späteren Informationsbesuche mit zwei hochrangigen DelegationenFootnote 1 2008 und 2012 und aus der Literatur über die radikale Reform der psychiatrischen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland kennengelernt.

Die Ziele der künftigen Entwicklung der psychiatrischen Versorgung der Bevölkerung der VR China und damit auch der vom Psychiatriegesetz 2013 geschaffenen Rahmenbedingungen weisen jedenfalls viele Gemeinsamkeiten mit der bereits vollzogenen und mit den noch geplanten psychiatrischen Reformmaßnahmen in der Bundesrepublik Deutschland auf.

Wesentliche Gründe der heute noch bestehenden Mängel der psychiatrischen Versorgung in der VR China sind in erster Linie die Knappheit des ausgebildeten Personals sowohl auf akademischer Ebene als auch bei den Pflege- und Verwaltungsberufen und der Mangel an modernen Versorgungseinrichtungen (Abb. 23 und 4).

Abb. 2
figure 2

Anzahl psychiatrischer Krankenhäuser und ihr Anteil (in Prozent) an Krankenhäusern insgesamt in China. (Nach [5]; mit freundl. Genehmigung von Fude Yang)

Abb. 3
figure 3

Anzahl psychiatrischer Betten und Bettenraten (je 10.000 Einwohner) in China. (Nach [5]; mit freundl. Genehmigung von Fude Yang)

Abb. 4
figure 4

Anzahl Ärzte in psychiatrischer Facharztausbildung und ihr Anteil (in Prozent) an der Ärzteschaft insgesamt sowie Anzahl geprüfter psychiatrischer Pflegekräfte an psychiatrischen Krankenhäusern in China. (Nach [5]; mit freundl. Genehmigung von Fude Yang)

Ein großes Problem für alle Gesundheitsdienste, besonders jedoch für die auf sprachliche Verständigung angewiesenen medizinischen Disziplinen wie die Psychiatrie und Psychotherapie, sind die enormen regionalen und (sub)kulturellen Unterschiede. Wie schon erwähnt, finden sich die wenigen großen Einheiten moderner psychiatrischer Krankenversorgung hauptsächlich an den Universitätskliniken der sog. Mega- und Großstädte wie Beijing, Shanghai, Changsha, Chengdu, Wuhan, Nanjing, Shenzhen, Guangzhou, Hangzhou, Kunming, Shenyang, Harbin etc. Im krassen Gegensatz dazu gibt es bisher in Tibet noch keinen einzigen Psychiater und kein einziges psychiatrisches Krankenhaus. In vielen ländlichen Gebieten mangelt es an psychiatrisch ausgebildetem Personal. Wir haben selbst einmal Erhebungen über psychiatrisch ausgebildetes Personal in ländlichen Gebieten, dargestellt im Sammelband „Psychiatrists and Traditional Healers: Unwitting Partners in Global Mental Health“ [9], durchgeführt. Dort erfolgt die Versorgung psychischer Störungen hauptsächlich durch Volksheiler und Laientherapeuten mit den Mitteln traditioneller chinesischer Medizin.

Herausforderungen und Möglichkeiten der Weiterentwicklung

Der Grund für die seit einigen Jahrzehnten unternommenen Anstrengungen, das psychiatrische Versorgungssystem auszubauen und zu verbessern, ist die bis heute immer noch weitaus unzureichende Deckung des Bedarfs der Bevölkerung an psychiatrischer Versorgung und der damit einhergehende Mangel an den dazu benötigten Einrichtungen. Auf der innenpolitischen Ebene haben die Bemühungen, den Bedarf der Bevölkerung empirisch zu ermitteln, diesen Trend stark befördert. In der Psychiatrie ist dies durch eine Reihe epidemiologischer Studien erfolgt. Auch in der Allgemeinmedizin ist ein tiefgreifender Umbruch im Gange, der von den epidemiologisch erfassten Veränderungen des Krankheitsspektrums ausgelöst wurde. Weitere Faktoren, die diesen Wandel, wenn auch in mancher Hinsicht in ungleicher Weise, beschleunigen, sind die erfolgreiche Bekämpfung ansteckender Krankheiten, der steigende Lebensstandard und die Änderung der Alterszusammensetzung der Bevölkerung. Allgemein formuliert, sind auch in China inzwischen chronische Krankheiten und psychische Störungen die wichtigsten Ursachen für Morbidität und Mortalität („burden of disease“).

Was das Risiko der Morbidität an psychischen Erkrankungen angeht, so haben drei epidemiologische Studien in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts u. a. gezeigt, dass die Morbidität an milderen und häufigeren psychischen Erkrankungen drastisch angestiegen ist, während die Prävalenzraten „schwerer psychischer Störungen“ (etwa der Schizophrenie) vergleichsweise stabil blieben (Tab. 1). Diese Entwicklung ist in groben Zügen jedenfalls mit der in den 1980er Jahre in den westlichen Ländern beschriebenen Entwicklung vergleichbar [3].

Tab. 1 Korrigierte Ein-Monats-Prävalenzraten (%) psychischer Störungen in China in der ersten Dekade des 21. Jahrhundertsa

Das Gesetz zur psychischen Gesundheit

Wir haben in unsere Darstellung der Versorgung psychisch Kranker in der VR China mehrfach das Gesetz zur psychischen Gesundheit von 2013 angesprochen, weil es nicht nur Erfahrungen aus der Vergangenheit verarbeitete, sondern auch weil es die Weiterentwicklung der Psychiatrie an vielen Stellen vorzeichnet.

Die Versuche, ein solches Psychiatriegesetz zu formulieren, reichen weit zurück. Sie regelten anfangs nur die Bedingungen von Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen. 1985 war der Professor für Psychiatrie LIU XieheFootnote 2 vom West China Hospital in Chengdu, Sichuan, von der Zentralregierung beauftragt worden, das Gesetz unter Beteiligung von Sachverständigen auszuarbeiten und eine Entscheidungsplattform dem Volkskongress vorzulegen. Die Formulierung des Gesetzes nahm offensichtlich viel Zeit in Anspruch. Die ersten 10 Entwürfe entstanden unter der Leitungsverantwortung von Prof. LIU Xiehe.

In den Jahren 1985 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes 2013 erfuhr die Auseinandersetzung mit der Psychiatrie und den gebotenen Umgangsweisen mit psychisch Kranken eine intensive und teilweise kontroverse Diskussion. Es gelang jedenfalls, den Umgang mit psychischen Störungen zu einem führenden sozial- und gesundheitspolitischen Thema in dieser Periode zu machen. In diese Periode fällt auch das Aufbrechen von Psychotherapie, die mit dem Gesetz erstmals als Ausbildung, wenn auch noch nicht in der Weiterbildung, und in der Anwendung sowohl in der Psychiatrie als auch in psychosomatischer Medizin geregelt wird. Als strukturelles Ziel psychiatrischer Dienste ist, angeregt von der Psychiatriereform der Bundesrepublik Deutschland [4], die gemeindenahe Organisation psychiatrischer Versorgung festgelegt worden. Mit dem Ziel, die seelische Gesundheit der Bevölkerung zu fördern und zu schützen, ist das Gesetz noch weit über Diagnostik, Unterbringung und Behandlung in Behandlungseinrichtungen und dem Schutz von Freiheit und Selbstbestimmung bei nichteinwilligungsfähigen Kranken hinausgegangen. Die Förderung von Prävention und Krisenbewältigung wurden den Psychiatern und den psychologischen Beratungsdiensten auferlegt. Auch die Vorschrift über die freiwillige Krankenhauseinweisung ist von zentraler Bedeutung. Naturgemäß sind auch Maßnahmen und Einrichtungen der Rehabilitation geregelt worden.

Von geradezu revolutionärer Bedeutung ist schließlich das Gebot, ein funktionierendes soziales Sicherungssystem mit Deckung der Kosten von Krankheit und Krankheitsfolgen einzuführen. Wir referieren diese Bestimmung im Detail, um unseren mit dem Gesetz und auch mit der chinesischen Sprache nicht vertrauten Lesern einen möglichst objektiven Eindruck nicht nur von den Regeln, sondern auch vom Geist des Gesetzes zu vermitteln. Auszugehen ist bei der Krankenhausaufnahme von dem Satz:

Die stationäre Behandlung psychisch Kranker erfolgt in der Regel freiwillig (Teil III, Artikel 30: Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen). Die medizinische Einrichtung kann eine stationäre Behandlung verordnen [hier ist die geschlossene Unterbringung gemeint; Anm. des Autors], wenn die psychiatrische Untersuchung ergibt, dass die betreffende Person schwer psychisch krank ist und eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt:

  1. 1.

    Vorliegen von Selbstgefährdung in der Vergangenheit oder gegenwärtig bestehendes Selbstgefährdungsrisiko;

  2. 2.

    Vorliegen fremdverletzenden oder die Sicherheit anderer gefährdenden Verhaltens in naher Vergangenheit oder gegenwärtig bestehendes Fremdgefährdungsrisiko [1].

Das bedeutet, dass in der Praxis Patienten, die nicht selbst- und nicht fremdgefährlich sind, nicht ohne ihre Einwilligung in eine geschlossene Krankenhausabteilung eingewiesen, sondern nur freiwillig behandelt werden können.

Das Gesetz hat mit der Regelung der Ausbildung und der Anwendung die Psychotherapie, die in der VR China nicht mehr existierte, wieder in das medizinische Versorgungssystem eingeführt, wenn auch vorerst nur in begrenztem Umfang. Am weitesten geht dazu der Artikel 25:

Psychiatrische Fachdienste, die psychisch Kranke diagnostizieren und behandeln, müssen auch in der Lage sein, Psychotherapie anzubieten [1].

In China gibt es für eine Bevölkerung von 1,34 Mrd. Menschen lediglich 24.000 registrierte Psychiater, und bei den meisten mangelt es an psychotherapeutischer Ausbildung. Die Weiterbildung für die Ausübung von Psychotherapie ist, wie schon erwähnt, noch nicht geregelt. Das Recht auf psychotherapeutische Tätigkeit wird ausschließlich medizinischen Einrichtungen zugestanden. Die Bestimmungen für die Ausübung psychotherapeutischer Behandlung wurden in die Verantwortung des dem Staatsrat unterstehenden Gesundheitsressorts übertragen (Artikel 51).

Die ersten auf das Gesetz gründenden Verordnungen waren die „Richtlinie für Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen“, eine ausgesprochen praxisbezogene Bestimmung, und die „Psychotherapierichtlinie“[6], mit der eine Umorientierung der bisher rein biologisch-psychiatrischen Tätigkeit angestoßen wurde.

Die Wiedereinführung der Psychologie an den Universitäten und der Psychotherapie in medizinischen Behandlungseinrichtungen, nachdem sie vorher nicht mehr als wissenschaftlich fundiert anerkannt waren, erfolgte nach der Einleitung der Reform- und Eröffnungspolitik 1979 nach dem Ende der Kulturrevolution.

In der Endphase der Gesetzgebung erfolgte noch eine Auseinandersetzung über die Konkurrenz zwischen Vertretern medizinischer und nichtmedizinischer Fachbereiche und über die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit von Kooperation beider [10]. Auseinandersetzungen gab es auch in der Bewertung der Notwendigkeit und der Bedeutung verschiedener Bestimmungen, so auch über jene, die die psychologischen Behandlungsmethoden, deren befürchtete hohe Kosten und deren Realisierbarkeit betrafen, aber auch einige die Psychiatriereform betreffende Gesetzesbestimmungen.

Die großen Unterschiede, die zwischen der chinesischen Medizin besonders auf dem Gebiet der Psychiatrie und der rationalen westlichen Medizin in China bestanden, sind auf der chinesischen Seite im Schrumpfen begriffen. In vielen westlichen Ländern werden jedoch auch traditionelle chinesische Therapiemethoden, beispielsweise Akupunktur und chinesische Heilpflanzen, zur Anwendung mit herangezogen, wenn auch nicht immer auf Kosten der Krankenkassen.

Die Rolle von Sozialarbeitern bleibt im Gesetz unerwähnt, wahrscheinlich weil die Sozialarbeiter von dem Zivilverwaltungsministerium verwaltet werden, das Gesetz aber vom Gesundheitsministerium formuliert wurde.

Strategien zur Verbesserung des Stellenwerts von Psychiatrie

Das neue, 2013 in Kraft getretene Gesetz zur psychischen Gesundheit hat in der Psychiatrie, psychosomatischen Medizin und Psychotherapie eine neue Ära eröffnet. Es hat seit seinem Inkrafttreten dazu geführt, dass die zuständigen Behörden auf den verschiedenen Verwaltungsebenen, aber auch die psychiatrischen Fachkreise bemüht sind, die Versorgung psychisch Kranker zu verbessern. Als Prioritäten sind im Gesetz genannt:

  1. 1.

    Wahrung von Patientenrechten und Erhöhung des Stellenwerts der Psychiatrie durch gesetzgeberische Maßnahmen auf verschiedenen Zuständigkeitsebenen;

  2. 2.

    Abbau von Stigma und Diskriminierung psychisch Kranker durch wirksame und humane Behandlungsmethoden;

  3. 3.

    Rückkehr zum und aktive Umsetzung eines wissenschaftlich fundierten, biologisch-medizinischen Ansatzes in der Psychiatrie, um dem Beruf des Psychiaters und dem Fach Psychiatrie ein neues Image zu geben;

  4. 4.

    Erhöhung der Popularität des Faches Psychiatrie und seiner Wirkmöglichkeiten auch in medizinischen Fachkreisen durch verbesserte Aus- und Weiterbildung und öffentliche Informationskampagnen;

  5. 5.

    Vermittlung der Bedeutung von Psychotherapie im Bereich der Behandlung psychisch Kranker, um das einseitig körpermedizinisch orientierte Behandlungsmodell zu ergänzen.

Mit dem „nationalen kontinuierlichen Versorgungs- und Interventionsprogramm für Psychosen“ wurde ein integriertes krankenhaus- und gemeindepsychiatrisches Versorgungsmodell eingeführt, das zur Verbesserung der Versorgung und der Lebensbedingungen schwer psychisch Kranker führen soll. Aus dieser Entwicklung heraus hat sich eine patientenzentrierte, auf die Verbesserung der Funktionsfähigkeit der Kranken ausgerichtete, multidisziplinäre Versorgung schwer psychisch Kranker etabliert. Sie hat sich die Verbesserung der Alltagsbewältigung und der differenzierten Funktionsfähigkeit der Kranken zum Ziel gesetzt. Mit den Kranken werden auch die Angehörigen, wo erforderlich, mit unterstützt. Die eindrucksvolle Entwicklung, die eingesetzt hat, ist dem Gesetz zur psychischen Gesundheit zu verdanken, durch das die Finanzierung der psychiatrischen Versorgung durch die Zentralregierung verbessert wurde und das politisch zum führenden Reformprogramm auf dem Gebiet der Versorgung psychisch Kranker in der Geschichte der VR China erhoben wurde.Footnote 3

Deutschlands Beitrag zur Entstehung des Psychiatriegesetzes

Das Gesetz zur psychischen Gesundheit, das wir vorgestellt haben, ist in seiner Entstehung als ein erfolgreiches interkulturelles Experiment zu beurteilen. Während der 27 Jahre dauernden Ausarbeitung des Gesetzes hatten die Autoren viele Länder besucht und von ihnen gelernt. Die Psychiatriereform in der Bundesrepublik Deutschland hat in erheblichem Umfang Eingang in die Grundgedanken des chinesischen Psychiatriegesetzes gefunden. Nach 1980 haben mehrere chinesische Fachdelegationen Deutschland besucht und die bereits vollzogenen, die im Gang befindlichen und die noch geplanten Schritte der Psychiatriereform registriert. Das Gleiche gilt für einige Kooperationsprojekte, die von einigen deutschen Psychiatern angestoßen wurden.

Das einflussreichste Programm ist das „Deutsch-Chinesische Fortgeschrittenen Aus- und Weiterbildungsprojekt für Psychotherapie“, das von der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie (DCAP) betrieben wird. Als Vorstufe dieses Projekts gewann Frau Margarete Haaß-Wiesegart 14 deutsche Kollegen für ein von ihr organisiertes Psychotherapielehrprogramm, das 1988 in Kunming, China, durchgeführt wurde. Zur selben Zeit fand in China ein 6‑tägiges Symposion über Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, systemische Familientherapie und patientenzentrierte Therapie statt. Es war ein großer Vorteil für die Entwicklung der Psychotherapie in der VR China, dass von vornherein die psychologische Behandlung nicht auf eine Methode beschränkt wurde, sondern die zu dieser Zeit zur Verfügung stehenden, bereits bewährten psychotherapeutischen Verfahren aufgenommen wurden. 1990 und 1994 wurden in China zwei weitere Symposien veranstaltet. Als Nachwirkung wurde 1996 die obenerwähnte DCAP als gemeinnützige Organisation in Deutschland gegründet. Die DCAP hat ein kontinuierliches Aus- und Weiterbildungsprogramm in Psychotherapie eingeführt, was für die Psychiatrie in der VR China ein Novum war. Von 1997 bis 1999 fand der erste Trainingskurs statt. Dieses Ausbildungsprojekt hat unter der Bezeichnung „Zhong De Ban“, d. h. „chinesisch-deutscher Kurs“ Ansehen gewonnen [8]. Die meisten der 120 Kursabsolventen dieser Kurse haben führende Positionen auf dem Gebiet der Psychiatrie bzw. Psychotherapie in ihren Regionen und Einrichtungen erlangt. Der Kurs läuft erfolgreich weiter. Mittlerweile haben ihn fast 2000 Psychotherapeuten durchlaufen.

In der therapeutischen Disziplin Psychotherapie als Arsenal psychologischer Methoden zur Behandlung psychisch Kranker existiert noch eine beachtliche Zahl deutsch-chinesischer Kooperationsprojekte, die vor allem in der psychiatrischen Aus- und Weiterbildung angesiedelt sind, aber auch der Forschung dienen. Diese Projekte haben zur Modernisierung des psychiatrischen Versorgungssystems in der VR China beigetragen. Prof. Michael Wirsching (Freiburg) und Prof. Kurt Fritzsche (Freiburg) versuchen mit ihrem Team, die psychosomatische Medizin an Allgemeinkrankenhäusern aufzubauen und sie nach deutschem Vorbild als akademische Disziplin zu etablieren. Teilprojekte dieses Unternehmens sind das „Asia-Link Project“, das „Balint Group Project“ und der „Master Post-Graduate Course of Psychosomatic Medicine“. Einige führende chinesische Universitäten, z. B. die Universitäten von Tongji, Sichuan und Fudan und das Peking Union Medical College, haben bereits über Erfolge bei solchen Bemühungen berichtet. Für Studenten und nichtakademisches Personal in psychiatrischen Einrichtungen ist ein Kurrikulum, angelehnt an den Lehrplan der Universität Freiburg, entwickelt worden.

Das deutsche System gemeindepsychiatrischer Versorgung psychisch Kranker, das mit der Psychiatriereform etabliert wurde, galt als Vorbild nicht nur unter Psychiatern, sondern auch auf der Regierungsebene. Die DCAP wirkte 2008 und 2012 an der Organisation der Deutschlandbesuche zweier offizieller Delegationen mit, die aus Repräsentanten des Gesundheitsministeriums, des Nationalen Volkskongresses und der Gesundheitsbehörde der Stadt Shanghai bestanden. In beiden Delegationen befanden sich hohe Beamte und Sachverständige, die mit der Vorbereitung und Ausarbeitung des letzten Entwurfs des Psychiatriegesetzes beauftragt waren. Die beiden Psychiatriedelegationen der VR besuchten vielfältige moderne psychiatrische bzw. psychosomatische/psychotherapeutische Einrichtungen und nahmen durch Beobachtung und Diskussionen wichtige Eindrücke und Einsichten mit, die ihr Verständnis von Struktur und Funktion eines modernen psychiatrischen Versorgungssystems in einem entwickelten Land bereichertenFootnote 4.

Die genannten Projekte und Aktivitäten wurden und werden von zahlreichen deutschen Organisationen, insbesondere von dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) des Ministeriums für Bildung, Forschung und Technologie, vom baden-württembergischen Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales und von einigen großen Stiftungen konsequent unterstützt.

Schlussbemerkung und Ausblick

Die Psychiatrie, die Ende des 19. Jahrhunderts nach westlichem Vorbild in China eingeführt wurde und die native chinesische Medizin ergänzte, hat sich zunächst nur sehr langsam entwickelt. Lange Zeit fristete sie als medizinisches Fach ein stiefmütterliches Dasein. Seit dem Inkrafttreten des Psychiatriegesetzes 2013 ist die Förderung der psychiatrischen Versorgung und der psychischen Gesundheit im Allgemeinen nicht mehr die exklusive Aufgabe einer an fehlenden Ressourcen und mangelhafter Ausbildung leidenden Psychiatrie, sondern ein groß angelegtes gesellschaftliches Projekt. Die VR China hat Anerkennung für die eingeleiteten Schritte zur Einführung international gültiger medizinischer, ethischer und juristischer Regeln verdient. Psychische Probleme und Störungen sind, unabhängig von nationalen und kulturellen Unterschieden, ein Problem aller menschlichen Gesellschaften. Die VR China wird diesen Problemen in einem großangelegten, humanitär orientierten gesellschaftlichen Projekt begegnen.