Das Fachgebiet der Psychiatrie und Psychotherapie muss im Gegensatz zu anderen medizinischen Disziplinen immer auch aktuelle gesellschaftliche, soziale und politische Entwicklungen berücksichtigen. Ganz aktuell ist z. B. die Diskussion über geeignete psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungsangebote im Hinblick auf die wachsende Zahl an Flüchtlingen und Asylsuchenden in Deutschland. Hinzu kommt gerade auch in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger zum Tragen, dass die Lebensumstände in der Gesellschaft, im Arbeitsleben und im Privaten sich stetig verändern und direkte und indirekte Auswirkungen auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen haben. Gleichzeitig ergeben sich durch enorme Fortschritte in Wissenschaft und Forschung neue Perspektiven in der Diagnostik und Behandlung, die es in die klinische Praxis umzusetzen gilt.

Bei gestiegenem Hilfebedarf die Qualität der Versorgung sichern

Trotz gleichbleibender Prävalenz psychischer Erkrankungen ist der Versorgungsbedarf im ambulanten und stationären Sektor kontinuierlich gewachsen. Angesichts einer regional stark variierenden Versorgungsdichte drängen sich Fragen nach der gerechten Verteilung der ökonomisch begrenzten Ressourcen im Gesundheitswesen auf. Hierbei geht es insbesondere um die langfristige Versorgung chronisch psychisch Kranker und das Bemühen um ihre chancengleiche Teilhabe an allen Bereichen des Lebens. Dies macht es erforderlich, sich über innovative Versorgungsmodelle auszutauschen, um die Qualität der Versorgung auch in Zukunft sichern zu können. Unter welchen Voraussetzungen Onlinetherapien dabei eine Rolle spielen könnten, wird einen weiteren Schwerpunkt der Diskussionen bilden.

Vor dem Hintergrund dieser komplexen Wechselwirkungen setzt der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) 2016 unter dem Motto „Psyche – Mensch – Gesellschaft“ zu einer wissenschaftlichen Standortbestimmung an. Dabei soll verschiedenen Fragen nachgegangen werden: Wo ist das Fach Psychiatrie und Psychotherapie zu verorten? Wo liegen in der Versorgung Potenziale und Ressourcen, wo die Grenzen? Welche konkreten Verbesserungen sind in naher Zukunft durch die Forschung zu erwarten? Renommierte Experten aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft werden sich intensiv mit diesen komplexen Themen auseinandersetzen und sie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten.

Diese Ausgabe von Der Nervenarzt gibt detaillierte Einblicke in die Kernthematiken des Kongresses.

R. Hurlemann und N. Marsh beschreiben in ihrem Beitrag die Psychobiologie altruistischer Entscheidungen. Bisher galt hierbei die Organspende als paradigmatisch. Neuere Befunde weisen darauf hin, dass insbesondere empathiegetriebener Altruismus in der motivationalen Architektur des sozialen Gehirns repräsentiert ist. Die Ursachen hierfür werden von den Autoren beleuchtet und es wird aufgezeigt, dass das Verhaltensmerkmal Altruismus im Extremfall auch pathologische, selbst- und fremdschädigende Formen annehmen kann.

Die psychotherapeutische Versorgung traumatisierter geflüchteter Menschen in Deutschland thematisiert der Beitrag von M. Böttche et al. Demnach wird das Belastungserleben traumatisierter Geflüchteter häufig durch spezifische Postmigrationsstressoren verschlimmert. Zusätzlich erschweren Hindernisse, wie z. B. Sprachbarrieren oder die mangelnde Finanzierung von Dolmetschern, den Zugang dieser Patientengruppe zum Gesundheitssystem. Empirische Studien zeigen, dass traumatisierte Geflüchtete von traumafokussierten, evidenzbasierten Ansätzen profitieren. Im Januar 2017 wird ein Themenheft diese Diskussion vertiefen.

Transparente Informationen unterstützen die Rehabilitation von Menschen mit psychischen Erkrankungen

Arbeit für psychisch kranke Menschen ist ein Kernbereich rehabilitativer Psychiatrie. Mangelnde Kenntnis bei Behandlern über etablierte Rehabilitationsmaßnahmen, unklare Verantwortlichkeiten für Teilhabebemühungen sowie kaum verfügbare Informationen über integrative, setting- und sektorenübergreifende Modellprojekte verhindern noch viel zu oft die notwendige und zeitnahe Umsetzung geeigneter Rehabilitationsmaßnahmen. Die Arbeitsgruppe von K. Stengler stellt den DGPPN-Teilhabekompass zu beruflichen Integrationsmaßnahmen für Menschen mit psychischen Erkrankungen vor, der genau da ansetzen soll. Sowohl die Papier- als auch die geplante Onlineversion sollen dem Adressatenkreis helfen, Menschen mit vor allem schweren psychischen Erkrankungen zeitnah und erfolgreich durch die breite Angebotspalette beruflicher Integrationsmaßnahmen in Deutschland zu navigieren.

Gesellschaftliche Umbrüche, Migrationsbewegungen und die Säkularisierung haben religiöse Sinndeutungen verändert, aber nicht überflüssig gemacht. Der Aufsatz von M. Utsch beschreibt Unterschiede zwischen einem religiösen und säkularen Weltbild und definiert Spiritualität als Verbundenheit mit einem größeren Ganzen. Es werden sowohl Ressourcen von Spiritualität und Religiosität beschrieben, als auch auf Gefahren des Fanatismus und Fundamentalismus hingewiesen.

Das Angebot an internetbasierten Interventionen bei psychischen Erkrankungen ist sehr unübersichtlich. J. P. Klein und Kollegen haben in ihrer Arbeit einen Vorschlag für Kriterien entwickelt, anhand derer Behandler und Patienten empfehlenswerte Interventionen erkennen können. Es konnte gezeigt werden, dass internetbasierte Interventionen wirksam in der Behandlung einer Reihe psychischer Störungen sind. Die beste Evidenz besteht bei Depressionen und Angststörungen.

Ich hoffe, dass Ihnen die Lektüre der Beiträge einige Impulse und Anregungen zur Diskussion bietet, die wir dann auf dem Kongress 2016 gemeinsam führen können.

Ich freute mich, Sie vom 23. bis 26. November 2016 im CityCube Berlin begrüßen zu dürfen.

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Dr. med. Iris Hauth

Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN)