Liebe Kolleginnen und Kollegen,

liebe Leserinnen und Leser,

mit zunehmender Kenntnis in der Neuroplastizität, d. h. der Fähigkeit des Gehirns und des Nervensystems durch molekulare und Netzwerkreorganisation auf Schädigungen reagieren zu können und Funktionsverluste dadurch zumindest teilweise zurückzugewinnen, stieg auch der Anspruch an die Neurorehabilitation, evidenzbasierte Therapiekonzepte zur Stimulation derselben zu entwickeln. Neurologische Defizite haben nicht nur auf motorische, sondern auch auf kognitive und sprachliche Funktionen des Menschen massive Auswirkung. Der initiale Beweis der Neuroplastizität über die Hirnstimulation bei Primaten konnte längst durch die funktionelle Bildgebung (funktionelle Magnetresonanztomographie) sowie durch elektrophysiologische Stimulationsverfahren beim Menschen abgelöst werden. Insbesondere im letzten Jahrzehnt gab es auch zunehmend größere Therapiestudien mit besserem Design hinsichtlich Randomisierung, Effektgrößenmessung und Transfer in die Fähigkeiten des täglichen Lebens (“activities of daily living”, ADL), was seinen Niederschlag in einzelne Leitlinien der nationalen und internationalen Fachgesellschaften fand (www.DGN.org und www.dgnr.de). Dennoch sind auch zum heutigen Zeitpunkt noch viele Fragen wie die der besten Behandlung in Bezug auf welche Störung nur teilweise oder nicht beantwortet. Dabei sind Therapieerfolge umso wichtiger, wenn es darum geht, den oft auch noch jüngeren Menschen eine Reintegration in ihren Alltag oder sogar in das Berufsleben zu ermöglichen.

Die Problematik klinischer Erforschung therapeutischer Interventionen liegt zum einen an der Heterogenität der Störungsbilder mit unterschiedlichen Schweregraden interagierender motorischer und kognitiver Defizite bei unterschiedlichen Abständen zum Erkrankungszeitpunkt und zum anderen auch an der Schwierigkeit, schwerer betroffene Patienten in ausreichender Anzahl in randomisierte Studien einschließen zu können. Daher sind viele Aussagen aus den Studien zunächst nur für leichter bis mittelschwer betroffene und chronische Patienten gültig und nicht immer auf das individuelle Störungsmuster im Einzelfall übertragbar. Selbiges gilt auch für die in der funktionellen Bildgebung nachgewiesenen Reorganisationsmechanismen, bei der sich die meisten Forschungsarbeiten auf weniger schwer betroffene Patienten konzentrieren. Während sich hier die positive Rolle der Aktivierung der betroffenen kontralateralen Hemisphäre und insbesondere läsionsnaher funktioneller Areale in der Funktionserholung widerspiegeln, ist die Plastizität der zu den neurologischen Ausfällen ipsilateralen Hemisphäre weniger gut erforscht, gerade bei schwereren Störungsbildern der Motorik und Sprache, z. B. bei subtotalen Hemisphäreninfarkten.

Die Heterogenität der Störungsbilder erschwert die therapeutische Forschung

Mit dem im vorliegenden Heft behandelten Schwerpunktthema „Evidenzbasierte Neurorehabilitation“ soll der aktuelle Stand rehatherapeutischer und pharmakologischer Interventionsmaßnahmen bei einigen wesentlichen neurologischen Störungsbildern wiedergegeben werden. Hierbei sind insbesondere die Aphasie und der Neglekt als wichtige prognostische Parameter für das funktionelle Outcome zu nennen. Die Autoren sind größtenteils selbst zum einen wissenschaftliche Vertreter ihrer Themenschwerpunkte und dort präsent mit eigener Forschung und/oder aktiv in der Erstellung der Leitlinien der Fachgesellschaften der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und/oder der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation (DGNR ).

Als Vertreter der nationalen Arbeitsgemeinschaft für neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation (NNFR) stellen M. Pohl und M. Bertram die Wirksamkeit therapeutischer Interventionen im Rahmen der NNFR als komplexes Behandlungskonzept für schwerstbetroffene Patienten dar, auch wenn hier die Studienlage naturgemäß noch erheblich eingeschränkt ist. Weiterhin zeigen sie wesentliche prognostische Faktoren für das Outcome auf, die unlängst im Rahmen einer multizentrischen Erhebung durch die Arbeitsgemeinschaft erfasst und publiziert worden sind.

A. Flöel und R. Darkow geben einen Überblick über die Aphasietherapie, wobei sich hier in der Studienlage in Bezug auf die notwendige Therapieintensität mittlerweile klar eine nahezu tägliche Therapienotwendigkeit herauskristallisiert hat. Im Bereich der sensomotorischen Rehabilitation, die von T. Platz und L. Schmuck für die obere Extremität und von C. Dohle und Kollegen für die untere Extremität (Mobilität) dargestellt wird, ist die Studienlage diesbezüglich noch unsicherer, obwohl sich auch hier eine Korrelation des Therapieerfolges zu der Intensität der Therapie und zum Alltagsbezug zeigt. Für die Armrehabilitation stehen mittlerweile mehrere neuere Verfahren mit geprüfter Wirksamkeit zur Verfügung, deren differenzielle Indikationsstellung von T. Platz und L. Schmuck mit Bezug zur klinischen Praxis vorgestellt werden. In der Gangrehabilitation haben in den letzten Jahren zunehmend elektromechanische Behandlungskonzepte Einzug gehalten, die vor allem bei primär nicht gehfähigen Patienten zusätzliches Benefit zeigen.

Studien belegen die Korrelation von Therapieerfolg und Therapieintensität

T. Brandt und A. Welfringer geben einen Überblick über die Neglekttherapie, wobei hier aufgrund des heterogenen Patientenguts und der sehr unterschiedlichen Interventionsmöglichkeiten die Studienlage vergleichsweise wahrscheinlich als am unsichersten einzuschätzen ist.

C. Dettmers und Kollegen geben einen Einblick in die neuen Therapieverfahren im Bereich der motorischen Imagination, die wesentliche Anleihe im Leistungssport genommen hat.

J. Liepert stellt den Wissensstand zur klinischen Effektivität der tierexperimentell wirksamen pharmakologischen Plastizitätsstimulation dar, wobei insbesondere die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer einen zusätzlichen Benefit zum motorischen Üben zu bringen scheinen. Auch hier lässt die aktuelle Studienlage, nicht zuletzt wegen der geringen Anzahl und Größe der randomisierten kontrollierten Studien, noch viele Fragen offen.

Zusammengefasst ist ein gewisser Grad an Evidenzbasierung zwar zwischenzeitlich etabliert worden, dennoch fehlt es bei der Überprüfung der therapeutischen Interventionsmöglichkeiten der Neurorehabilitation weiterhin noch an größeren randomisierten Studien, insbesondere auch im Hinblick auf Effektstärken, der ADL-Übertragbarkeit der Trainingseffekte sowie den Langzeiteffekt.

Zunehmende technische Möglichkeiten eröffnen sich im Bereich Biofeedback und anderer Stimulationsverfahren sowie auch beim Robotic-Training mit Robotic-Substitution für fehlende Funktionen. Auch die zunehmenden Möglichkeiten und Erkenntnisse in der funktionellen Bildgebung (z. B. Darstellungsmöglichkeiten funktionell relevanter Netzwerke und neuraler Verbindungen) eröffnen immer bessere Perspektiven im Hinblick auf die wissenschaftliche Erforschung der Neuroplastizität therapeutischer Interventionen.

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PD Dr. Tobias Brandt

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Dr. Markus Bertram