Die verbreitete Floskel „Es darf nie wieder passieren!“ erscheint als einzige Schlussfolgerung aus der Geschichte der Neurologie im Nationalsozialismus, die in den Aufsätzen des Sonderheftes von Der Nervenarzt [14] rekonstruiert, analysiert und interpretiert worden ist, ebenso zutreffend wie billig. Auch das Fazit, die Forschungsaktivitäten im „Dritten Reich“ illustrierten das Potenzial für die Korrumpierung von Wissenschaft, Universität und Medizinpraxis im Rahmen einer totalitären Gesellschaft, ist zwar korrekt, greift aber zu kurz. Überlegungen in drei andere Richtungen drängen sich im Anschluss an diese beiden Folgerungen auf.

  1. 1.

    Mit den Ereignissen zwischen 1933 und 1945 hat sich das Bild der deutschen Medizin entscheidend gewandelt. Es ist noch klarer als zuvor geworden, dass es keine „unproblematische“ bzw. hermetische Wissenschaft gibt, die im Elfenbeinturm nach der reinen Wahrheit sucht. Wissenschaftler – ebenso wie Ärzte in Klinik und Praxis – tragen eine moralische Verantwortung für Folgen und Fehlentwicklungen. Darüber hinaus hat die Analyse der Medizin im „Dritten Reich“ deutlich gemacht, wie sehr medizinische Forschung und medizinische Praxis von gesellschaftlichen Erwartungen, politischem Druck und finanziellen Rahmenbedingungen abhängig sind. Dies ist heute nicht anders als damals, auch wenn sich Umstände und Rahmenbedingungen geändert haben. Diesen Zusammenhang angehenden Ärzten und Wissenschaftlern klarzumachen, ist unter anderem Aufgabe der professionellen Medizingeschichte an Medizinischen Fakultäten.

  2. 2.

    Gerade die „NS-Neurologie“ verdeutlicht ferner, dass es nicht gute vs. schlechte Forschung gibt, sondern dass medizinische Forschung mit Menschen im Konflikt mit ethischen Werten stehen kann, die sich aus einer therapeutischen Beziehung, der Würde des Menschen oder dem allgemeinen Respekt zwischen Menschen ergeben. Seitdem die Medizin sich an den sog. Naturwissenschaften orientiert, wohnt dieser Verbindung auch ein destruktives Potenzial inne. Wo immer Wissenserwerb als oberste Maxime gilt, die allen andern moralischen Werten übergeordnet wird, dort entfaltet sich diese „dunkle Seite“ der Wissenschaft: im „Dritten Reich“, in anderen totalitären Regimen, auch in demokratischen Staaten, wenn die moralischen Widerstände zu schwach sind. Fortschritt ohne Menschlichkeit ist in jeder Forschung möglich, wenn Erkenntnisgewinn das einzige Ziel ist. Dies gilt auch heute, und dies gilt auch in der Zukunft.

  3. 3.

    Geschichtsschreibung ist etwas anderes als persönliches Erinnern. Geschichte ist konstruierte Erinnerung, die auf Daten und Fakten beruht; Erinnern ist subjektiv und emotional. Die Gesellschaft und vor allem die Wissenschaft brauchen beide Formen des kulturellen Gedächtnisses, um etwas über sich selbst zu erfahren. Dies betrifft auch die deutsche Neurologie, wenn sie sich mit ihrer NS-Vergangenheit befasst.