Mehr als 20 Jahre hat es gedauert, bis es auf höchster politischer Ebene eine Diskussion – und zum Schluss ein Gesetz – über das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe gab. Dahinter standen unzählige öffentliche Debatten – eine breite mediale Aufmerksamkeit, die versuchte, die verschiedenen Aspekte dieses hochkomplexen Themas zu beleuchten. Grundlage der meisten Diskussionen war die Situation in der Palliativmedizin und die Frage darüber, wie wir den Menschen mit einer schweren und mit Sicherheit tödlich verlaufenden Erkrankung am Ende ihres Lebens begegnen wollen. Hier zeigten sich zwei mögliche Wege: Ein Weg bestand darin, die Palliativversorgung zu stärken – spezialisierte Einrichtungen auf- und auszubauen und vor allem die Bevölkerung über die Möglichkeiten einer guten palliativen Versorgung aufzuklären. Der andere Weg lag in der Legalisierung der Aktivitäten von Sterbehilfevereinen bzw. sog. Sterbehelfern. Am 05.11.2015 hat der Deutsche Bundestag mit der Zustimmung von Union, SPD und den Grünen in 2. und 3. Lesung das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland beschlossen. Bundesgesundheitsminister Gröhe äußerste sich im Anschluss hierzu:

Denn jeder soll die Gewissheit haben, am Lebensende gut betreut und versorgt zu werden.

Dahinter steckt ein ehrgeiziges Vorhaben: Unter anderem wird die Palliativversorgung ausdrücklicher Bestandteil der Regelversorgung der gesetzlichen Krankenkassen, die palliative Versorgung im Rahmen der häuslichen Krankenpflege wird gestärkt, vor allem in ländlichen Regionen soll der Ausbau spezialisierter Palliativeinrichtungen unterstützt werden und die finanzielle Ausstattung von Kinder- und Erwachsenenhospizen wird verbessert. Bereits einen Tag später, am 06.11.2015 kam es zur Verabschiedung eines Gesetzes, das die geschäftsmäßige Suizidbeihilfe verbietet. Hier waren im Vorfeld fraktionsübergreifend zum Teil sehr emotionale Aussprachen der einzelnen Parlamentarier zu verfolgen. Die Mehrheit der verschiedenen in der Diskussion beteiligten Verbände und Institutionen begrüßte dieses Gesetz. Der erste Beitrag dieses Leitlinienheftes wird sich mit dem Thema „Suizid und Sterbehilfe: Diskurs über den ärztlich assistierten Suizid“ beschäftigen und hier neben einem historischen Rückblick auf diese Diskussion auch ethische und theologische Aspekte beleuchten.

In der ganzen Debatte über die Suizidbeihilfe wurde aufgrund der Fokussierung auf die Palliativmedizin eines aus dem Auge verloren: Die meisten Menschen, die sich das Leben nehmen wollen, weisen zu diesem Zeitpunkt – zumindest einen vorübergehenden – psychischen Ausnahmezustand auf. Epidemiologische Untersuchungen sowie psychologische Autopsiestudien haben gezeigt, dass bis zu 90 % der Suizidenten psychisch krank waren.

Über die Gruppe der psychiatrisch Kranken wird in der Diskussion um den ärztlich assistierten Suizid kaum öffentlich diskutiert. Gründe dafür liegen vor allem in der nicht abschließend zu klärenden Frage, wie die Bewertung des Vorliegens eines freien Willens bei Menschen mit psychischen Erkrankungen erfolgen kann und insbesondere auch, wie sich eine solch komplexe Diskussion in einem Gesetz widerspiegeln soll. Zahlen aus Ländern, in denen Suizidbeihilfe möglich ist, zeigen eine zunehmende Akzeptanz psychischer Erkrankungen als ausreichenden Grund, um Suizidbeihilfe zu bitten. Hierunter finden sich nicht nur Frühformen von Demenzen, auch Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen wird Beihilfe zur Selbsttötung gewährt.

Unter suizidpräventiven Gesichtspunkten ist dies eine Katastrophe – weiß doch die psychiatrische Fachwelt, dass es bei Menschen in suizidalen Krisen in den allermeisten Fällen um vorübergehende – und außerdem meist sehr ambivalent erlebte – Zustände geht. Das heißt, wichtigste Maßnahme ist hier, Zeit zu gewinnen, in der die Betroffenen adäquat behandelt werden, darüber meistens eine Besserung ihres seelischen Leidens erfahren und damit ihre Sichtweise überdenken und revidieren können.

Die wichtigste Maßnahme ist, Zeit zu gewinnen

Ebenso wie die gesetzmäßige Verankerung der Stärkung der palliativen Versorgung sollte aus suizidologischer Sicht auch die Suizidprävention verankert werden. Hierzu erfolgte am 14.10.2015 nach einem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen eine Expertenanhörung mit Vertretern verschiedenster Fachverbände (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde [DGPPN], Nationales Suizidpräventionsprogramm für Deutschland [NaSPro], Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention [DGS], U25, Telefonseelsorge, Angehörige um Suizid [AGUS], Gesetzliche Krankenversicherung [GKV], Bundesärztekammer [BÄK] und weitere). Konsens herrschte hier über die Notwendigkeit, Informations- und Aufklärungsarbeit zu intensivieren, aber vor allem auch Behandlungsangebote – hier in allererster Linie niederschwellige und dennoch zeitlich nicht begrenzte Beratungs- und Kriseninterventionsstellen – auszubauen.

Suizidprävention erfolgt in Deutschland überwiegend ehrenamtlich. Die Initiativen der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention sowie des Nationalen Suizidpräventionsprogrammes sind auf das freiwillige Engagement angewiesen. Hier hätte die Bundesregierung mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention am 18.06.2015 eine Möglichkeit gehabt, suizidpräventive Ansätze zu stärken. So bleibt allen Stakeholdern zunächst nur weiter das freiwillige Engagement, um auf den verschiedensten Ebenen einen Beitrag zur Suizidprävention zu leisten.

Dazu gehört auch die unermüdliche Aufklärungsarbeit – nicht nur bei ärztlichen und therapeutisch tätigen Kollegen. Auch die Informationsarbeit in allen anderen Bereichen des Lebens (Schulen, Alten- und Pflegeheime, Helferberufe wie Polizei und Feuerwehr etc.) spielt eine enorm wichtige Rolle. Unter den ärztlichen Kollegen müssen vor allem Hausärzte involviert werden, zeigen doch Studien immer wieder deutlich, dass Betroffene kurz vor dem Suizid in hausärztlicher Behandlung waren.

Das vorliegende Leitlinienheft will einen Beitrag zur Aufklärung leisten. Es will ermutigen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen und etwaige Berührungsängste abzubauen. Es möchte vor allem auch therapeutische Möglichkeiten für Patienten in suizidalen Krisen aufzeigen.

Im Beitrag von Manfred Wolfersdorf et al. wird der Schwerpunkt – Stichwort Kliniksuizid – auf der Suizidprävention und dem Umgang mit suizidalen Patienten in der psychiatrischen Klinik liegen.

Der Beitrag von Robert Haußmann et al. diskutiert verschiedene medikamentöse Strategien für Menschen mit Suizidgedanken bzw. mit einem suizidalen Risiko. Psychotherapeutische Verfahren werden im Artikel von Reinhard Lindner und Barbara Schneider vorgestellt.

Unter den verschiedenen Risikogruppen, die für suizidpräventive Maßnahmen besondere Bedeutung haben, gehören auch die Insassen von Justizvollzugsanstalten. Im Anschluss an das Leitthema wird unter der Rubrik „Originalien“ im Beitrag von Dirk Ritter et al. über interessante Daten einer sächsischen Untersuchung berichtet.

Wir freuen uns, wenn die vorliegenden Beiträge den Lesern neue Einsichten und Impulse für die tägliche klinische Arbeit mit suizidalen Patienten liefern und darüber einen suizidpräventiven Beitrag leisten.

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Dr. Ute Lewitzka

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Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Wolfersdorf