Vierzig Jahre nach Veröffentlichung des Abschlussberichts der Enquetekommission der Bundesregierung hat sich die Versorgung psychisch erkrankter Menschen in Deutschland gemäß den Forderungen der Expertenkommission differenziert entwickelt.

Die Zahl der Betten in den Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie wurde mehr als halbiert. Die durchschnittliche Verweildauer auf 24 Tage gesenkt. Parallel dazu ist der Aufbau gemeindepsychiatrischer ambulanter Dienste gelungen. Über 5000 Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und Nervenärzte sowie 20.000 ärztliche und psychologische Psychotherapeuten stehen für die ambulante Versorgung zur Verfügung. Dank der Fortschritte in der Forschung konnte das Verständnis für psychische Erkrankungen weiter verbessert werden. Psychotherapie und psychosoziale Interventionen bilden neben dem Einsatz wirksamer Medikamente nach evidenzbasierten Leitlinien die Basis der Behandlung.

Trotz dieser Fortschritte gehören psychische Erkrankungen in Deutschland zu den bedeutsamsten Gesundheitsproblemen. Sie sind nicht nur einer der häufigsten Gründe für Krankschreibungen, sondern auch für Frühverrentungen. Der Bedarf in der Versorgung ist über alle Sektoren hinweg gestiegen. Dabei zeigen aktuelle Daten des Robert Koch-Instituts – entgegen der weitverbreiteten Annahme – keine Erhöhung der Prävalenz in den letzten 15 Jahren, doch die Nachfrage nach Diagnostik und Behandlung erscheint sowohl im ambulanten als auch stationären Bereich gestiegen.

Vor diesem Hintergrund sieht sich die Versorgung mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert: Wie können wir heute und in Zukunft sicherstellen, dass psychisch erkrankte Menschen qualitativ hochwertige, wissenschaftlich fundierte und individualisierte medizinische, therapeutische und psychosoziale Hilfe erhalten? Diese Frage soll schwerpunktmäßig auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) 2015 bearbeitet werden. Das Motto lautet folgerichtig: „Der Mensch im Mittelpunkt: Versorgung neu denken“.

Sektorengrenzen müssen abgebaut und strukturierte Kooperationen entwickelt werden

In diesem Jahr geht es insbesondere um die Überwindung der Fraktionierung der Versorgungsangebote sowie den Abbau von Sektorengrenzen und die Entwicklung strukturierter Kooperationen. Innovative Versorgungskonzepte sollen vorgestellt und das Potenzial gestufter, bedarfsgerechter, personenzentrierter Versorgungsmodellen diskutiert werden. In diesem Zusammenhang gilt es auch, die Qualität und Transparenz in der Psychiatrie weiter zu verbessern. Die Umsetzung evidenzbasierter Leitlinien, aber auch ethische Fragestellungen zur Patientenautonomie oder Verteilungsgerechtigkeit von Ressourcen stehen dabei im Zentrum der Betrachtung. Für den Bereich der Wissenschaft und Forschung ist das Thema Translation von zentraler Bedeutung. Wie lässt sich der Transfer von Wissen aus der Forschung zum Patienten optimieren?

Das Kongressprogramm zentriert sich u. a. um diese Themen. Diese Ausgabe von Der Nervenarzt gibt detaillierte Einblicke in die Kernthematik.

Becker et al. beleuchten aus einem internationalen Blickwinkel innovative patientenzentrierte Versorgungssysteme. Vor allem das „assertive community treatment“ (ACT) und das „home treatment“ (HT) werden in diesem Kontext als Meilensteine bezeichnet. Für die Zukunft werden die Peer-Arbeit und Recovery-orientierte Ansätze als vielversprechend identifiziert.

Einen Überblick zur aktuellen psychiatrischen Versorgungssituation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland, gerade auch von Flüchtlingen und Asylbewerbern, liefert der Beitrag von Schouler-Ocak. Für diese sehr heterogene Bevölkerungsgruppe besteht teilweise ein erhebliches Versorgungsdefizit, häufig aufgrund systembedingter Barrieren. Hier besteht dringend Nachholbedarf, um den Betroffenen den Zugang zum psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesundheitssystem zu erleichtern.

Die Arbeitsgruppe von Bramesfeld et al. widmet sich der Qualitätssicherung psychiatrischer Versorgung und stellt dazu Beispiele in Europa dar. Vor allem die Fachgesellschaften als überregionale Interessenvertreter und Entwickler von Leitlinien und Standards sollten das Thema Qualitätssicherung noch stärker in ihre Arbeit einfließen lassen.

Maercker und Kollegen untersuchen E-Mental-Health-Angebote, welche für das Fach zunehmend an Bedeutung gewinnen. Im Hinblick auf vorliegende Wirksamkeitsstudien kann bereits jetzt der Nutzen der existierenden Angebote belegt werden. Diskussionsbedarf besteht bei der Frage der Überführung von Modellprojekten in die Regelversorgung. Rechtliche und finanzielle Einschränkungen spielen hier oftmals noch eine hemmende Rolle.

In den letzten Jahren hat sich das Konzept der „biologischen Psychiatrie“ wesentlich erweitert und damit erhöhte sich auch die Praxisrelevanz dieser Forschungsrichtung. An einigen exemplarischen Beispielen zeigt Meyer-Lindenberg, welche neuen Impulse die praxisrelevante Forschung in der biologischen Psychiatrie für die individualisierte Medizin, die Psychotherapie und das Verständnis von Umwelteinflüssen bieten kann.

Aus medizinethischer Sicht geht Maio der Frage nach, ob eine Fokussierung auf naturwissenschaftliche Fakten und ökonomische Vorgaben, die die ärztliche Denkweise heutzutage immer stärker prägt, nicht dazu führt, dass zunehmend die Fähigkeit, in größeren Kontexten zu denken, verloren geht. Das heute maßgebende Prinzip des „pay for performance“ wird kritisch hinterfragt.

Ich freute mich, wenn Ihnen die Lektüre der folgenden Beiträge einige Impulse und Anregungen zur Diskussion bietet, die wir dann auf dem DGPPN Kongress 2015 gemeinsam führen können. Ich hoffe, Sie vom 25. bis 28. November 2015 im CityCube Berlin begrüßen zu dürfen.

Dr. Iris Hauth