Veränderte Lebensgewohnheiten, eine sich wandelnde soziodemographische Bevölkerungsstruktur mit zunehmender durchschnittlicher Lebenserwartung, aber auch verbesserte diagnostische Möglichkeiten haben in den letzten Jahrzehnten zu einer steigenden Inzidenz von Krebserkrankungen geführt. Krebserkrankungen sind nach wie vor die führende Todesursache in modernen Gesellschaften. Es gilt allerdings zu vermerken, dass durch die zwischenzeitlich erzielten Fortschritte in der somatisch-medizinischen Behandlung ein steigender Anteil betroffener Personen geheilt wird und ein noch größerer Anteil mit Krebs als chronischer Erkrankung lebt. Eine wachsende Anzahl von Langzeitüberlebenden konfrontiert aber auch mit vielfältigen relevanten Folgekosten dieses medizinischen Fortschritts. Diese bestehen auf der somatischen Ebene etwa in einem erhöhten Risiko für Zweittumoren, persistierenden kardiopulmonalen Schäden, körperlichen Funktionseinschränkungen, Fatigue und Schmerzen, auf der psychologischen Ebene in erhöhtem emotionalem Distress, kognitiven Beeinträchtigungen sowie sexuellen Dysfunktionen und auf der sozialen Ebene in erheblichen psychosozialen Behinderungsgraden, beruflichen Reintegrationsproblemen und einer reduzierten Lebensqualität. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass unter einer Krebserkrankung nicht nur die betroffenen Einzelpersonen, sondern auch ihre Partner und Familien leiden und mannigfaltigen Belastungen in der Akutsituation und in der Langzeitperspektive ausgesetzt sind. Nicht zuletzt haben auch die enormen soziökonomischen Kosten für Behandlungen und Rehabilitationen zur Erkenntnis beigetragen, dass die Überlebensrate nicht der einzige Qualitätsmaßstab für eine anspruchsvolle onkologische Versorgung sein kann.

Auch und gerade in der Onkologie hat sich mittlerweile ein komplexes biopsychosoziales Krankheitsverständnis durchgesetzt, das sowohl die Vorgeschichte der Krebserkrankung einer Person als auch die akuten und chronischen Behandlungsstadien sowie das eventuelle Sterben-müssen oder aber das mögliche Überleben integral erfassen möchte. Das Selbstverständnis der Psychoonkologie ist solcherart biopsychosozial ausgerichtet. Sie strebt auf den unterschiedlichen Einfluss- und Folgeebenen multimodale Therapie- und Rehabilitationsangebote an, die einerseits einen objektiv ermittelten Versorgungsbedarf, andererseits subjektiv artikulierte Versorgungsbedürfnisse von Krebspatienten selbst berücksichtigen. Sie hat hierfür mittlerweile verbindliche Qualitätskriterien formuliert. Für die gesundheitspolitische Planung besteht die schwierige Aufgabe, auf den einzelnen Ebenen der medizinischen und psychosozialen Versorgung onkologischer Patienten nicht nur konsensuell abgestimmte Richtlinien für differenzielle Behandlungs- und Rehabilitationsziele zu erlassen, sondern auch eine ausreichende Anzahl von Strukturen für die Realisierung einer abgestuften und breit gefächerten psychoonkologischen Versorgung niederschwellig, zeit- und wohnortnah sowie sektorenübergreifend zu organisieren.

Die Bedarfsdeckung weist vor allem im ambulanten Sektor Lücken auf

Das vorliegende Schwerpunktheft von Der Nervenarzt beleuchtet unterschiedliche Dimensionen der Psychoonkologie. In einem einführenden Beitrag widmen sich Anja Mehnert und Tim Hartung dem Thema der psychoonkologischen Versorgungsforschung. Sie betonen, dass epidemiologische Studien mit quantitativen und qualitativen Untersuchungsinstrumenten die entscheidende Voraussetzung für eine angemessene Bedarfsbestimmung in den unterschiedlichen Kontexten einer onkologischen und palliativen Versorgung darstellen. Das hohe Ausmaß an psychosozialen und körperlichen Belastungen in der akuten und langfristigen Perspektive definiert eine erste allgemeine Herausforderung. Zwei Gruppen von Langzeitüberlebenden einer Krebserkrankung, von jüngeren Patienten einerseits und von älteren Patienten andererseits, definieren einen je speziellen und differenziellen Versorgungsbedarf. Die zunehmende Verkürzung stationärer Akutbehandlungen und die sukzessiv stärkere Verschiebung in den teilstationären, rehabilitativen und vor allem in den ambulanten Versorgungssektor werfen große Fragen auf: Wie können Konzepte einer biopsychosozialen Versorgung geeignet formuliert werden? Wie sollen Einrichtungen implementiert und organisiert werden, um ausreichende Angebote in einer realistisch finanzierbaren Weise vorhalten zu können? Nach welchen Kriterien ist die Wirksamkeit solcher Angebote zu messen? Bedarfsermittlung einerseits und Bedarfsdeckung andererseits, die vor allem im ambulanten Sektor auf bedeutsame Lücken und Engpässe verweist, sind nicht nur Aufgaben einer empirischen Forschung, sondern konfrontieren auch mit medizinisch-ethischen Problemen einer Bedarfsgerechtigkeit.

Varinia Popek und Klaus Hoenig fokussieren auf das Thema der speziellen Aufgaben und Belastungen von Angehörigen an Krebs erkrankter Personen. Empirischen Studien zufolge erleiden Partner und Familienmitglieder zumindest das Ausmaß an emotionalem Distress und körperlicher Belastung wie die Krebspatienten selbst. Anhaltende Stressoren resultieren aus den vielfältigen Aufgaben in der Hilfestellung bei Alltagsaktivitäten, der schwierigen Pflege, der Begleitung bei multiplen therapeutischen oder administrativen Besuchen, der massiv bedrohten Beziehung, der oft konfliktreichen emotionalen Unterstützung des erkrankten Partners, bei weitgehender Vernachlässigung eigener Bedürfnisse und Wünsche. Eine bedenkenswerte geschlechtsdifferenzielle Problematik wird erkennbar, wenn Pflege und Unterstützung von krebserkrankten Familienmitgliedern mehrheitlich durch Ehefrauen, Mütter oder Töchter erbracht werden. In den vorrangig auf die Bedürfnisse individueller Krebspatienten ausgerichteten Versorgungsstrukturen werden die speziellen Belastungen von Angehörigen oft nur unzureichend beachtet und selten behandelt. Die Autoren betonen den Vorteil einer erweiterten familiendynamischen Perspektive, um das ganze Ausmaß der systemisch wirksamen Stressoren zu erfassen, die zur Verschlechterung der Bewältigungsfertigkeiten aller Beteiligten führen. Empirische Studien belegen, dass psychosoziale Interventionen für Angehörige einerseits deren Belastungen wirksam reduzieren, andererseits das Bewältigungsverhalten und die Lebensqualität von Patienten und Angehörigen verbessern.

Psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen nehmen einen zentralen Stellenwert in den integrativen und multimodalen Behandlungsansätzen der Psychoonkologie ein. Peter Herschbach macht auf den signifikanten Unterschied von Psychotherapie für körperlich gesunde Personen mit psychischen und psychosomatischen Problemen einerseits und an somatisch ernsthaft, möglicherweise letal erkrankten Patienten mit speziellen psychosozialen Belastungen und psychischen Symptombildungen andererseits aufmerksam. Angesichts der bedeutsamen Verschiebungen in der onkologischen Behandlungskette sind in stationären Krankenhausinstitutionen nur begrenzte psychoedukative, psychosoziale und psychotherapeutische Interventionen möglich. Die Möglichkeiten hierfür sind in der psychoonkologischen Rehabilitation deutlich günstiger, sie weisen aber im ambulanten Versorgungssektor erhebliche Defizite und Koordinationsschwierigkeiten auf. Eine differenzierte psychoonkologische Diagnostik kann dazu beitragen, Motivation und Behandlungsbedürftigkeit für psychosoziale und psychotherapeutische Verfahren exakter zu bestimmen. Die Interventionen werden mehrheitlich manualisiert sowohl in Einzel- als auch in Gruppensettings durchgeführt. Die empirische Forschung findet gute Wirksamkeitsbelege für psychodynamisch orientierte supportiv-expressive, kognitiv-behaviorale und auch für spezielle, auf die Progredienzangst oder den palliativen Sektor abgestimmte Ansätze.

Die krebsassoziierte neurokognitive Störung ist eine hoch relevante klinische Herausforderung

Michaela Defrancesco und Barbara Sperner-Unterweger stellen ein in der psychoonkologischen Forschung in den letzten Jahren zunehmend stärker bearbeitetes Thema der neurokognitiven Störungen von Krebserkrankungen und deren somatisch-medizinischen Therapien dar. Die krebsassoziierten neurokognitiven Störungen erweisen sich als hoch relevante klinische Herausforderung, sind sie doch mit so zentralen Dimensionen des Krankheitsverlaufs wie Lebensqualität, Therapieadhärenz, Prognose und Mortalität signifikant korreliert. Sowohl die bedingenden krebs- und behandlungsbezogenen Einflussfaktoren als auch die einzelnen pathophysiologischen Mechanismen sind vorerst nur in Ansätzen erkannt und verstanden. In einer klinischen Perspektive bestehen noch zahlreiche offene Fragen. Einerseits ist eine differenzierte neuropsychologische Diagnostik zu fordern, anderseits existieren noch keine im speziellen Erkrankungskontext empirisch erprobten diagnostischen Instrumente. Es liegen zwar mehrere pharmakologische und nichtmedikamentöse Behandlungserfahren vor, eine empirische erprobte, differenzielle Therapie von krebsassoziierten neurokognitiven Störungen existiert derzeit aber noch nicht.

In einem engeren CL (Konsiliar- und Liaisondienst) -psychiatrischen und -psychosomatischen Zugang behandelt Hans-Peter Kapfhammer die klinische Herausforderung der hohen Raten von komorbiden depressiven und Angststörungen bei Patienten mit Krebs. Auch die Beachtung dieses Themas erscheint angesichts der vielfältigen negativen Auswirkungen der psychischen Komorbiditäten auf den Krankheitsverlauf in seinen psychologischen, psychosozialen und krankheitsbezogenen Dimensionen mehr als legitim. Krebs stellt eine paradigmatische biopsychosoziale Erkrankung dar. In einem multifaktoriellen Modell müssen medizinische und soziodemographische, krebs- und therapieassoziierte, psychosoziale und Persönlichkeitsfaktoren als stressauslösende und -unterhaltende Einflüsse aufeinander bezogen und in ihren gemeinsamen neurobiologischen und pathophysiologischen Mechanismen reflektiert werden. Psychische Komorbidität, Krankheitsprogression und Mortalitätsrisiko verweisen auf komplexe inhärente, einerseits psychosomatische, andererseits somatopsychische und somatosomatische Wechselwirkungen. Die Diagnostik komorbider depressiver und Angststörungen stößt zwar auf einige konzeptuelle Schwierigkeiten, ist aber klinisch-pragmatisch gut durchführbar. Sowohl psychotherapeutische als auch pharmakologische Optionen sind empirisch mit ermutigenden Ergebnissen durchgeführt worden. Medikamentöse Ansätze orientieren sich vorteilhaft an den vorherrschenden depressiven und ängstlichen Symptomen und beachten gleichzeitig ein je differenzielles Nebenwirkungsspektrum und Interaktionsrisiko.

Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn das vorliegende Schwerpunktheft mit seinen thematisch unterschiedlich ausgerichteten Beiträgen zur „Psychoonkologie“ Ihr Interesse findet.

Mit besten kollegialen Grüßen

Hans-Peter Kapfhammer