Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

der chirurgische Grundversorger, der neben seinen vielen Erwachsenen plötzlich mit verunfallten Kindern zu tun hat, wird meist ein wenig nervös, weil Kinder „anders“ sind und aus seinem gewohnten Behandlungsschema fallen.

Kinder sind „anders“, weil sie praktisch immer in Gesellschaft von Eltern auftreten und schon von daher eine kommunikative Herausforderung darstellen. Zum anderen wachsen sie ständig, was wieder bedeutet, dass man auf bestimmte Regionen Rücksicht nehmen muss, von denen aus sie wachsen, und zum Schluss müsste man dann auch noch in der Nachbehandlung vom üblichen Erwachsenenschema abweichen und differenziert auf die Bedingungen des wachsenden Skeletts eingehen. Also ein ganzes Bündel von Verunsicherungsfaktoren. Kein Wunder also, dass viele reaktiv auf das zurückgreifen, was ihnen in vergangenen Zeiten einmal beigebracht worden war – auf Nummer sicher zu gehen – auch mit dem Risiko, dass man damit außerhalb der Zeit liegt. Die gewählten Maßnahmen sind dann oft nicht mehr aktuell und genügen den Ansprüchen der Kinder und ihres wachsenden Skeletts bei Weitem nicht.

Die folgenden Artikel wollen einerseits versuchen, ein wenig Klarheit in die klinischen Phänomene des Wachstums zu bringen und Interpretationsfehler auszumerzen. Zum anderen sollen sie versuchen, die Verunsicherung vor dem Wachstumsalter zu nehmen. Am einfachsten gelingt dies, wenn wir die Kinder nach ihren Wünschen fragen und mit ihnen gemeinsam abwägen, was wir davon umsetzen können und was nicht. Und der Wunsch des Kindes – und auch des Jugendlichen – ist ziemlich eindeutig: mit einem Minimum an Aufwand die schnellstmögliche Wiederherstellung seiner Mobilität zu erreichen. Im Gegensatz zum Erwachsenen besteht kein gesellschaftlicher Auftrag an die Medizin für Kinder, weshalb die Selbstverständlichkeit dieses Vorgehens oft außer acht gelassen wird.

Daher wollen wir mit den vorliegenden Beiträgen zum einen klar machen, dass es bei der Behandlung diaphysärer Schaftfrakturen keine technischen Goldstandards gibt, sondern dass wir mit gezielter Anwendung einer Vielfalt technischer Möglichkeiten das benannte Ziel umsetzen können – im Gegensatz zu den metaphysären und epiphysären Frakturen. Wir wollen herausarbeiten, wo die besonderen Schwachstellen de Skeletts liegen, bei denen wir besonders sorgsam vorgehen und auf weitere Traumatisierungen verzichten müssen. Wir wollen den Ort der häufigsten Frakturen benennen, an dem wohl am meisten „übertherapeutisch“ gesündigt wird, ohne damit dem Wunschziel des Patienten gerecht zu werden, trotz einer hervorragenden Wachstumsprognose. Und wir wollen „last not least“ versuchen, die Angst vor den unterschiedlichen Wachstumsstörungen zu nehmen und die Behandlungsmär von „wasserdichten“ Osteosynthesen und deren Nutzen zugunsten „stabiler“ Osteosynthesen beenden.

Wir sollten nicht vergessen, dass Frakturbehandlung sowohl im Erwachsenen- als auch im Wachstumsalter die erste Form von Rehabilitation darstellt. Umso mehr sind wir verpflichtet, weniger unsere medizinischen Vorstellungen umzusetzen, als die der wachsenden Patienten – selbst wenn sich herausstellt, dass diese in manchen Fällen identisch sind.

Ihr

Prof. Dr. L. von Laer