Zusammenfassung
Der Beitrag fokussiert zunächst auf das in der Forschung bislang kaum beachtete Schicksal des deutsch-amerikanischen Kinderarztes und Wissenschaftlers Helmut Seckel (1900–1960), der 1935 als einer der damals renommiertesten jüngeren Vertreter der deutschen Kinderheilkunde und habilitierter Oberarzt aus der Universitätskinderklinik in Köln vertrieben wurde. Er und seine jüdische Frau emigrierten nach Chicago/USA, wo er weiter wissenschaftlich tätig war. 1960 beschrieb er das nach ihm benannte Seckel-Syndrom („bird-headed dwarfs“). Mithilfe der sich anschließenden Charakterisierung von Seckels Kölner Kollegen, die ihn in der Kinderklinik unterstützten bzw. mit ihm konkurrierten, soll deutlich werden, wie es womöglich zu der vorzeitigen Vertreibung kam und wer davon profitierte. Anhand ausgesuchter Karrieren soll verdeutlicht werden, wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg Netzwerke von Tätern und Mitläufern wirksam waren. Die Opfer der Vertreibung blieben ebenfalls miteinander verbunden. Wie Seckels Beispiel zeigt, konnten sie ihre Karrieren allerdings nicht bis zu dem Ziel verfolgen, eine Klinik zu leiten. An Helmut Seckel und seinen Kollegen aus der Kölner Universitätskinderklinik kann demonstriert werden, wie Netzwerke in der damals kleinen Disziplin Pädiatrie wirksam waren. Solche Netzwerke sind in der Wissenschaft teilweise heute noch zu beobachten. Sie beeinflussen entscheidend klinisch-akademische Karrieren, die von gegenseitiger Unterstützung, aber auch von Rivalität geprägt sind.
Abstract
Political and racist persecution during the Third Reich caused a massive brain drain of physicians and scientists. Pediatrics suffered in particular, because half of the German pediatricians had Jewish roots. One of the most renowned younger representatives of German pediatrics who was forced by the Nazis to exile to the USA was Dr. Helmut Seckel. He was the first to describe exactly the bird-headed dwarfs (Seckel syndrome). Exemplarily, Seckel and his colleagues at the University of Cologne Children’s Clinic illustrated the effectiveness of networking in this small discipline of pediatrics. They linked culprits, collaborators and victims before and after the prosecution and emigration. In the scientific field, such networks still exist today. The Cologne example reveals that major topics like expulsion, persecution and annihilation often overshadow conditions that are commonplace in clinical academic institutions, such as careerism, patronization and rivalry.
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Danksagung
Der Autor möchte seinen Kollegen von der Universitätskinderklinik Köln, Prof. Dr. Jörg Dötsch und Prof. Dr. Bernhard Roth, für ihr lebhaftes Interesse und ihre Unterstützung bei der Erforschung der Geschichte ihrer Institution danken. Diese Zusammenarbeit führte zu einer Gedenkvorlesung und zu einer dauerhaften Posterpräsentation über das Schicksal von Helmut Seckel und der anderen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung an der Klinik.
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Interessenkonflikt
D. Schäfer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine vom Autor durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Redaktion
B. Koletzko, München
T. Lücke, Bochum
E. Mayatepek, Düsseldorf
N. Wagner, Aachen
S. Wirth, Wuppertal
F. Zepp, Mainz
Seit 1984 unternimmt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin zahlreiche Anstrengungen, die Schicksale der jüdischen Pädiater im Deutschen Reich zu erforschen.
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Schäfer, D. Pädiatrische Netzwerke im „Dritten Reich“. Monatsschr Kinderheilkd 165, 1102–1108 (2017). https://doi.org/10.1007/s00112-016-0195-7
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00112-016-0195-7
Schlüsselwörter
- Seckel-Syndrom
- Medizingeschichte des 20. Jahrhunderts
- Soziale Netzwerke
- Vertreibung
- Organisation und Administration in der Pädiatrie