Dem Thema Arzneimittelforschung wird von der Öffentlichkeit, aber auch von manchen Kinderärzten mit durchaus gemischten Gefühlen begegnet. So besteht einerseits der Wunsch nach den bestmöglichen Medikamenten für Kinder und Jugendliche, gleichzeitig existieren aber Vorbehalte, Kinder und Jugendliche in Arzneimittelstudien einzuschließen. Nicht selten hört man auch von Eltern den Begriff Versuchskaninchen bezüglich derartiger Studien. Und bei manchen bestehen moralische Bedenken, auf diese Weise zur Gewinnmaximierung der pharmazeutischen Industrie beizutragen.

Tatsächlich existieren in der Pädiatrie nur wenige Bereiche, in denen mit Medikamenten hohe Kostenumsätze gemacht werden, was in der Pharmaindustrie generell die Attraktivität für die Herstellung von Kinderarzneimitteln, insbesondere aber der klinischen Testung neuer Medikamente stark reduziert. Dies führt dazu, dass bewährte Arzneimittel plötzlich nicht verfügbar sind, bestimmte Präparationen aus dem Verkehr gezogen werden, und zahlreiche Medikamente ohne Zulassung für Kinder und Jugendliche verwendet werden müssen („off-label use“). In der niedergelassenen Pädiatrie wird der Anteil derartiger Off-Label-Medikamente auf 30–40 % geschätzt, in bestimmten Spezialbereichen (z. B. der Neonatologie) erreichen sie einen Anteil von 80–90 %.

Während manche in derartiger individueller Heilbehandlung kein echtes Problem sehen, ist durch Studien klar belegt, dass Therapiekomplikationen bei Off-Label-Anwendung etwa doppelt so häufig vorkommen wie bei pädiatrisch approbierten Medikamenten. Zusätzlich besteht für die Verordnenden ein nicht unerhebliches Rechtsrisiko, das im Einzelfall auch zu hohen Schadenersatzforderungen führen kann.

Um die Versorgungssituation mit Arzneimitteln für Kinder und Jugendliche zu verbessern, trat im Januar 2007 die „EU Regulation on Medical Products for Paediatric Use“ (EC No 1901 & 1902/2006; EU: Europäische Union) in Kraft. Diese sieht vor, dass im Rahmen von Zulassungsverfahren neuer Medikamente grundsätzlich auch die Anwendbarkeit bei Kindern untersucht werden muss.

C. Male aus Wien ist österreichischer Delegierter des PDCO („Paediatric Committee“), das nun auf europäischer Ebene mit der Zulassung pädiatrischer Medikamente befasst ist. In seinem Beitrag Bessere Arzneimittel für Kinder beschreibt er die Intention der EU-Verordnung, die Arbeitsweise des PDCO und die Netzwerke, welcher sich dieses Komitee bedient. Wesentlicher Bestandteil für Neuzulassungen ist die individuelle Erstellung eines PIP („paediatric investigation plan“) durch die Hersteller. Neue Medikamente müssen nur dann nicht auf pädiatrische Anwendbarkeit überprüft werden, wenn sie für Kinder nicht in Betracht kommen („waiver“, d. h. Freistellung) oder diese Überprüfung die Zulassung bei Erwachsenen erheblich verzögern würde („deferral“, d. h. Zurückstellung). Der Anreiz für Herstellerfirmen bei der Durchführung pädiatrischer Studien besteht in einem um 6 Monate bzw. 2 Jahre (bei sog. „orphan drugs“) verlängerten Patentschutz. Schließlich sollen auch Studien mit solchen Medikamenten gefördert werden, die nicht mehr unter Patentschutz stehen (PUMA: „paediatric use marketing authorisation“). Male beschreibt, dass zwischen 2007 und 2012 insgesamt 1281 PIP- bzw. Waiver-Anträge eingingen. Die Hauptindikationsgebiete waren Endokrinologie/metabolische Erkrankungen, Infektionskrankheiten, Onkologie, Immunologie/Rheumatologie und Kardiologie. Im Vergleich mit den Anträgen nimmt sich allerdings die Zahl der pädiatrischen Neuzulassungen (13), der Zulassungserweiterungen (30) und der neuen pädiatrischen Formulationen (9) noch relativ bescheiden aus. Male schließt seinen Beitrag mit der Bemerkung, dass es

„für eine weitreichende Verbesserung der Medikamentenversorgung von Kindern v. a. noch mehr Zeit bedarf.“

UAW können ab sofort von der Bevölkerung direkt gemeldet werden

A. Neubert und W. Rascher aus Erlangen befassen sich mit der neuen EU-Pharmakovigilanzverordnung, welche in Deutschland im Oktober 2012 durch die 16. AMG-Novelle (AMG: Arzneimittelgesetz) in deutsches Recht umgesetzt wurde, Österreich folgte im Dezember 2012. Durch die Neuregelung sollen künftig auch unerwünschte Ereignisse registriert werden, die bei der Off-Label-Anwendung von Arzneimitteln beobachtet werden. Die Inzidenz von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) wird von den Autoren unter Berufung auf eine Metaanalyse mit 9,5 % angegeben, wobei Impfungen einen relativ hohen Anteil innehaben. Die neue Pharmakovigilanzverordnung verfolgt die Absicht, die potenziellen Risiken von Arzneimitteltherapien transparenter zu machen. Dies erfolgt u. a. durch Einbeziehung der Bevölkerung, die über Internetplattformen UAW ab sofort auch direkt melden kann. Dies erscheint deshalb vorteilhaft, weil derartige „consumer reports“ oft andere und neue Informationen enthalten und dadurch ärztliche Meldungen gut ergänzen. Ab sofort ist auch eine zentrale Datensammlung in der europäischen Pharmakovigilanzdatenbank Eudravigilance vorgesehen. Diese ermöglicht dem PRAC („Pharmacovigilance Risk Assessment Comittee“) die individuelle Sicherheitsbewertung von Arzneimitteln. Die Autoren beschließen ihren Beitrag mit der Bemerkung, dass es der

„größte Fehler ist, einen Fehler nicht zu melden“,

und der Forderung, dass es in der Facharztausbildung für Kinder- und Jugendmedizin zu einer Ausweitung des Fachs Pharmakologie kommen sollte.

R. Ladenstein aus Wien berichtet über die Etablierung eines nationalen Netzwerks für Arzneimittelforschung in Österreich nach dem Vorbild anderer Länder (z. B. PAED-Net in Deutschland). Das Netzwerk mit dem Namen O.K.ids wurde im Jahr 2012 als Tochter-GmbH der ÖGKJ (Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde) gegründet und stellt eine „private public partnership“ dar. Die Anstoßfinanzierung für dieses Netzwerk erfolgt aus Mitteln des Gesundheitsministeriums, dem Verband der pharmazeutischen Industrie Österreichs (Pharmig) und einer Projektförderung des zwischen Pharmawirtschaft und Sozialversicherungen abgeschlossenen Rahmenpharmavertrags. Unter dem Dach von O.K.ids werden alle in Österreich etablierten Koordinierungszentren für klinische Studien (KKS) eingebunden, in der Absicht, pädiatrische Arzneimittelforschung zu erleichtern und zu fördern. Der Vorteil dieses Netzwerks liegt u. a. darin, dass für die Industrie ein gemeinsamer Ansprechpartner zur Verfügung steht („one stop shop“), der auch die Durchführbarkeitsprüfung („feasibility check“) für spezifische Fragestellungen rasch und kompetent erledigen kann. Auf diese Weise soll innerhalb von 5 Jahren die Zahl pädiatrischer Arzneimittelstudien in Österreich um 50 % erhöht werden. Weitere Ziele von O.K.ids sind u. a. die Erstellung gemeinsamer Therapieleitlinien und die Aufnahme in das pädiatrische EU-Netzwerk EnprEMA („European Network of Paediatric Research at the European Medicines. Agency“). Schließlich wird für O.K.ids ab 2018 der wirtschaftliche Selbsterhalt angestrebt.

Der ethische Aspekt von Arzneimittelstudien wird von J. Boos aus Münster beleuchtet. Die ethische Herausforderung ergibt sich einerseits aus dem Recht der Kinder auf wissenschaftlich gesicherte Medikamente, andererseits aus der nicht auszuschließenden Möglichkeit, im Rahmen einer Studie auch einmal einen Nachteil zu erfahren. Boos betont, dass eine Arzneimittelstudie bei Minderjährigen nur dann legitim ist, wenn diese zumindest einer Gruppe von Erkrankten direkten Nutzen in Aussicht stellen kann, und eine solche Prüfung den einzigen Weg zur Klärung der Fragestellung darstellt. Dabei kommt der Equipoise (d. h. der tatsächlichen Unsicherheit in Bezug auf die Studienfrage) besondere Bedeutung zu. Schließlich verweist der Autor auf das mögliche Dilemma, das sich für Kinderärzte im Spannungsfeld zwischen Patientenverantwortung und Forschungsverpflichtung ergeben kann. Er spricht sich in diesem Zusammenhang für eine gegenüber Patienten und Eltern offene und ehrliche Kommunikation aus, wobei in den durchzuführenden Aufklärungsgesprächen durchaus auch der gruppennützige experimentelle Charakter zur Sprache kommen soll.

Wir hoffen, mit diesem Themenheft einen weniger alltäglichen Schwerpunkt so dargestellt zu haben, dass auch die in der pädiatrischen Praxis tätigen Kolleginnen einen Einblick in die geltenden und teilweise neuen Regelwerke der pädiatrischen Arzneimittelforschung bekommen, die letztlich zu einer besseren Versorgung mit kinderspezifischen bzw. kindergerechten Arzneimitteln beitragen sollen.

Leoben im Januar 2013

Prof. Dr. R. Kerbl