Einführung

Der Mensch reagiert nicht auf seine Umwelt, sondern eignet sich diese an: Kontinuierlich nutzt und gestaltet er sie mit und um. Dieses Grundverständnis kennzeichnet die Architekturpsychologie. Basisannahme dabei ist, dass Umwelteinflüsse im urbanen Raum nicht direkt auf Menschen wirken, sondern über deren subjektive, meist unbewusste Wahrnehmungen und deren Bewertung. Architekturpsychologie galt lange Zeit als vernachlässigter Teil der Umweltpsychologie [1]. Mit zunehmender Bedeutung des Diskurses um schrumpfende Klein- und sich verdichtende Großstädte sowie der daraus resultierenden Notwendigkeit, Städte neu zu gestalten, hat die architekturpsychologische Forschung deutlich an Bedeutung gewonnen. Insbesondere zur Kompensation von Umweltstress ist die Rolle von Grünräumen in Städten ein häufig zitiertes Forschungsfeld im Rahmen der Stadtgesundheit [2]. Darüber hinaus stehen die Themen Lebensqualität, Wohnzufriedenheit und Sicherheit im Mittelpunkt (vgl. [3]).

Die Einsicht zur Integration architekturpsychologischen Wissens in Stadtplanung und Architektur ist allerdings bereits ein halbes Jahrhundert alt. Bereits Antero Markelin [4], seinerzeit Ordinarius für Städtebau der Universität Stuttgart, schlussfolgert in seinem Buch Mensch und Stadtgestalt: „Der Wandel, dem die Gesellschaft unterworfen ist, schlägt sich auch in der Form der Stadt nieder. Wohl wird der Städtebau als technische Aufgabe im Wesentlichen bewältigt, aber als kulturelle Aufgabe … wird er nicht gemeistert. … [Das Vorgehen der Stadtplaner] ist nicht immer frei von Einseitigkeit, Oberflächlichkeit und Willkür, doch lässt sich verallgemeinernd feststellen, dass der Mensch und seine Bedürfnisse immer umfassender und differenzierter gesehen werden … [und] der Städtebauer die Ergänzung seines Blickwinkels durch die Erfahrungen und Urteile anderer, die über den Menschen etwas auszusagen vermögen [sucht]“.

Während der Zusammenhang zwischen Stadtarchitektur und Gesundheit damals intuitiv plausibel schien, beschäftigt sich die moderne Wissenschaft mit der empirischen Beweisführung, um daraus architektonische Interventionen abzuleiten. Unter dem Stichwort Healthy City ist die Zahl an verfügbaren wissenschaftlichen Veröffentlichungen inzwischen rasant angestiegen. Diese Zahlen und der multidisziplinäre Charakter der Studien stellen eine zunehmende Herausforderung, vor allem für die Wissensanwender, Architekten und Städtebauer, dar. Ziel dieses Beitrags ist daher, im Rahmen einer selektiven Literaturanalyse einzelne Erkenntnisse systematisch zusammenzufassen und kritisch zu bewerten. Dies erfolgt aus architekturpsychologischer Sicht und exemplarisch an 3 zentralen gesundheitsdefinierenden Bedürfnissen, die durch Stadtarchitektur „gesättigt“ werden können: Stimulation, Identifikation und Privatheit.

Erklärungsmodelle zum Einfluss von Stadtarchitektur auf Gesundheit

Die wissenschaftliche Literatur zur Auswirkung der Stadtarchitektur auf die Gesundheit unterscheidet 2 Wirksamkeitsrichtungen: Negative, nachweislich gesundheitsschädigende und positive, gesundheitsförderliche Einflüsse (vgl. [5]). Zur Erklärung dieser Wirkungen geht die Psychologie von Grundbedürfnissen aus, deren Sättigungsgrad individuellen Ausprägungen unterliegt und die durch externe Faktoren, zu denen Architektur zählt, unter- oder übersättigt werden können. In beide Richtungen lassen sich Gefühlslagen beschreiben, die einen Krankheitswert annehmen können. Besteht beispielsweise ein Übermaß an Privatheit, kommt es zu Anonymitätsverhalten, das u. U. in eine Depression mündet. Bei einem Unterangebot entsteht Verfremdung als mögliche Basis einer paranoiden Störung. Das Schizophrenierisiko ist für Stadtbewohner doppelt so hoch wie für Landbewohner, das Risiko einer Depression 1,4-mal so hoch [6]. Die ungesunden Bedürfnissättigungen unserer Städte drücken sich in diesen Zahlen messbar aus. Abb. 1 stellt den Wirkungszusammenhang in einem dynamischen Modell schematisch dar. Der Name PAKARA-Modell resultiert aus der Abkürzung der 3 Sektoren: präventive Architektur, kurative Architektur und rehabilitative Architektur, in die das Modell die Wirkung architektonischer Interventionen gliedert.

Abb. 1
figure 1

Das PAKARA-Modell: Sektorale Gliederung (in Präventive Architektur, Kurative Architektur und Rehabilitative Architektur) des Wirkungszusammenhangs von Architektur auf Gesundheit und seiner bipolaren Abhängigkeit vom Sättigungsgrad psychologischer Grundbedürfnisse

Während im präventiven Sektor die Wechselwirkung von Architektur und Mensch dazu führt, dass Gesundheitsschädigungen vermieden werden, trägt im kurativen Sektor Architektur dazu bei, Gesundheit wiederherzustellen. Für diesen Bereich wird seit den 1990er-Jahren der Begriff der Healing Architecture verwendet [7]. Der dritte, rehabilitative Sektor schließt alle Auswirkungen einer gebauten Umwelt ein, die zur Stabilisierung der Gesundheit beitragen.

Das PAKARA-Modell unterscheidet sich sowohl durch die Abgrenzung der 3 unterschiedlichen Interventionsebenen als auch durch die Definition zweier Einflusspole (Unter- versus Übersättigung) deutlich von anderen Erklärungsmodellen. Es wurde 2019 von den Autoren an der TU München im Rahmen des Projektes Architektur, Psychologie und Globale Gesundheit entwickelt und wird hier erstmals vorgestellt. Ein wesentlich breiteres Erklärungsmodell liefert beispielsweise das Social Determinants of Health and Environmental Health Promotion Model von Schulz und Northridge [8]. Es beschreibt Einflussfaktoren auf 4 Ebenen: Die Makroebene benennt die Faktoren der natürlichen Umwelt, z. B. Topografie, Klima, Wasserversorgung, die makrosozialen Faktoren, z. B. historische, politische und wirtschaftliche Bedingungen sowie die Ungleichheiten, z. B. Verteilung von Wohlstand, Beschäftigung, Bildung. Die Mesoebene benennt als intermediäre Faktoren die gebaute Umwelt, z. B. Landnutzung, Transportsysteme und Gebäude, den sozialen Kontext, z. B. Gemeinschaftsinvestitionen, öffentliche und steuerliche Politik sowie Bürgerbeteiligung. Die Mikroebene repräsentiert die proximalen Faktoren, u. a. Gewaltkriminalität, finanzielle Unsicherheit, Umweltgifte, die Faktoren des Gesundheitsverhaltens sowie soziale Integration und Unterstützung. Erst am Übergang von der dritten auf die vierte, die individuelle Ebene werden die sich direkt auf die Gesundheit der Individuen auswirkenden Faktoren beschrieben, die das PAKARA-Modell ausschließlich betrachtet.

Im Sinne einer Verstärkung des Praxisbezugs und der Anwendbarkeit der Modelle für die Stadtarchitektur scheint eine Faktorenreduktion gerechtfertigt. Von einer solchen geht auch ein drittes Modell aus, das der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen [9] vorgestellt hat. Es definiert die 4 Dimensionen Umwelt, Teilhabe, Einfluss und Soziales, von denen bereits 8 Implikationen der Gesunden Stadt abgeleitet werden können:

  • Umwelt: 1. Begehbarkeit, Befahrbarkeit mit dem Fahrrad (Walkability/Cycleability), 2. multifunktionale Räume, 3. Identifikationsräume, 4. Erholungsräume,

  • Teilhabe: 5. Frequenz und Nutzungsart multifunktionaler Räume,

  • Einfluss: 6. Existenz von Experimentier- und Aneignungsräumen,

  • Soziales: 7. Ausprägung der sozialen Kohäsion und 8. Ortsbindung.

Wie einführend angegeben, stellen wir im Folgenden anhand von 3 Grundbedürfnissen, Stimulation, Identifikation und Privatheit, den Einfluss von Stadtarchitektur auf Gesundheit dar. Dabei wird deutlich, dass die Balance der Einflusspole, wie im PAKARA-Modell dargestellt, wichtigste Grundvoraussetzung der Aneignung des städtischen Raumes ist. Das Aneignungspotenzial einer Stadt ist wiederum die Voraussetzung jedweder psychosozialen Gesundheit ihrer Bewohner. Thomas Sieverts, seinerzeit Ordinarius für Städtebau an der TH Darmstadt, benennt es folgendermaßen: „… fertig vorgeplante, sorgfältig kontrollierte, formalästhetische Vielschichtigkeit kann wahrnehmungsgemäß reduziert und im Bedeutungsgehalt sogar negativ besetzt werden, wenn … wesentliche Kategorien … in der Konzeption nicht berücksichtigt worden sind. … ohne Spielräume für eigenes Hinzufügen als ‚Marksteine‘ der gelebten Zeit, der Selbstbestimmung, ohne Freiraum für An- und Umbauten, für geschichtliche Alterungsprozesse, für Umfunktionieren und Bedeutungswandel kann auch in der interessantesten städtebaulichen Komposition kein Milieu entstehen, …“ [10].

Der Begriff der Aneignung geht auf den sowjetischen Psychologen Alexei Nikolajew Leontjew zurück, der die Entwicklung des Menschen nicht nur als innerpsychischen Prozess verstand, sondern als Wechselbeziehung äußerer und innerer Umstände [11]. Die Ausdehnung auf einen Raumaneignungsbegriff vollzog sich anhand weiterer Denk- und Forschungsmodelle (vgl. [12]). Zum Aneignungspotenzial, das das Wohlbefinden der Stadtbewohner bestimmt, gehört beispielsweise der nahezu grenzenlose und schnelle Wechsel zwischen den ambivalenten Polen der einzelnen Bedürfnislagen: „heute grün, morgen Asphalt“. Durch die permanente Vergrößerung, Verdichtung und Prêt-à-porter-Gestalt der Städte ist dieser Wechsel immer stärker eingeschränkt und gefährdet die Gesundheit der urbanophilen Bewohner. Zukünftig wird die drohende architektonische Monokultur der Städte den größten Einfluss auf die (psychische) Gesundheit der Menschen haben.

Einflussfaktor Stimulation: Architektur zwischen Overload und Langeweile

Architektur, die sich auf das Bedürfnis nach Stimulation richtet, gibt Antwort auf die Frage: „Was sehe, höre, fühle und worin verliere ich mich?“, und trägt aktiv zur Aufrechterhaltung der Gesundheit und des Wohlbefindens bei. Im Allgemeinen können 5 Stimulationsaspekte unterschieden werden [13]: Stimulation von Kontaktpflege, Aktivität, Wahrnehmung, Lern- und Hilfsbereitschaft. Kontaktpflege bezeichnet Quantität und Qualität sozialer Bindungen, die mit dem Wohlbefinden und der physischen Gesundheit korrelieren [14]. Gerade die großen, institutionellen Gebäude der Stadt, wie das niederländische Kulturforum in Groningen, können, durch eine auf diesen Aspekt gerichtete Architektur, einen wichtigen Beitrag zur sozialen Gesundheit der Stadtbewohner leisten [15]. Mit Blick auf den städtischen Kontext ist der Aspekt der Hilfsbereitschaft hochinteressant: Neben der sozialen Sicherheit kann architektonisch gesteigertes, prosoziales Verhalten die Lebensfreude der Bewohner positiv beeinflussen [16]. Ein verstärkter sensorischer Kontakt, direkte Interaktion, vermehrte Vielfalt und Multidimensionalität in der Detailwahrnehmung sind die besten Voraussetzungen für einen reicheren Erlebnisgehalt und höheren Erholungsgrad (vgl. [17]). Studien zur körperlichen Aktivität belegen einen ebensolchen positiven Zusammenhang [18]. Die Klaviertreppe in Stockholm [19] ist eines der ersten Beispiele einer auf diesen Aspekt gerichteten stimulierenden Stadtarchitektur.

Sorgt Architektur in Städten für Hyperstimulation, also für Überschreitung persönlicher Sinneskapazitäten, kommt es zur sensorischen und neurologischen Überlastung – dem sogenannten Overload [20]. Der daraus resultierende Stress kann zu psychischen und somatischen Erkrankungen führen [21]. Weisen Stadtarchitekturen hohe soziale Dichten auf, kommt es zur Überstimulation durch einen wahrgenommenen Kontrollverlust [22]. Die Architektur kann Kontrollüberzeugung reaktivieren sowie die negative Wahrnehmung von Gedrängeerlebnissen, sogenanntem Crowding, reduzieren [23], indem sie Fluchtpunkte und Öffnungen im städtischen Gewebe schafft. Auch die Bereitstellung privater Territorien und Sichtbarrieren führen zum Erfolg. Affordanzen können ebenfalls eine Methode zur Unterstützung der Bewohner sein. Der Begriff geht auf den Wahrnehmungspsychologen James J. Gibson zurück und beschreibt heute den Selbstmitteilungsgrad eines Objektes oder einer Umwelt [24]. Affordanzen helfen uns, wichtige Informationen zu filtern und weniger wichtige auszublenden. Ein Straßenzug, bei dem unerkenntlich ist, ob Menschen hinter Mauern und Fenstern wohnen, arbeiten oder singen, ist beispielsweise wenig affordant. Die resultierende Gesundheitsgefährdung besteht in der gesteigerten Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sowie einem verschlossenen und misstrauenden Verhalten. Gesteigerte Affordanz beugt diesen Effekten vor und fördert Gesundheit. Vor allem Menschen mit schweren körperlichen, neurodegenerativen oder kognitiven Erkrankungen profitieren von dieser Klarheit [25].

Überwiegt Affordanz allerdings in der Stadtarchitektur als Resultat vollkommener Klarheit und Eindeutigkeit, wird das menschliche Bedürfnis nach Originalität und Entdeckungsdrang vernachlässigt. Wir fühlen uns dann gelangweilt und wenden uns ab, auch voneinander. Moderne Städte weisen heute nicht selten geschlossene und monotone Fassadenblöcke auf. Die Kunsthistorikerin Monika Wagner [26] kommt zu dem Schluss, dass sich u. a. in der Berliner Friedrichstraße am deutlichsten zeigt, dass die einheitliche Bebauung eines ganzen Quartiers, noch dazu in einem modularen Raster, für die Wahrnehmung aus Perspektive des Fußgängers langweilig wird. „Da sorgen nur die Auslagen der Schaufenster für Abwechslung.“ Langeweile ist der Beginn einer Gemütserkrankung. Moderne, monotone Stadtbebauung senkt messbar die Stimmung der Bewohner [27], während Straßenzüge mit 100-jährigen Häusern als behaglich und wohltuend erlebt werden [28]. Der aktuell im Diskurs der gesunden Stadt häufig zitierte Erholungseffekt von Grünräumen sollte vor dem Hintergrund der übersteigerten Affordanz differenzierter diskutiert werden, um nicht im schlichten Versuch, die Stadt gänzlich zu durchgrünen, zu scheitern. Der Trierer Architekt Gerd Albers führt bereits 1957 an [29]: „… mit dem Streben nach Auflockerung verbindet sich häufig ein bestimmtes Ideal der Lebensform in dieser neugeordneten Stadt … eine gesündere Lebensweise, eine Verringerung der Krisenanfälligkeit, … ästhetischer, hygienischer, wirtschaftlicher, bevölkerungspolitischer und psychischer Gewinn. … Die Stadt als Menschenwerk soll [dabei aber] klar von der Natur abgegrenzt, die Spannung zwischen beiden Umweltformen bewahrt werden zum Wohle ihrer Bewohner, die gelegentlich des ausgleichenden Einflusses der fremden Umgebung bedürften“.

Einflussfaktor Identifikation: Architektur zwischen Fanatismus und Gleichgültigkeit

Architektur, die sich auf das Bedürfnis nach Identifikation richtet, gibt Antwort auf die Frage: „Worin sehe, höre und finde ich mich wieder?“ Die Eigenschaft des Menschen, sich an einen geografischen Ort zu binden, sich mit ihm zu identifizieren, nennt man Ortsverbundenheit (vgl. [30]). Sie ist ein Prädiktor für hohe Lebensqualität (vgl. [31]). Lewicka wies höhere Lebenszufriedenheit und engere Nachbarschaftsverbundenheit von ortsverbundenen Menschen nach [32]. Architektur, die Identität schafft, motiviert die Bewohner zur Teilhabe, zum Schutz und zur Verbesserung ihrer Bezirke, sie verstärkt das lokale und soziale Engagement [33] und führt zu weniger Verschmutzung und Vandalismus [34]. Je stärker Stadtarchitektur ihr Potenzial des Facettenreichtums ausschöpft, desto mehr Identifikationsmöglichkeiten werden eröffnet. Verlässlich ist dabei, dass weniger konforme Verhaltensweisen am ehesten in Städten toleriert werden [35]. Gleichzeitig können Städte auch eine eigene Identität besitzen, die Impulse für Identifikation schaffen. Die Architektur spielt dabei eine zentrale Rolle, denn sie repräsentiert „die nonverbale Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft und die Aufzeichnung ihrer kulturellen Entstehung“ (übersetzt nach [36]). Dabei haben besonders die Oberflächen kommunikative Funktionen. Im städtischen Raum vermitteln sie sensorische, visuelle und taktile Wahrnehmungsreize. Eine reich gegliederte oder ornamentierte Fassade kann, im Unterschied zu einer homogenen, beim schnellen Fahren völlig anders wirken als beim Vorbeischlendern. Wir erfahren in diesem Kontakt, wo wir sind, wann wir sind, wie und was wir sind. „Im komplexen Gefüge einer Großstadt mögen derartige Oberflächenreize marginal erscheinen. Gleichwohl tragen sie über die funktionale Differenzierung hinaus erheblich zu den feinen Unterschieden der urbanen Milieus bei, indem sie spezifische Atmosphären … der Innenstädte erzeugen. Reingeschrieben in die materiellen Oberflächen städtischer Räume … sind ästhetische Codes, die maßgeblich an der Regulierung sozialer Zugehörigkeiten beteiligt sind. … Daran sind Zuschreibungen von Wertigkeiten und Bedeutungen an einzelnen Materialien beteiligt, die oft auf langlebigen kulturellen Traditionen basieren“ [26].

Die übersteigerte Identifikation mit der eigenen Stadt oder Siedlung kann in den sogenannten Siedlungsfanatismus umschlagen. Als beispielhaft für diese Entwicklung gelten Gated Communities. Studien zeigen, dass das ursprünglich amerikanische Phänomen dieser geschlossenen, monotonen, antiindividuellen Stadtsiedlungen in jüngster Zeit auch in Europa eine starke Zunahme verzeichnet [37]. Die Architektur der Gated Communities stärkt die Ingroup, der alle Bewohner der Community angehören, und spaltet sich von Outgroups, allen die nicht zu dieser Gemeinschaft gehören, ab. Dies beeinflusst den sozialen Zusammenhalt negativ und führt zu einer ungesunden Privatisierung des Stadtmanagements. Bewohner, die sich einzig mit ihrer eigenen Umgebung, ihrem Quartier verbunden fühlen und dieses Gefühl gestalterisch verstärken, enden in der kategorischen, fanatischen Ablehnung anderer Umwelten und der Ausgrenzung anderer. Im Rahmen der aktuellen Resilienzdebatte werden die fanatismusspiegelnden urbanen Architekturen als wunde Punkte einer sich gesund entwickelnden, krisenfesten und regenerativen Stadt definiert (vgl. [38]).

Können sich Stadtbewohner nicht an ihren Ort, ihr Quartier binden, resultiert Gleichgültigkeit. Die Stadt wird zu einem irrelevanten Raum, der austauschbar und wertlos scheint. Sogenannte Nicht-Orte [39] können eine solche Entwicklung anstoßen. Beispiel hierfür sind die unzähligen monofunktional genutzten Flächen für Einkaufszentren und Shoppingmalls. Sie unterscheiden sich von den traditionell gewachsenen Architekturen durch das Fehlen von Geschichte und Vorherrschen kommunikativer Verwahrlosung ihrer Oberflächen. Wird Ortsverbundenheit entzogen, sinkt das soziale Engagement (vgl. [33]) und es kommt nicht zur wichtigen Aneignung. Die Symptome, dass Mensch und Stadt erkranken, werden als Aggression, Verschmutzung und Vandalismus (vgl. [39]) sichtbar. Eine Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, ist die Bewohnerpartizipation. Die Beteiligung der Bewohner an stadtplanerischen und architektonischen Entscheidungen wird nicht unkritisch gesehen. Zwar zeigen Studien, dass bei Einbezug der Bürger die Ortsverbundenheit steigt [40], jedoch beteiligen sich häufig jene Bürger, die ohnehin aktiv ins Gesellschaftsleben eingreifen. Eine repräsentativ identitätsstiftende Architekturgestalt entsteht nur bei einer divers und breit angelegten Partizipation [41]. Der Philosoph und Kulturhistoriker Georg Simmel weist bereits vor 100 Jahren darauf hin, dass „der Mensch … ein Unterschiedswesen [ist], d. h., sein Bewusstsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewusstsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, … Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft, mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens, stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens … einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben …“ [42].

Einflussfaktor Privatheit: Architektur zwischen Anonymität und Verfremdung

Architektur, die sich auf das Bedürfnis nach Privatheit richtet, gibt Antwort auf die Frage: „Wo sehen, hören, bestimmen mich die anderen nicht?“ Aus psychologischer Sicht ist die Stadt der erweiterte Lebensraum, den wir alltäglich mit Fremden zu teilen gezwungen sind. In dieser Definition liegt bereits das Paradox einer psychologisch gedeuteten Stadtgesundheit auf dem Betrachtungsniveau Privatheit. Einerseits fühlt sich Mensch wohl und gesund, wenn er sich Raum zu eigen machen und individualisieren kann, sich Frei- oder Schutzräume schafft. Andererseits führt ihn dies, da Stadtraum begrenzt und nicht unendlich in individuelle Freiräume unterteilbar ist, in einen permanenten Konflikt mit mindestens einem Menschen, der gleiches versucht. Konfliktmeidende Menschen erleben diesen Zustand als psychisch belastend. Ihr Immunsystem ist in ständiger Alarmbereitschaft; der soziale Stress steigert ihr Risiko an einer Angststörung oder psychosomatischen Störung zu erkranken. Lediglich ein mehrheitlich selbstbestimmt gestaltetes Leben trägt zur stabilen psychischen Gesundheit bei [43].

Weist die gebaute Umwelt ein Übermaß an Privatheit auf, kommt es zur Anonymität, in der Literatur oftmals als soziale Isolation beschrieben [44]. Der Soziologe Wirth weist nach, dass die Stadtgesellschaft oberflächlich und anonym ist und zu sozialer Leere führen kann [45]. Der Psychologe Hellpach [46] ergänzt, dass neben wechselseitigem Desinteresse an den Stadtbewohnern sogar geringes Interesse hinsichtlich deren Wohlergehens zu verzeichnen ist. Der städtische Wohnraum zeigt diverse Typologien, die soziale Isolation unterstützen. Wohnungen in Hochhäusern beispielsweise können kurzfristig einen Erholungseffekt bewirken, der auch als Being-away-Effekt [47] bekannt ist. Langfristig verringert sich dieser jedoch und Symptome sozialer Isolation steigen an. Mit zunehmendem Aufenthalt verstärkt sich der Isolationsgrad und erhöht sich die Wahrscheinlichkeit innerer Unruhe, Unwohlseins, Gereiztheit, Lethargie, depressiver Verstimmungen und körperlicher Beschwerden [48]. Betroffene reagieren mit einem erhöhten Medienkonsum, der Suche nach Ersatzstimuli über andere Sinnesmodalitäten (Naschen, Essen, Trinken etc.) oder einer sensibilisierten Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Schmerzwahrnehmung. Aus aneignungsbezogener Sichtweise spielt in höheren Wohnbereichen die Distanz zu potenziell verfügbaren Aneignungsmöglichkeiten, beispielsweise Aufenthalts- und Spielbereichen, eine große Rolle [49]. Stellen eingeschränkte Sicht- oder Lauflinien eine Aneignungshürde dar, sind besonders jüngere Kinder, die abhängig vom Kontrollbereich der Eltern sind, in Form von verminderter Stressresistenz und beeinträchtigter Autonomieentwicklung betroffen [50].

Ein Überangebot an Privatheit, das in soziale Isolation mündet, kann durch die Stadtarchitektur mithilfe sogenannter Behavior Settings relativiert werden. Hierunter werden natürliche Einheiten von zeitlich-räumlich-dinglichen Objekten und Verhaltensmustern [51] verstanden. Charakteristische Beispiele sind „Sitzgelegenheiten“ [17] oder „vor Witterungseinflüssen und zu viel Sonne schützende Überdachungen“ [17]. Wohngebäude in Städten hemmen häufig die soziale Interaktion. Aufzüge bringen Personen physikalisch zwar in einen gemeinsamen Raum, dieser repräsentiert jedoch ausschließlich Kontaktvermeidung [48]. Bereits in den 1920er-Jahren haben Architekten hier angesetzt. Le Corbusier schaffte in seinen Unités ganze Geschosse, die der sozialen Gesundheit ihrer Bewohner dienten: Dachterrassen, Schulen, Versorgungs- und Einkaufsstraßen sowie Lobbys. Jedes Hochhaus wurde architektonisch, sowohl vertikal als auch horizontal, in kleine Einheiten geteilt und somit gestalterisch, aber auch sozial dem Ausdruck von Anonymität entgegengewirkt. 1971 schufen die Architekten Smithsons mit Robin Hood Gardens in London den Prototypen antianonymer Stadtarchitektur.

Überschreitet die Aufhebung der Privatheit zugunsten gesteigerter sozialer Interaktion und Vermeidung von Isolation ein bestimmtes Maß, kommt es zum Mangel an Privatheit, der vor allem das Individuum gesundheitlich schädigt (vgl. [43]). Mangel an Rückzugsraum und Kontrolle, über eigene Grenzen und Selbstbestimmung hinweg, führt langfristig in das Gefühl der Verfremdung. Menschen gehen ihren individuellen Bedürfnissen nicht nach – zumindest nicht, ohne sich unter Beobachtung zu fühlen. Einige Autoren widersprechen – trotz der typischen hohen sozialen Dichte in Städten – einem Fehlen an Rückzugsraum [17]. Begründet wird ihre Haltung damit, dass die umgebenden Menschen, hauptsächlich Fremde seien, von denen Abgrenzung möglich ist. Dieser Einschätzung fehlt der Einbezug der unbewusst und permanent vorherrschenden Bewältigung des Paradoxes aus Aneignung und Abgrenzung in der Stadtgemeinschaft. Dieses ist unabhängig vom Bekanntheitsgrad des Gegenübers und setzt vor allem konfliktschwache und kranke Menschen erheblichem Stress aus, der messbar ist [52]. Mangel an Privatheit betrifft in Städten öffentliche Plätze ebenso wie Wohnungen. Flächenknappheit und Verdichtung führt zu immer kleineren, genormten Grundrissen, in denen individueller Rückzugsraum nicht vorkommt oder geschaffen werden kann. Innenhöfe werden beispielsweise durch das Einbringen zusätzlicher Seitenflügel oder Zentrumsbauten derart verkleinert, dass Bewohnern nur noch der dauerhafte Verschluss ihrer Fenster bleibt, um Privatheit herzustellen. Elizabeth Burton vom Institute for Health der Universität Warwick beschreibt in ihren Studien zu Wellbeing in Sustainable Environments (WISE), dass nicht die bauliche Dichte im Allgemeinen ungesund ist und Stress verursacht, sondern die Form der urbanen Dichte [53]. Das Moriyama House in Tokio, entworfen von SANAA ’S Ryue Nishizawa, ist ein Beispiel eines kreativen Umgangs mit dem Aneignungs-Abgrenzungs-Paradox. Es bietet eine Vielfalt unterschiedlicher Raumkonfigurationen. Das Raumgefüge ist polyzentrisch und besteht aus einzelnen Baukörpern, die kein einzelnes Zentrum bilden und keine Grenzlinie ziehen. Innerhalb der einzelnen Baukörper befinden sich sowohl gemeinschaftliche als auch private Bereiche. Fenster sind so angelegt, dass sich Personen hierdurch gegenseitig nicht sehen können. Der Garten verbindet die einzelnen Baukörper und ist ein aktives Bindeglied sowie zentraler Bestandteil des kollaborativen Wohnkonzeptes.

Fazit

Der Architekt und Stadtplaner Antero Markelin eröffnet sein Buch Mensch und Stadtgestalt mit den Worten: „Der äußere Zustand unserer Städte verursacht heute den Verantwortlichen eben so viel Unbehagen wie den Betroffenen – die wir alle sind. … Ihre Ursachen sind nicht nur ästhetischer, sondern – was bemerkenswert ist – auch sozialer und psychologischer Art. … Allzu lange wurde die Qualität der Stadtgestalt ebenso als Aspekt der Stadtplanung wie als kommunalpolitische Aufgabe vernachlässigt. Heute sieht man die Folgen, weiß aber noch keine Antwort“ [4].

46 Jahre nach Markelins passgenauer Analyse der Stadtarchitektur und ihrer Wirkung auf die heute der Gesundheit zugerechneten Parameter Lebensqualität und Wohlbefinden stellen wir uns erneut oder (leider) noch immer diese Fragen. Im Unterschied zu damals liegen heute zahlreiche Befunde und hilfreiche Modelle zur Entwicklung architektonischer Antworten vor. Besonders in Hinblick auf den Anstieg der weltweiten Stadtbevölkerung und der damit verbundenen Komplexität bedürfnisorientierter Gestaltung besteht die zukünftige Herausforderung darin, interdisziplinäre Zusammenarbeit auszubauen. Über die Forschung hinaus sollten künftig Jurys, Konzeptentwicklungsgremien und Planergemeinschaften stärker architekturpsychologisch und gesundheitswissenschaftlich besetzt sein. Seit jeher besteht ein Zusammenhang zwischen der Planung und Architektur einer Stadt und der Gesundheit ihrer Bevölkerung. In diesem Zusammenhang „liegt der Ursprung des stadtplanerischen Berufsstandes“ überhaupt erst begründet [54]. Vor dem Hintergrund heutiger architekturpsychologischer Erkenntnisse könnten und sollten sich Stadtplaner, Politiker und Architekten zukünftig stärker auf diesen Ursprung besinnen und vornehmlich die präventive Architektur in den Fokus ihrer Stadtgestalten rücken. Denn nur beim oberflächlichen Blick ist der Mensch und seine Gesundheit Opfer der Stadt. Wer tiefer schaut, erkennt, dass die Stadt der eigentliche Patient ist, den es zu heilen gilt. Wenn wir versäumen, die Bedürfnisse des einzelnen – auch wenn sie einander widersprechen und sich im Laufe des Lebens wandeln – als Motor der Gesundheit einer ganzen Gemeinschaft anzuerkennen, wird es nicht gelingen, zu nachhaltigen Lösungen zu gelangen, und die Klage über die ungesunde Stadt wird fortbestehen.