Liebe Leserin, lieber Leser,

in der Ihnen hier vorliegenden Ausgabe des Bundesgesundheitsblatts finden sich unter der Rubrik „Tätigkeitsberichte“ zwei ausführliche Hintergrundpapiere der Ständigen Impfkommission (STIKO). Es handelt sich dabei um Evidenzgrundlage und Rationale für die Empfehlung zur Pneumokokken-Impfung von Senioren und zur Influenza-Impfung von Senioren und Personen mit chronischen Grundkrankheiten. Auf den ersten Blick scheint sich in Bezug auf die Empfehlungen nicht viel geändert zu haben. In den letzten Jahren sind jedoch zu beiden Themenbereichen neue Studien publiziert worden, und zur Prävention der Pneumokokken-Erkrankung bei Erwachsenen steht neben dem 23-valenten Pneumokokken-Polysaccharidimpfstoff (PPSV23) seit Ende 2011 mit dem 13-valenten Pneumokokken-Konjugatimpfstoff (PCV13) ein weiterer Impfstoff zur Verfügung. Beides hat die STIKO dazu bewogen, die existierenden Impfempfehlungen zu evaluieren bzw. die gewachsene Evidenzbasis zusammenzuführen und neu zu bewerten.

Vor fünf Jahren hat die STIKO eine neue Standardvorgehensweise für die systematische Entwicklung von Impfempfehlungen etabliert. Hauptziele dieser Vorgehensweise sind eine hohe wissenschaftliche Qualität der STIKO-Arbeit sowie eine höhere Transparenz und damit Nachvollziehbarkeit ihrer Entscheidungen. Auf diese Weise soll die Arbeit des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), der auf Basis der STIKO-Empfehlungen über die Aufnahme von einzelnen Impfungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen entscheidet, unterstützt werden. Die ausführlichen Begründungen sollen aber auch die impfende Ärzteschaft dabei unterstützen, ihre Patienten durch Fakten zu Nutzen und Risiko der Impfung zu informieren. Schließlich soll möglichen Kritikern auch transparent dargestellt werden, dass die jeweilige Empfehlung auf Basis der besten verfügbaren Evidenz zustande kam. Um den Austausch mit internationalen Impfkommissionen zu fördern und eine kritische Begutachtung durch internationale Experten zuzulassen, veröffentlicht die STIKO ausgewählte Hintergrundpapiere auch in englischer Sprache.

Herzstück der evidenzbasierten Bewertungen sind systematische Übersichtsarbeiten zur Wirksamkeit und Sicherheit der jeweiligen Impfstoffe, wobei neben Zulassungsstudien auch Beobachtungsstudien einbezogen werden, die zusätzliche Erkenntnisse z. B. zur Wirksamkeit in besonderen Risikogruppen oder zur Dauer des Impfschutzes liefern und die Evidenzbasis erweitern können. Durch die systematische Aufarbeitung können Wissenslücken bzw. der Bedarf für qualitativ hochwertige Studien identifiziert werden, wie beispielsweise in Bezug auf die Wirksamkeit der Influenza-Impfung bei Patienten mit Asthma bronchiale oder mit chronisch obstruktiver Lungenerkrankung. Selbst wenn eine Vielzahl von Studien identifiziert wird, kann die Aussagefähigkeit aufgrund geringer Studienqualität eingeschränkt sein, wie z. B. bei der Fragestellung zur Wirksamkeit der Influenza-Impfung bei Diabetes-Patienten, für die immerhin 14 Studien in die im STIKO Hintergrundpapier veröffentlichten Metaanalyse eingeschlossene werden konnten. Solide Metaanalysen können aber auch gängigen Fehleinschätzungen entgegentreten. So konnte z. B. in einer systematischen Übersichtsarbeit zur Pneumokokken-Impfung gezeigt werden, dass bei Senioren PCV13 und PPSV23 eine vergleichbare Wirksamkeit haben, Pneumokokken-Erkrankungen durch die im jeweiligen Impfstoff enthaltenen Serotypen zu verhindern. Eine vor kurzem publizierte andere Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit der PPSV23-Impfung hatte hingegen nahegelegt, dass diese keine Effektivität in Bezug auf die Verhinderung von Pneumokokken-bedingter Pneumonie habe. Allerdings wurden in  diese Metaanalyse zwei Studien einschlossen, die eine umstrittene Methode zum Nachweis der Pneumokokken-Pneumonie nutzten [1]. Federführende Autoren dieser Metaanalyse haben als Angestellte des Herstellers des Konkurrenzprodukts Interessenskonflikte deklariert. In einer weiteren systematischen Übersichtsarbeit der STIKO-Geschäftsstelle am Robert Koch-Institut konnte gezeigt werden, dass die häufig zitierte immunologische „hyporesponsiveness“ nach wiederholter Impfung mit dem Polysaccharidimpfstoff ein allenfalls temporäres und in Bezug auf die klinische Relevanz wahrscheinlich unbedeutendes Phänomen ist. Im Vergleich zur Erstimpfung wurden nur in den ersten sechs Monaten nach der Wiederholungsimpfung niedrigere Antikörperspiegel gemessen, während zu späteren Zeitpunkten kein Unterschied mehr nachweisbar war (siehe Hintergrundpapier zur Pneumokokken-Impfung).

Die evidenzbasierte Aufarbeitung zur Pneumokokken-Impfung von Senioren verdeutlicht auch, dass bei komplexen Fragestellungen (z. B. ob einer der verfügbaren Impfstoffe bevorzugt anzuwenden ist, beide sequenziell appliziert werden sollten oder ob Auffrischimpfungen sinnvoll sind) mathematische Transmissionsmodellierungen unerlässlich sind, um den Nutzen einer Impfung für die öffentliche Gesundheit abzuschätzen. Das ist insbesondere wichtig, wenn Herdeneffekte (im Fall der Pneumokokken-Impfung für Erwachsene vor allem der Einfluss der Pneumokokken-Standardimpfung von Säuglingen) erwartet werden. Basierend auf einem dynamischen Transmissionsmodell konnte abgeschätzt werden, dass bei einer einmaligen Impfung von Personen, die in den Jahren 2016–2020 60 Jahre alt werden, mit PPSV23 über die verbleibenden Lebensjahre 2253 Pneumokokken-assoziierte Hospitalisierungen und 270 Todesfälle, mit dem PCV13 hingegen nur 725 Hospitalisierungen und 101 Todesfälle verhindert werden könnten. Durch eine zusätzliche Kosten-Effektivitäts-Analyse konnte gezeigt werden, dass die einmalige PPSV23-Impfung nicht nur deutlich mehr Fälle verhindert, sondern dieses auch geringe Kosten verursacht (€ 14.383 vs. € 112.606 pro gewonnenem qualitätsadjustiertem Lebensjahr). Selbst unter der recht unwahrscheinlichen Annahme einer fehlenden Wirksamkeit der PPSV23-Impfung in Bezug auf die Verhinderung einer Pneumokokken-Pneumonie können entsprechend dem Modell immer noch mehr Todesfälle durch die einmalige PPSV23-Impfung verhindert werden als durch PCV13, da die Impfung nicht nur einen Schutz vor Pneumonien, sondern auch vor invasiven Pneumokokken-Infektionen bietet. Eine kürzlich aktualisierte S3-Leitlinie hingegen empfiehlt ausschließlich die PCV13-Impfung von Senioren. Dies könnte dadurch erklärt werden, dass hier die verfügbare Evidenz zur Wirksamkeit der PPSV23-Impfung nicht umfassend ausgewertet worden ist und dass keine Ergebnisse aus dynamischen Transmissionsmodellierungen vorlagen [2]. Ergänzend sei erwähnt, dass sich die S3-Leitlinie ausschließlich auf die Behandlung und Prävention von Pneumonien bezieht, wohingegen die Analyse der STIKO zusätzlich auch invasive Pneumokokken-Infektionen als Endpunkt berücksichtigt.

Die Analyse der STIKO zur Pneumokokken-Impfung der Senioren zeigt darüber hinaus, dass eine Strategie mit PPSV23-Auffrischimpfungen alle sechs Jahre bei einer angenommenen Impfquote von 30 % mehr als zehnmal so viele Fälle verhindert wie die einmalige PPSV23-Impfung, nämlich geschätzte 22.169 verhinderte Hospitalisierungen sowie 4272 verhinderte Todesfälle gegenüber den bereits oben erwähnten 2253 verhinderten Hospitalisierungen und 270 Todesfällen. Da laut aktueller Fachinformation die wiederholte PPSV23-Impfung nur „bei Personen mit erhöhtem Risiko für schwere Pneumokokken-Erkrankungen“ indiziert und zulassungskonform ist, sieht die STIKO von der aus medizinisch-epidemiologischer Sicht sinnvollen Strategie der routinemäßigen Auffrischimpfungen derzeit ab und beschränkt diese auf Erwachsene mit Grundkrankheiten. Dieses Beispiel illustriert die Notwendigkeit, dass neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeitnah auch in der Zulassung von Impfstoffen berücksichtigt werden und sich in den Fachinformationen widerspiegeln müssen.

Im Vergleich zu vielen anderen Impfungen weist die Impfung gegen Influenza und gegen Pneumokokken im Erwachsenenalter eine eher moderate Wirksamkeit auf. Das mag in der Bevölkerung und in der impfenden Ärzteschaft fälschlich den Eindruck vermitteln, dass eine Impfung gegen Pneumokokken oder Influenza keinen Nutzen hat. Man muss jedoch berücksichtigen, dass in Ermangelung anderer effektiver Präventionsmaßnahmen ein Schutz von 40–60 % gegenüber einer potenziell tödlich verlaufenden und häufigen Erkrankung besser ist als kein Schutz. Der modellierte Effekt der PPSV23-Impfung in Bezug auf die verhinderbaren Todesfälle illustriert deutlich den enormen bevölkerungsbezogenen Nutzen dieser Intervention.

Bezüglich der Umsetzung besteht für beide Impfungen aktuell noch großer Nachholbedarf hinsichtlich Wissen und Perzeption in der Bevölkerung und teils fehlender aktiver Ansprache durch den betreuenden Arzt. In einer Querschnittstudie unter 1223 Senioren in Deutschland waren in den letzten fünf Jahren 51 % gegen Influenza und gerade einmal 11,5 % gegen Pneumokokken geimpft worden [3]. In Bezug auf die Influenzaimpfung war bei 73 % und in Bezug auf die Pneumokokken-Impfung bei weniger als 30 % der Befragten die jeweilige Impfempfehlung überhaupt bekannt. Der geringe Bekanntheitsgrad der Pneumokokken-Impfempfehlung trug zu der niedrigen Impfquote bei. In einer Studie unter chronisch Kranken und Senioren waren insbesondere eine als gering wahrgenommene Schwere der Erkrankung und eine als gering wahrgenommene Impfeffektivität Faktoren, die mit einer fehlenden Influenza-Impfung assoziiert waren [4]. Bei Senioren war zusätzlich die aktive Ansprache durch den betreuenden Arzt von hoher Bedeutung (Impfquote mit vs. ohne aktive Ansprache durch den Arzt: 63 % vs. 37 %). Wir hoffen, dass die Inhalte aus den STIKO-Hintergrundpapieren dazu beitragen, der impfenden Ärzteschaft den Stellenwert der beiden Impfungen nochmals zu verdeutlichen und genügend Argumente an die Hand geben, mit denen die Patienten zur Impfung motiviert und die Impfquoten in der Bevölkerung gesteigert werden können.

Ihre

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Ole Wichmann

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Lars Schaade